7. Juli 2021Rezepte gegen Ärztemangel

ÖÄK-Präsident: „Die Y-Generation will nicht mehr 15 Nachtdienste machen“

Vier von zehn fertigen Medizinstudiosi zieht es in die Ferne. Da der Nachwuchsbedarf etwa der Anzahl der Studienplätze entspricht, kann sich das nicht ausgehen. Noch dazu verabschiedet sich bis 2030 ein Fünftel aller Ärzte in die Pension, manche mit Fersengeld. Kurz – es ist Feuer am Dach, wie die Österreichische Ärztekammer (ÖÄK) neulich warnte. Doch wer ist die Feuerwehr und nach welchem Plan kann Zerstörtes wieder aufgebaut werden? So wie sich das die jungen, aber auch älteren Ärzte vorstellen, betont ÖÄK-Präsident a.o. Univ.-Prof. Dr. Thomas Szekeres im Interview.

Rückansicht des männlichen Arztes, der den Flur der Krankenstation hinuntereilt, um zum Patienten zu gelangen
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medonline: Herr Präsident Szekeres, in Österreich gibt es laut Ärztestatistik* rund 47.700 Ärzte, umgerechnet auf Vollzeitäquivalente (VZÄ) sind es mit rund 40.400 deutlich weniger. Jetzt hört man seit Jahren, Österreich habe eine hohe Ärztedichte im europäischen Vergleich. Warum ist das so schwer zu vergleichen und wo stehen wir wirklich?

Thomas Szekeres: Die Zahl wird nach Köpfen gerechnet. Allerdings haben wir immer mehr teilzeitbeschäftigte Ärztinnen und Ärzte, aber hauptsächlich Ärztinnen, die den Beruf und die Familie miteinander verbinden möchten und dadurch nicht 50, 60 Stunden die Woche arbeiten können. Beim Vergleich mit anderen europäischen Ländern ist es deshalb schwierig, weil unterschiedlich gerechnet wird. Wenn wir ähnlich rechnen wie die anderen, also korrigiert auf VZÄ, dann liegen wir im Mittelfeld und nicht an der Spitze.

Welche Länder liegen sonst noch im Mittelfeld?

Szekeres: Länder mit mehr Ärzten und größerer Versorgung sind sicherlich Deutschland, die Schweiz und Österreich. Aber es gibt in Osteuropa Länder, die viel weniger Ärzte haben. Was wir gemeinsam haben, ist jedenfalls der Bedarf und es gibt auch die Konkurrenz. Ob die Ärzte bei uns bleiben, wenn sie mit dem Studium fertig sind oder nach Deutschland, in die Schweiz, England oder Skandinavien auswandern, hängt von den Arbeits- und Ausbildungsbedingungen ab. Das heißt, es ist notwendig, sie qualitativ hochzuhalten und auch zu verbessern, mehr Personal einzustellen, damit man den Jungen auch etwas zeigen kann, auch weil wir vor einer massiven Pensionierungswelle stehen. Die Generation 55–65 wird immer größer, in zehn Jahren sind diese Ärzte im Ruhestand. Deshalb muss man jetzt schon beginnen, die Ärzte von morgen entsprechend anzuheuern und auszubilden.

Der Anteil der über 55-Jährigen ist in den letzten 20 Jahren von einem Sechstel (17 Prozent) auf ein Drittel (32,2 Prozent) gestiegen. Sie haben einen jährlichen Nachwuchsbedarf von 1.536 Ärzten (ohne VZÄ) errechnet. Ausgebildet werden aber in den öffentlichen Studienplätzen nur 1.596. „Nur“ deshalb, weil laut ÖÄK 40 Prozent der Studienabgänger ins Ausland gehen, stimmt das nach wie vor?

Szekeres: Ja, Studienplätze gibt es ungefähr so viele wie Nachwuchsbedarf, aber von zehn Studierenden bleiben nur sechs in Österreich. Das heißt, die Hoffnung ist, dass wir einen Zuzug haben, und auch dazu ist es notwendig, dass wir mit Deutschland und der Schweiz konkurrenzfähig sind, weil die ausländischen Ärzte es sich aussuchen können, wo sie hingehen. Dass 40 Prozent der Absolventen abwandern oder den Beruf verlassen, wissen wir deshalb, weil wir sie nicht in der Ärzteliste finden. Die Zahl ist ziemlich konstant. In der Mehrzahl sind es Deutsche, die theoretisch hier bleiben könnten und die offensichtlich großteils nach dem Studium nach Deutschland zurückgehen, aber es sind auch zahlreiche Österreicher dabei, die es ins Ausland zieht.

Wenn vier von zehn seit Jahren weggehen, ist da nicht jetzt schon Feuer am Dach, wie Sie Ende Juni in einer Pressekonferenz den dringenden Handlungsbedarf begründet haben, um auch „in Zukunft“ die Versorgung sicherzustellen?

Szekeres: Ja, wobei in den letzten Jahren sehen wir verstärkt auch einen Zuzug, aber natürlich würden wir alle Absolventen brauchen, um die Pensionierungen der Zukunft besetzen zu können.

Noch zur Statistik: Derzeit gibt es rund 8.000 Turnusärzte, 13.000 Allgemeinmediziner und 26.000 Fachärzte. Wie hat sich dieses Verhältnis im Laufe der Zeit geändert und wie viele von den niedergelassenen Ärzten haben einen Kassenvertrag?

Szekeres: Kassenärzte gibt es ungefähr 7.000 und sie werden tendenziell weniger, was bei einer wachsenden Bevölkerung bedeutet, dass der niederschwellige Zugang zum Kassenarzt immer schwieriger wird. Deshalb gibt es Gegenden, wo die Wahlärzte dominieren, sowie Fächer, in denen Wahlärzte dominieren. Wir würden uns mehr Kassenärzte wünschen. Die langjährige Forderung geht in Richtung 1.300 mehr Stellen, davon 300 in Wien und 1.000 im Rest von Österreich. Und zwar deshalb, weil wir uns wünschen, dass der Zugang zur Medizin für die Menschen niederschwellig und nicht abhängig von einer Zusatzversicherung oder von der Möglichkeit privat zu zahlen ist.

Ebenso geht die Zahl der Allgemeinmediziner zurück. Teilweise sind die Stellen schwer besetzbar - das bezieht sich jetzt auf ländliche Gegenden -  aber auch in Wien gibt es einige Stellen, die wir kaum besetzen können. Hier könnten wir uns natürlich eine Attraktivierung der Honorare vorstellen. Betroffen sind hauptsächlich drei Fächer: Allgemeinmedizin, Kinderheilkunde und Gynäkologie, bei denen immer wieder viele Kassenstellen ausgeschrieben werden, die jedoch nicht besetzt werden können, weil sich niemand bewirbt.

Auf der anderen Seite gibt es Gegenden mit einem Mangel an Kassenstellen, z.B. Liezen, der flächenmäßig größte Bezirk Österreichs mit 80.000 Einwohnern und elf niedergelassenen Frauenärzten, davon aber nur vier Kassenärzte (Update am 08.07.2021: zwei in bzw. in der Nähe der Bezirkshauptstadt Liezen, die auch den angrenzenden Süden des oö. Bezirks Kirchdorf/Krems mit sieben Frauenärzten, davon nur ein Kassenarzt, mitversorgt). Trotz Bedarf werden keine weiteren Kassenstellen bewilligt. Viele Frauen müssen zu Wahlärzten oder in die Spitalsambulanzen.

Szekeres: Deswegen unsere Forderung nach 1.300 zusätzlichen Stellen, um solche Defizite auszugleichen.

Ja, aber die Forderung ist eine langjährige, warum macht das die Kasse nicht, wenn zum Teil der Bedarf und sogar Ärzte da wären?

Szekeres: Aus finanziellen Überlegungen.

Sie meinen, weniger Kassenstellen bedeuten weniger Zahlungen für die Versicherten?

Szekeres: Genau. Ich gehe davon aus. Die Krankenkasse ist natürlich auch durch die Pandemie finanziell in Schwierigkeiten – das ist aktuell noch nicht so schlagend, weil sehr viele Beiträge gestundet sind. Aber ich fürchte, dass sie nicht alles bekommen werden. Und das ist unser Appell an die Bundesregierung: Dass sie der Krankenkasse die Verluste ersetzt, um eben zusätzliche Kassenstellen zu finanzieren. Die Kasse finanziert auch die Spitäler zu zirka einem Drittel, und wenn ich mir vorstelle, dass wir weniger Niedergelassene und weniger Leistungen in den Spitälern haben – mitten in der Pandemie –, dann wäre das ein Schildbürgerstreich.

Apropos COVID-19-Pandemie: In einigen Aussendungen der Ärztekammer, aber auch in Ihrem Blog haben Sie angesichts der Delta-Variante mehrmals davor gewarnt, zu früh zu öffnen und die Maskenpflicht abzuschaffen – die Regierung mit Gesundheitsminister Dr. Wolfgang Mückstein hat anders entschieden. Hört denn der Gesundheitsminister nicht auf die Ärzte?

Szekeres: Naja, der Gesundheitsminister hört da schon auch auf seine Experten. Im Moment haben wir niedrige Zahlen, das heißt, die Öffnungen sind nachvollziehbar. Allerdings muss man vorsichtig sein, weil diese infektiösere Variante hat in England und Portugal und Russland zu einem deutlichen Anstieg der Fälle geführt. Und ich fürchte, da die Grenzen nicht so dicht sind, dass diese Variante auch bei uns ansteigen könnte und vermutlich auch ansteigen wird. Da muss man einen Schritt zurück machen. Was uns helfen könnte, ist eine gute Durchimpfung, und deshalb mein Appell an alle Menschen, sich möglichst bald sich impfen zu lassen.

Bis jetzt wurden rund 9,1 Millionen Impfdosen geliefert, 8.239.846 Dosen verabreicht (Impfdashboard, Stand inklusive 06.07.2021), im Quartal 3 und 4 erwarten wir weitere 16 Millionen Impfdosen.

Szekeres: Wenn jeder, der bis jetzt ungeimpft ist, sich plötzlich impfen lassen will, dann haben wir zu wenig Impfstoff. Aber umgekehrt haben wir jetzt schon punktuell mehr Impfstoff als Impfwillige. Und da ist es auch an den behandelnden Ärzten, die ein Vertrauensverhältnis zum Patienten haben, dass sie die Patienten zum Impfen motivieren. Aufklären, erklären, dass es wenig Gefahren gibt. Es gibt auch leider sehr eigenartige Gerüchte, dass junge Frauen nach der Impfung keine Kinder mehr bekommen können, das ist natürlich ein aufgelegter Unsinn. Das gehört entsprechend entkräftet und entkräften können das nur die Fachleute.

Zurück zum Nachwuchs: Eine weitere Sorge ist die Ausbildung bzw. das Know-how, das verloren geht, weil sehr viele ältere Ärzte mit sehr viel Erfahrung in Pension gehen. Spitalsärzte-Bundeskurienobmann Dr. Harald Mayer hat in einem Interview schon im Oktober 2019 von einem Hilfeschrei aus dem Spital berichtet, vor allem wegen Zeitdruck und Arbeitsverdichtung. Was konkret könnte man da tun, außer mehr Personal anzuheuern?

Szekeres: In erster Linie brauchen wir sicherlich mehr Personal, damit man entsprechend auch ausbilden kann, weil das ja auch Zeit kostet. Und wenn die Ausbildner keine Zeit haben, weil sie so mit Routine beschäftigt sind aufgrund des Arbeitsdrucks, dann wird auch die junge Generation nicht adäquat ausgebildet sein und kann nicht in ihre Fußstapfen treten. Man sollte hier unbedingt auch berücksichtigen, dass wir jetzt schon ausbilden müssen, weil zu warten, bis wir in Schwierigkeiten sind, ist zu spät.

Auch die Entlastung von administrativen Tätigkeiten macht natürlich viel Sinn, weil sich das medizinische Personal auf das konzentrieren sollte, wofür es eingestellt ist, nämlich die Medizin – und nicht missbräuchlich als Sekretärinnen oder für Routinetätigkeiten, die auch andere Berufsgruppen leicht übernehmen können bzw. auch durchführen dürfen, damit mehr Zeit für die Medizin und mehr Zeit für den Unterricht bleiben.

Früher hätten die Ärzte mehr „erduldet“, wie Sie es treffend formuliert haben. Die jungen Ärzte haben zwei, drei Jahre auf einen Turnusplatz gewartet, später haben sie und auch ältere Ärzte unter Bedingungen gearbeitet, die heute kaum mehr jemand duldet. Jetzt ist es umgekehrt, der Arzt kann sich aussuchen, wohin er geht und wo er arbeitet. Was kann man tun, damit Ärzte gerne bei uns arbeiten?

Szekeres: Man sollte sich neue Modelle überlegen, z.B. für Ältere, weniger Nachtdienste machen zu müssen, weil das natürlich sehr belastet. Und die junge Generation ist nicht vergleichbar mit meiner Generation. Wir haben, wie Sie richtig sagen, jahrelang auf eine Stelle gewartet. Das machen die Jungen nicht, sie sind wesentlich flexibler, gehen ins Ausland und eigentlich werden überall Ärzte gesucht. Wir haben weltweit einen Ärztemangel und wir konkurrieren jetzt mit Ländern wie Schweiz, Deutschland, England, Skandinavien. Und wenn die Jungen nicht die Möglichkeiten vor sich sehen, gehen sie weg. Das war früher nicht so. Man hat sich mehr um eine Stelle bemüht im Bezirk oder in der Stadt, in der man aufgewachsen ist oder studiert hat.

Das heißt, es führt eigentlich kein Weg vorbei, zu schauen, was brauchen die Ärzte, was wollen sie, unter welchen Bedingungen arbeiten sie gerne?

Szekeres: Genau. Sie brauchen bessere Arbeitsbedingungen, dann bleiben sie hier. Man muss sich anschauen, wie das im Ausland ist, sowohl die Ausbildungsbedingungen als auch die Bezahlung als auch die Arbeitszeiten müssen passen. Die Y-Generation will nicht mehr 15 Nachtdienste im Monat machen.

Kommen wir nochmals zu den Kassenärzten, es geht jeder Zweite bis 2030 in Pension. Gerade bei den Kassenärzten gibt es welche, die sicher keinen Tag länger als bis zur Pension arbeiten, weil sie zum Teil schon so frustriert sind. Ein aktuelles Beispiel der Bürokratie: Für die Eingabe einer Impfung braucht man pro Patient 40 Klicks. Die Rede ist von völlig sinnlosen Kassenvorgaben, manche sprechen sogar von Schikanen. Ein wichtiges Thema sind auch die Deckelungen – warum gibt es diese noch und warum müssen Kassenärzte so viel unbezahlte Arbeit machen?

Szekeres: Ich weiß es nicht. Es macht natürlich wenig Sinn, hier Deckelungen und Schikanen gegenüber den Kassenärzten aufrechtzuerhalten – noch dazu, wo wir uns immer schwerer tun, Kassenärzte zu finden. Denn die Jungen bewerben sich zum Teil gar nicht und öffnen eine Wahlarztordination, wo sie unter wesentlich besseren Rahmenbedingungen möglicherweise weniger Geld verdienen, aber das ist ihnen nicht so wichtig. Und dann gibt es Schwierigkeiten in manchen Gegenden: Ich brauche einen Job für meinen Partner, ich brauche eine gute Schule für die Kinder.

Von Kassenseite kommt bei den Deckelungen oft das Argument, manche Ärzte würden dann womöglich überdurchschnittlich viele Leistungen anbieten. Ein Lösungsvorschlag wäre eine Pauschale pro Patient nach Durchschnitt des Scheinwerts, was halten Sie davon?

Szekeres: Na ja, man kann sich alles überlegen, aber nur gemeinschaftlich. Allerdings glaube ich, es ist wichtig, dass man adäquat und vergleichbar bezahlt wird – vergleichbar mit dem Ausland. Und Schikanen bzw. Administratives oder finanzielle Schwierigkeiten zu machen, bringt nichts, weil es wie gesagt zu wenig Bewerber gibt und sich die meisten das nicht mehr gefallen lassen.

Zudem spielt auch die Wertschätzung eine große Rolle. Wenn die Ärzte manches als Schikane empfinden, dann sind sie besonders frustriert. Die Honoraransätze muss man gemeinsam verhandeln. Das hängt sehr vom Facharzt und sehr von der Einzelleistung ab. Aber eine leistungsabhängige Honorierung ist natürlich zu begrüßen und eine kompetitive Honorierung und eine Angleichung von Fächern, die schlechter bezahlt werden, an Fächer, die besser bezahlt werden. Es kann nicht sein, dass ich in einem Fach das Doppelte wie in einem anderen Fach an Honorar bekomme. Da wäre es notwendig, die Fächer anzupassen.

Aber die Unterschiede sind ja nicht nur fächerspezifisch: In Wien bekommen manche Fächer mehr als in anderen Bundesländern.

Szekeres: Nicht unberechtigt, weil umgekehrt auch die Ausgaben unterschiedlich sind. In Wien zahlen Sie für eine Miete wesentlich mehr als in einer ländlichen Gegend. Die Unterschiede haben sich auch daraus ergeben, dass in den Bundesländern unterschiedliche Verhandlungen geführt wurden zwischen den Bundesländer-Ärztekammern und den Bundesländer-Krankenkassen.

Große Unterschiede gibt es auch bei der Ärztedichte in den Bundesländern. So zeigt die Ärztestatistik, dass es in Oberösterreich, Vorarlberg und dem Burgenland weniger als 4,5 Ärzte pro 1.000 Einwohner gibt, in anderen Bundesländern zwischen 5 und 6 und in Wien 6,8. Warum ist das so und wie kann das verbessert werden?

Szekeres: Das hat unterschiedliche Gründe. Sie müssen auch die Versorgung in den Spitalsambulanzen mit berücksichtigen. Da würde es sicherlich Sinn machen, dass man den ambulanten Bereich in den Spitälern und den niedergelassenen Bereich gemeinsam plant und finanziert. In Oberösterreich haben Sie z.B. mehr Krankenhausambulanzen als im Rest von Österreich, dafür weniger Kassenärzte. Das sind kommunizierende Gefäße, die nach unserer Meinung gemeinsam geplant und finanziert gehören. Man soll die Leistung dort erbringen, wo sie sinnvollerweise erbracht werden soll – wo sie medizinisch und wirtschaftlich am sinnvollsten ist.

Ein hitziges Thema ist derzeit auch die Ärztegesetznovelle. Können Sie kurz umreißen, worum es da geht, wieso spricht da die ÖÄK von einem „juristischen Formalfehler“?

Szekeres: Vor 20 Jahren hat man bei der Gesetzwerdung des Ärztegesetzes den Fehler gemacht, dass man die Bundesländer nicht um ihre Meinung gefragt hat. Damit hat das Verfassungsgericht den sogenannten übertragenen Wirkungsbereich – das sind die Leistungen, die das Ministerium der Kammer übertragen hat – als verfassungswidrig erkannt. Da geht es um die Austragung aus der Ärzteliste, um die Aberkennung von Ausbildungsstellen und der dritte übertragene Wirkungsbereich ist die Qualitätssicherung im niedergelassenen Bereich. Wir haben hier Gespräche geführt, wollten eigentlich einen Kompromiss, wo wir die Länder verstärkt einbinden. Allerdings haben sich die Länder verbündet und jetzt erreicht, dass ein Gesetz beschlossen wurde, wonach die Ärzteliste zwar bei der Ärztekammer bleibt, allerdings die Ausbildung mit An- und Aberkennung von Ausbildungsstellen an die Bundesländer geht und die Qualitätssicherung ab dem Jahr 2024 an den Bund gehen soll. Die Qualitätssicherung machen wir mithilfe einer Gesellschaft, die im Eigentum der Österreichischen Ärztekammer steht, allerdings nach Vorgaben von mehrheitlich Nicht-Ärzten: Vertreter der Patientenanwälte, des Bundes und der Bundesländer. Das heißt, wir verstehen eigentlich nicht, warum man ein gut funktionierendes System auflösen und neu gründen möchte, noch dazu mit Kosten für die Allgemeinheit, jetzt zahlen das die Kollegen. Auch die Ausbildungsstellen-Bewilligung und Aberkennung geht nach Qualitätskriterien, die vom Ministerium vorgegeben werden aufgrund von Expertenmeinungen der Fachgesellschaften. Was jetzt in Zukunft beabsichtigt ist, das wissen wir nicht. Wir fürchten, dass die Ausbildung dadurch leiden wird und dass noch mehr Junge beschließen, lieber im Ausland ihre Ausbildung zu machen.

Aber das Gesetz ist beschlossen, streben Sie eine Gesetzesänderung an?

Szekeres: Wir streben natürlich eine Änderung des Gesetzes an, das Mitte Juni beschlossen wurde, weil wir glauben, dass die Ausbildung natürlich in den Händen von Ärzten bleiben muss und nicht in die Hände von Bezirksbeamten gehen soll. Wer kann das besser beurteilen als Ärzte? Wir glauben auch nicht, dass das ein Vorteil für die Patientinnen und Patienten ist, weil jeder Anspruch auf einen bestgeausbildeten Arzt hat. Und ebenso ist es mit der Qualitätssicherung, die für unsere Berufsgruppe ein einzigartiges System darstellt, wo wir auf die Qualität im niedergelassenen Bereich, in den Ordinationen schauen – wie gesagt nach Vorgaben, die nicht wir erstellen.

Werden die Ausbildungsstellen nicht schon jetzt von den Ländern bewilligt?

Szekeres: Nein, sie beantragen sie, weil die Länder die Eigentümer der Spitäler sind, bewilligt werden sie von der Ärztekammer – nach Vorgaben des Gesundheitsministeriums. Wenn sie sich selber die Ausbildungsstellen bewilligen, das wollten sie unbedingt, dann befürchten wir, dass die Ausbildungsqualität darunter leidet. Mir ist es wichtig, dass man sich das Ganze noch einmal anschaut und überlegt. Ich glaube, es ist hier durchaus zu einem Schnellschuss gekommen und ich hoffe, dass man hier einiges rückgängig macht.

Ihre abschließende Lagebeurteilung zur Brandprävention, damit das Feuer nicht aufs ganze Haus übergreift, um im Bild zu bleiben?

Szekeres: Bei den Kassenstellen muss es uns gelingen, sie zu attraktivieren, weil es sonst zu Versorgungsengpässen und zu einem erschwerten Zugang zur Medizin kommt. Insgesamt ist es notwendig, das Gesundheitssystem entsprechend auch finanziell auszustatten. Wir geben in Österreich um ein bis zwei Prozent weniger vom BIP aus als Deutschland oder die Schweiz. Außerdem gibt es bei uns eine Koppelung an das Wirtschaftswachstum. Die Wirtschaft ist eingebrochen durch die Pandemie – das kann nicht dazu führen, dass sich die Spitäler und der niedergelassene Bereich in Zukunft unterfinanzieren. Deshalb müssen die Verluste ersetzt werden, um das Gesundheitssystem auf einem leistungsfähigen Niveau zu halten.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

*Ärztestatistik 2020 auf www.aerztekammer.at/daten-fakten

Zur Person

Foto von Oberarztpräsident Christian Leopold
ÖÄK_Christian Leopold

A.o. Univ.-Prof. Dr. Thomas Szekeres, Facharzt für klinische Chemie und Labordiagnostik, Oberarzt am Klinischen Institut für Medizinische und Chemische Labordiagnostik der Medizinischen Universität Wien/Zentrallabor des AKH der Stadt Wien, ist seit 2012 Präsident der Ärztekammer für Wien und seit 2017 Präsident der Österreichischen Ärztekammer.