Dispensierrecht: Schweizer Ärzte als Apotheker

Erleichtert das ärztliche Dispensierrecht wirklich den Patienten das Leben? Die Ärztekammer Niederösterreich lud zum Lokalaugenschein nach Zürich.

Zur Ordination von Dr. Josef Widler gelangt man bequem mit der Straßenbahn. In Sichtweite der Haltestelle liegen nicht weniger als drei Apotheken. Und trotzdem können die Patienten ihre Medikamente, wenn sie das wollen, direkt von dem Allgemeinmediziner beziehen. Denn seine Praxis befindet sich in Zürich – und im Kanton Zürich ist jeder Arzt zur „Selbstdispensation“ berechtigt, wie die Abgabe von Medikamenten durch den niedergelassenen Arzt in der Schweiz benannt wird. Mit anderen Worten: Der Allgemeinmediziner mit Ordination mitten in einem Ballungszentrum verfügt über eine Hausapotheke. „Die Patienten wissen diesen Service sehr zu schätzen“, betont Widler.

Selbstdispensation ist die Regel

„Die Abgabe von Medikamenten gehört zum ärztlichen Instrumentarium wie das Stethoskop“, bekräftigt Dr. Urs Stoffel, Präsident der AerzteGesellschaft des Kantons Zürich, also gewissermaßen der dortige Ärztekammerpräsident. In 17 von 19 deutschsprachigen Kantonen der Schweiz ist die ärztliche Medikamentenabgabe seit jeher tief verankert. In 14 Kantonen dürfen alle Ärzte mit eigener Praxis und entsprechender kantonaler Bewilligung in Notfällen und im Alltag uneingeschränkt Medikamente an ihre Patienten abgeben. In drei Kantonen haben nicht alle, aber viele praktizierende Ärzte dieses Recht.
Im ländlichen Bereich steht die ärztliche Medikamentenabgabe außer Diskussion. „In einem bergigen Land wie der Schweiz ist die Sicherstellung der Versorgung ohne Selbstdispensation unmöglich“, erklärt Stoffel. Aber wegen finanzieller Engpässe der Apotheken durften die Ärzte seit den 1950er-Jahren in der Stadt Zürich keine Medikamente mehr abgeben.

Volksabstimmungen

In insgesamt drei Volksabstimmungen hat sich die Bevölkerung jedoch vom Jahr 2001 an für die Wiedereinführung von Hausapotheken ausgesprochen: Bei zwei Referenden wurden die jeweils gültigen Gesetze ausgehebelt, mit einer sogenannten Gesetzesinitiative stand schließlich ein von Ärzten ausgearbeiteter Gesetzesentwurf zur Abstimmung – und wurde angenommen. Seit Mai 2012 dürfen Ärzte nun auch in Zürich wieder Medikamente abgeben.
Die Kampagne, bei der Widler federführend war, stand unter dem Motto: „Wahlfreiheit beim Medikamentenbezug“. Die Patienten nehmen diese Freiheit auch wahr: „Ungefähr 80 Prozent meiner Patienten bekommen ihre Medikamente von mir“, sagt Widler. Wahlfreiheit haben auch die Ärzte: Während am Land ausnahmslos jeder Arzt eine Hausapotheke hat, sind es in Zürich nur rund ein Drittel. Der Grund: Viele Fachärzte verzichten auf eine Hausapotheke, weil für die wenigen fachspezifischen Medikamente der Aufwand (Vorfinanzierung, Lagerhaltung und Bestelllogistik) zu groß ist. Aber es gibt auch Gynäkologen, die die Antibabypille, oder Psychiater, die Psychopharmaka an ihre Patienten abgeben.

Kein Apothekensterben

„Die Apotheken haben die Selbstdispensation bis aufs Blut bekämpft“, erzählt Stoffel: „Aber das beschworene Schreckgespenst ,Apothekensterben‘ ist nicht eingetreten. Im Gegenteil: In der Stadt Zürich, wo die Apothekendichte ohnehin extrem hoch ist, haben seither zwei Apotheken neu aufgemacht.“
Die Vorteile der ärztlichen Medikamentenabgabe liegen laut dem Präsidenten der Standesvertretung auf der Hand: Die persönliche Abgabe an den Patienten bewirkt einen Placebo-Effekt und eine höhere Compliance, der Arzt hat eine stete Kontrolle darüber, ob der Patient die Medikamente auch wirklich einnimmt, er weiß, welche Medikamente der Patient zusätzlich einnimmt. Und: Sowohl Arzt als auch Patient erfahren auf diese Weise, welche Kosten Medikamente tatsächlich verursachen.

Kostensparend

Die Konsequenz bringt Stoffel auf den Punkt: „Die ärztliche Medikamentenabgabe ist nicht nur der patientenfreundlichste Abgabekanal, sondern auch der mit Abstand kostengünstigste. In Kantonen mit ärztlicher Medikamentenabgabe liegen die Medikamentenkosten pro Kopf deutlich tiefer als in Kantonen mit Rezeptur.“ Die entsprechenden Zahlen stammen nicht von den Ärzten, sondern von der santésuisse, also dem Schweizer Pendant zum Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger. Eine brandaktuelle Studie des Bundesamtes für Gesundheit – so etwas wie das Schweizer Gesundheitsministerium –, die Ende dieses Monats veröffentlicht wird, bestätigt, dass die ärztliche Medikamentenabgabe sich günstig auf die Medikamentenausgaben auswirkt.
„Dieses Phänomen ist auch in Österreich bekannt. Bei Ärzten mit Hausapotheke liegen die Medikamentenkosten pro Patient um rund 15 Prozent niedriger als bei Ärzten ohne Hausapotheke“, bekräftigt Dr. Max Wudy, stellvertretender Obmann der Kurie Niedergelassene Ärzte und Leiter des Referats für Hausapotheken und Medikamentenwesen der Ärztekammer für Niederösterreich. Und Dr. Christoph Reisner, Präsident der Ärztekammer für Niederösterreich, legt nach: „Eigentlich müsste der Hauptverband, wenn er alle Fakten in Betracht zieht, ein Bezugsrecht für Medikamente bei Ärzten unterstützen.“

Modell für Österreich

Die Bundeskurie Niedergelassene Ärzte der Österreichischen Ärztekammer hat in ihrer jüngsten Sitzung ein Konzept zur Medikamentenabgabe direkt durch niedergelassene Kassen- und Wahlärzte verabschiedet („Dispensierrecht“). Demnach soll die Serviceleistung der Medikamenten-Sofortversorgung allen österreichischen Ärzten auf freiwilliger Basis offenstehen – nicht als Ersatz, sondern als Ergänzung zur Institution der Hausapotheke.
Das Dispensierrecht soll nicht alle verfügbaren Arzneimittel, sondern eine jeweils fachspezifisch definierte Auswahl von besonders wichtigen Arzneimittelgruppen umfassen. Im Gegensatz zur bestehenden ärztlichen Hausapotheke soll die Medikamenten-Sofortversorgung durch Ärzte margenunabhängig als Serviceleistung honoriert werden. Dafür könnte die Sozialversicherung die ausgehändigten Medikamente direkt mit dem Großhandel abrechnen.

„Best Point of Service“

„Die Medikamenten-Sofortversorgung durch Ärzte ist eine Verwirklichung des Konzepts ,Best Point of Service‘, das in der Gesundheitsreform so oft genannt wird“, unterstreicht Reisner. Diese erhöhe nicht nur den Patientenkomfort, sondern unterstütze auch durch die Stärkung der Arzt-Patienten-Beziehung die Therapietreue.
Reisner: „Nur durch eine Wahlmöglichkeit des Medikamentenbezugs ist sichergestellt, dass jeder seinen Best Point of Service findet. Das ist für einen Patienten beim Arzt, für den anderen in der öffentlichen Apotheke. Wir sollten uns endlich von Bedarfsprüfungen und sinnlosen Reglementierungen über Bevölkerungsschlüssel und Kilometer verabschieden und stattdessen Gesetze machen, die bürgerfreundlich, bedarfsorientiert und ökonomisch in einem sind.“