Retten „Community Nurses“ die Patienten aus den (falschen) Strömen?
Das traditionelle OÖGKK-Expertengespräch fand heuer erstmals unter der Fahne der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK) statt. Doch das Thema „Gesundheitsversorgung & Patientenströme: Hilfe am falschen Ort?“ offenbarte erneut die schwierige Ausgangslage für bundesweite Lösungen. Eine davon könnten Gemeindeschwestern sein, hoffen die Experten.
Untersuchungen an der Innsbrucker Notfallambulanz hätten gezeigt, dass rund 60 Prozent der Patienten keine echten Notfälle seien, gibt Univ.-Prof. Dr. Harald Stummer einen ersten Impuls für das Expertengespräch in der ÖGK-Landesstelle Linz am 21.1.2020. Der Leiter des Instituts für Public Health, Versorgungsforschung und HTA an der UMIT-Privatuniversität in Hall in Tirol, berichtet von drei ungefähr gleich großen Gruppen von Ambulanzpatienten: Die erste Gruppe sind Direktbesucher, die sich in wiederum in zwei Extreme einteilen lassen und zwar einerseits in Maturanten und Akademiker und andererseits in Patienten ohne diese Bildungsabschlüsse und mit unterdurchschnittlichem Einkommen.
Die zweite Gruppe sind Patienten, die schon beim niedergelassenen Arzt waren, jedoch „unzufrieden“ seien und daher zum Einholen einer „Zweitmeinung“ die Ambulanz aufsuchen würden. Die dritte Gruppe kommt mit einer Überweisung aus dem niedergelassenen Bereich. Die wichtigsten Motive der Ambulanzbesucher seien – in absteigender Reihenfolge – bessere Öffnungszeiten, Spezialisten mehrerer Disziplinen, bessere Diagnose und höhere medizinische Standards.
Motive der Patienten von Wahlärzten
Stummer stellte auch die Motive von Patienten eines Linzer Wahlarztzentrums vor: Hier stünde „mit Abstand“ die qualitative Arzt-Patienten-Beziehung (23,6 %) im Vordergrund. Dann folgen Warte- und Öffnungszeiten (12,2 %), Kompetenz und Ruf (9,0 %), örtliche Nähe (7,1 %) und Empfehlungen (6,7 %).
Zurück nach Innsbruck: Durch die Einführung einer Allgemeinmedizin in der Notfallambulanz Innsbruck seien sowohl die Wartezeiten um insgesamt 12 % (um 17 % während der Öffnungszeiten der Allgemeinmediziner) als auch die Laborleistungen um 9,3 % und die Bildgebung um 2,3 % zurückgegangen, schlägt der Gesundheitsökonom eine mögliche Lösung vor, die Patientenströme zu steuern.
Eine andere Lösung – „etwas absolut Tolles“ – stehe im Regierungsprogramm, verweist Stummer auf die sogenannten Community Nurses. Wie berichtet plant die türkis-grüne Regierung ein entsprechendes Projekt in 500 Gemeinden. Die Gemeindeschwestern sollen „zentrale Ansprechpersonen“ in der Pflege sein, Therapien koordinieren und präventive Hausbesuche ab dem 75. Lebensjahr machen. Weiters sollen sie auch in die „gesundheitliche Basisversorgung“ stärker eingebunden werden.
Stummer erklärt dazu, dass diese speziell ausgebildeten Pflegekräfte in anderen Ländern schon im Einsatz seien, insbesondere in Skandinavien, und vor allem auch in der Betreuung chronisch Kranker eine wichtige Rolle übernehmen könnten. Das Problem sei, räumt er ein, dass es vermutlich noch sehr lange dauern werde, bis 500 Community Nurses – geschweige denn für ganz Österreich genügend dieser speziellen Pflegekräfte – ausgebildet sind.
Mehr Daten braucht das Land
Insgesamt, so sein Fazit, gebe es in Österreich nur wenig valide Daten, oft nur regionale Fallstudien: „Wir benötigen bessere Daten, um zielgerichtet Gesundheitskompetenz zu verbreiten und Angebote zu steuern.“ Der Handlungsbedarf sei jedenfalls da, weil Österreich zwar bei der durchschnittlichen Zahl ärztlicher Konsultationen pro Einwohner und Jahr mit 6,5 im OECD-Schnitt (6,8) liege, jedoch bei den Spitalsentlassungen pro 1.000 Einwohner mit 249 hingegen deutlich über dem OECD-Durchschnitt (154) liege.
Auf das Stadt-Land-Gefälle bei der Angebotsdichte (fach)ärztlicher Kassenleistungen machte Impulsgeberin Evelyn Angerer-Mitteramskogler, Referentin für Gesundheitsökonomie im Dachverband der österreichischen Sozialversicherung, aufmerksam. Demnach gibt es in überwiegend ländlichen Regionen 51 Allgemeinmediziner pro 100.000 Einwohner, in überwiegend städtischen Regionen 46. Anders bei den Fachärzten: Hier sind es durchschnittlich 57 Fachärzte pro 100.000 EW, in den Städten aber im Mittel 102 Fachärzte.
Die „kleinräumige Versorgungsforschung“ zeige, fasst Angerer-Mitteramskogler zusammen, dass es bei der Allgemeinmedizin-Angebotsdichte geringe Stadt-Land-Unterschiede gebe, die Inanspruchnahme am Land höher als in der Stadt sei und die Inanspruchnahme wohnortnah erfolge. Bei den Fachärzten sei es umgekehrt, nicht zuletzt durch die Pendlerströme. Insgesamt korreliere das Angebot mit der Inanspruchnahme: „Je städtischer eine Region ist, desto mehr werden Fachärzte in Anspruch genommen.“
Hausärzte am Land nähen mehr
Auf interessante Unterschiede im Leistungsspektrum wies Mag. Helga Himmelbauer, Expertin im Bereich Public Health der ÖGK in Linz, hin. Hausärzte in ländlichen Regionen rechnen deutlich mehr Infusionen, Wundnähte und Visiten ab als ihre Kollegen in den Ballungsräumen. Das bessere Angebot in städtischen Regionen dürfte eine stärkere Nachfrage nach Leistungen bei Fachärzten und in Spitalsambulanzen auslösen, so ihre Interpretation.
Die vierte Impulsgeberin, Mag. Susanne Gusenbauer von der Abteilung Behandlungsökonomie der ÖGK in Linz, warnt zur Vorsicht bei Dateninterpretationen in der Versorgungsforschung am Beispiel von hohen Ambulanz- und Facharztfrequenzen in den Ballungsräumen: Die Ambulanzfrequenzen haben beispielsweise zwischen 1997 und 2017 zwar um knapp 26,92 % zugenommen (von 2.480.663 auf 3.148.484). Jedoch stieg im selben Zeitraum auch die Zahl der OÖGKK-Anspruchsberechtigten um 23,41 %. So gerechnet bleibe bei den Spitalsambulanzen innerhalb von 20 Jahren nur eine „individuelle“ Nutzungssteigerung von 2,85 % übrig.
Hauptmotiv der Wahlärzte: Mehr Zeit
In der anschließenden regen Diskussion – die Idee der Community Nurses fand durchaus Anklang – sorgten auch die Teilnehmer für so manchen Impuls an die Kassen: Viele Ambulanzpatienten würden etwa zu keiner der drei von Gesundheitsökonom Stummer dargestellten Gruppen gehören – nämlich jene, die mangels Angeboten im Niedergelassenen-Bereich, sei es wegen fehlender oder unbesetzter Bereitschaftsdienste, unbesetzter Hausarzt- und Facharztstellen, oder aus finanziellen Gründen notgedrungen Hilfe in Spitalsambulanzen suchen müssen.
Oder etwa, dass es bereits doppelt so viele Wahlärzte wie Kassenärzte in Österreich gibt. Hauptmotiv laut einer repräsentativen Wahlarztumfrage in Oberösterreich (publiziert in „OÖ Ärzte“, Ausgabe Dezember 2019/Jänner 2020) ist es, mehr Zeit für die Patientenbetreuung zu haben. Auch die von den Kassen oft in Abrede gestellte Versorgungswirksamkeit der Wahlärzte dürfte überholt sein: Die oberösterreichischen Wahlärzte haben laut der Umfrage (Teilnehmerquote 30,5 %) mehr als 3,3 Millionen Patientenkontakte jährlich. Der Anteil der hauptberuflich tätigen Wahlärzte beträgt in Oberösterreich 47 Prozent, davon bieten drei Viertel mehr als 21 Wochenstunden an Ordinationszeiten an.