Kindermedizin: Rund jede zehnte Kassenstelle ist unbesetzt
In Österreich drohe Kindern eine Mangelversorgung, warnt die Österreichische Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde (ÖGKJ) anlässlich ihrer Jahrestagung. Bundesweit gibt es 25 unbesetzte Kassenstellen, allerdings auch 407 Wahlärztinnen und Wahlärzte. Was die ÖGKJ empfiehlt – für die Ausbildung, in Schulen und auch in puncto Covid-Impfung.
In Österreich zeichnet sich ein regionaler Kinderärztemangel ab. Das gab Univ.-Prof. Dr. Daniela Karall, Präsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde (ÖGKJ) und Stv. Direktorin des Departments für Kinder- und Jugendheilkunde Innsbruck, Pädiatrie I, anlässlich der 61. ÖGKJ-Jahrestagung bekannt.
Eine interne Erhebung im ersten Halbjahr 2023 durch direkte Befragung der 45 Leiter und Leiterinnen pädiatrischer Abteilungen sowie der 9 Landesfachgruppenobleute in Form eines strukturierten Fragebogens brachte folgende Ergebnisse: Im stationären Bereich sind in Österreich 44 (ca. 6%) fachärztliche Stellen und 46 (10%) assistenzärztliche Stellen unbesetzt.
3,5-mal so viele Wahlarztpraxen wie Kassenstellen in NÖ
Im niedergelassenen Bereich gibt es 25 (9%) unbesetzte Kassenstellen in Österreich. Davon weist Niederösterreich mit 23% die meisten unbesetzten Stellen auf. Für Wien fehlt eine genaue Richtzahl der derzeitigen Kassenstellen, da einige bereits in Ambulatorien umgewandelt wurden. Dadurch lassen sich auch nicht die unbesetzten Kassenstellen abschließend errechnen.
Ein Blick in die in der Monatsschrift Kinderheilkunde 10/2023 publizierte Erhebung zeigt allerdings, dass es in 6 Bundesländern mehr Wahlärztinnen und Wahlärzte als besetzte Kassenstellen gibt. In Niederösterreich ist das Verhältnis mit Abstand am größten: 104 (!) Wahlarztordinationen vs. 30 besetzte und 9 unbesetzte Kassenstellen. Das sind 3,5-mal mehr Wahlärztinnen und -ärzte als Kassenärztinnen und -ärzte. In ganz Österreich gibt es derzeit 254 besetzte Kassenarztstellen und 407 Wahlarztordinationen, was einem Faktor von 1,6 entspricht.
In Wien sind es mit 150 vs. 70 rund doppelt so viele Wahlarzt- wie Kassenstellen (mit vorhin genannter Einschränkung hinsichtlich der Ambulatorien). In 4 weiteren Bundesländern gibt es ebenfalls mehr Wahlärztinnen und Wahlärzte als besetzte bzw. unbesetzte Kassenstellen: OÖ (45/40/8), Steiermark (35/32/4), Kärnten (25/17) und Salzburg (19/17/2). Nur in Tirol (13/21/2), Vorarlberg (10/19) und im Burgenland (6/8) ordinieren mehr Kassenärztinnen -und -ärzte als Wahlärztinnen und -ärzte.
Pensionierungswelle steht bevor
Dazu kommt noch eine weitere Herausforderung: Karall zufolge gehen insgesamt 169 aktuell tätige Pädiaterinnen und Pädiater in den nächsten Jahren in Pension. Das entspricht fast einem Fünftel (18%). Von diesen 169 arbeiten 120 in Krankenhäusern und 49 (knapp 30%) im niedergelassenen Bereich. „Unsere Erhebung legt nahe, dass es – geografisch unterschiedlich – zusätzliche Maßnahmen braucht“, betont die ÖGKJ-Präsidentin.
Einerseits, um die existierenden Stellen für Assistenz- und Fachärzte und -ärztinnen vollständig zu besetzen, andererseits, um den Bedarf an pädiatrischer Versorgung in allen Ebenen (primär, sekundär, tertiär) nachhaltig zu gewährleisten. Dies gelte insbesondere auch vor der anstehenden Pensionierungswelle.
Rotation in der Ausbildung
„Perspektivisch benötigen wir nun rasch eine Erhöhung von Ausbildungsstellen an Zentren mit Ausbildungskapazitäten“, unterstreicht Karall. Die Auszubildenden könnte man über eine Rotation in andere Versorgungsebenen wie Krankenhaus oder Lehrpraxis motivieren, sich dorthin als Fachärzte und -ärztinnen zu orientieren.
Da die pädiatrische Ausbildung zumindest 6 Jahre dauere, „braucht es entsprechend politischen Weitblick und den Willen, nun in die und für die Zukunft der pädiatrischen Versorgungslandschaft zu investieren“, resümiert Karall. Es bedürfe „konstruktiver gemeinsamer Initiativen“, um eine langfristige und flächendeckende pädiatrische Versorgung zu gewährleisten.
Gründe für Investitionen in die Prävention
Eine zentrale Rolle komme dabei auch der Prävention zu. Diese sei „wichtiger denn je, da sie einen entscheidenden Einfluss auf die langfristige Gesundheit und das Wohlbefinden von Kindern hat“, betont PD Dr. Dipl. oec. troph. Sabine Scholl-Bürgi, Erste Sekretärin der ÖGKJ, Geschäftsführende Oberärztin des Departments für Kinder- und Jugendheilkunde Innsbruck, Pädiatrie I.
Scholl-Bürgi nennt folgende Gründe, warum Prävention und Vorsorge in der Pädiatrie so bedeutend sind:
- Probleme früh erkennen und behandeln: Regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen inklusive Impfungen im Rahmen des Eltern-Kind-Passes sind entscheidende Instrumente, um Krankheiten und Entwicklungsstörungen in einem leichter behandelbaren Stadium zu erkennen. Dazu zählen v.a. Übergewicht und Adipositas, Bewegungsmangel, psychosoziale Beeinträchtigung und übermäßiger Medienkonsum.
- Gesunden Lebensstil fördern: Die Pädiatrie bietet die Möglichkeit, Eltern und Kinder über die Bedeutung von ausgewogener Ernährung, körperlicher Aktivität und Schlaf aufzuklären. Frühzeitige Gewohnheiten prägen das spätere Verhalten und können das Risiko für Krankheiten wie Diabetes mellitus, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Übergewicht verringern.
- Psychische Gesundheitsprobleme identifizieren: Die psychische Gesundheit ist bei Kindern und Jugendlichen genauso wichtig wie die physische Gesundheit. Die Pädiatrie kann dazu beitragen, psychische Gesundheitsprobleme wie Angststörungen und Depressionen frühzeitig zu erkennen und geeignete Unterstützung bereitzustellen. Dazu zählen auch Empfehlungen zum adäquaten Umgang mit elektronischen Medien.
- Gesundheit in der gesamten Familie fördern: Die pädiatrische Versorgung umfasst auch Beratung und Unterstützung der Eltern bei Fragen zur Kindererziehung, Ernährung und anderen gesundheitsbezogenen Anliegen, um ein gesundes Umfeld zu schaffen.
Lernen und bewegen in Schulen ohne viel Aufwand
Auf eine weitere Säule der Prävention, die tägliche Bewegung in Schulen, machen Tagungspräsident und ÖGKJ-Generalsekretär Univ.-Prof. Dr. Reinhold Kerbl, Vorstand der Abteilung für Kinder und Jugendliche am LKH Hochsteiermark/Leoben sowie Sportwissenschaftler und Sportpädagoge Ing. MMag. Dr. Gerald Jarnig aufmerksam.
Übergewicht und Adipositas hätten (auch) in Österreich „besorgniserregende Ausmaße“ angenommen – mehr als ein Fünftel sind im Schulalter davon betroffen. Die neuerdings sehr populär gewordene medikamentöse Therapie sei im Kindes- und Jugendalter keinesfalls das zu empfehlende „Allheilmittel“. Sinnvoller wäre ein regelmäßiges und objektivierbares Präventionsangebot an Orten wie Schulen, Stichwort „tägliche Bewegungseinheit“.
Zweistufiges Programm mit 160 „Stundenbildern“
Deshalb haben Kinder- und Jugendärztinnen und -ärzte gemeinsam mit Sportpädagoginnen und -pädagogen ein zweistufiges Programm* erarbeitet, das
- die körperliche Fitness bzw. das Gesundheitspotenzial von Schülerinnen und Schülern evaluiert und
- Maßnahmen zur Verbesserung setzt und deren Auswirkungen langzeitbeobachtet.
Dabei sollen sowohl Evaluierung als auch Intervention „niederschwellig“ erfolgen und in jeder Schule/Klasse ohne zusätzliche Ressourcen umsetzbar sein.
Zu diesem Zweck entwickelten die Fachleute mit „AUTFIT“ ein auf einfachen sportmotorischen Tests basierendes „Testsystem“. Weiters erstellten sie mehr als 160 „Stundenbilder“, welche klassische Lerninhalte mit Bewegung verknüpfen. Unter dem Titel „Lernen und bewegen an jedem Schultag“ steht auf YouTube ein neunminütiges Video zur Verfügung. Ein Beispiel: Nach einer Rechnung wechseln die Kinder auf einem Bein hüpfend oder das Heft in einer Hand balancierend den Sitzplatz.
Abschließend präsentierte die ÖGKJ ihre aktualisierte Stellungnahme zur Covid-Impfung für Kinder (siehe Kasten). Die Entscheidung der Familien für oder gegen eine Impfung sei „vorbehaltslos“ zu respektieren, wird betont, „allfällige negative Konsequenzen für Nichtgeimpfte, wie z.B. Sportverbot, sind unangebracht“.
ÖGKJ-Stellungnahme: Covid-Impfung für Herbst/Winter
Die aktualisierte Stellungnahme stammt von Reinhold Kerbl, Hans Jürgen Dornbusch, Volker Strenger, Daniela Kohlfürst, Daniela Karall (im Namen von Präsidium, Impfreferat und AG Infektiologie der ÖGKJ), hier ein Auszug:
Das Österreichische Nationale Impfgremium (NIG) empfiehlt mit hoher Priorität die Impfung mit dem adaptierten COVID-Impfstoff (XBB.1.5) für Personen mit Risikofaktoren (u.a. Erkrankungen der Lunge, des Herzens oder des Immunsystems) unabhängig vom Alter. Darüber hinaus empfiehlt das NIG mit geringerer Priorisierung die Impfung für ab 12-Jährige ohne Risikofaktoren. Grundsätzlich könne jedoch jedes Kind „auf elterlichen Wunsch“ ab dem Alter von 6 Monaten geimpft werden.
Die ÖGKJ schließt sich diesen Empfehlungen unter der Bedingung an, dass der Impfung eine individuelle ärztliche Beratung vorangeht. Diese sollte auf den individuellen Nutzen, aber auch potenzielle Nebenwirkungen der Impfung anführen.
SARS-CoV-2-Infektionen bedingen im Kindes- und Jugendalter überwiegend leichte Krankheitsverläufe, vielfach auch symptomlose. In Einzelfällen kommt es jedoch auch in Nichtrisikogruppen zu schweren Krankheitsverläufen. Diese sind durch Impfung weitgehend verhinderbar. Der Impfstoff ist gut verträglich, schwere Nebenwirkungen selten. Die Effektivität ist mit der Impfung gegen Influenza etwa gleichzusetzen.
Die ÖGKJ wird Krankheitsverläufe mit oder ohne Impfung, aber auch allfällige Impfnebenwirkungen und -komplikationen konsequent verfolgen und ihre Impfempfehlung jeweils entsprechend anpassen.
Weiters hat die ÖGKJ die aktuellen Empfehlungen verschiedener ausgewählter Institutionen zusammengestellt. Demnach empfehlen CDC (Center of Disease Control) und AAP (American Academy of Pediatrics) die Impfung generell ab 6 Monaten. Die WHO spricht kein klares Alterslimit aus. Die deutsche STIKO (Ständige Impfkommission) empfiehlt die Herstellung einer Basisimmunität ab 18 Jahren. Für Risikogruppen empfehlen alle genannten Institutionen die Impfung ab 6 Monaten.
Die ungekürzte Stellungnahme finden Sie hier.