Gemischte Gefühle, aber: „Unsere Hand ist ausgestreckt, um zu helfen“
Die Vorhaben im Bereich Prävention im türkis-grünen Regierungsprogramm sorgen für vorsichtigen Optimismus und Tatendrang bei der Österreichischen Ärztekammer. Wichtige Befunde fehlen ihr aber noch, daher ist „Watchful Waiting“ angezeigt.
„Genauestens beobachten“ wird der Präsident der Österreichischen Ärztekammer (ÖÄK), Univ.-Prof. Dr. Thomas Szekeres, etwa die Entwicklung der Sozialversicherung. Nicht nur ihn erstaunte es, dass die Regierung von Wieder-Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) und Neo-Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) dem neuen Sozial- und Gesundheitsminister Rudi Anschober (Grüne) dazu nur „anderthalb Sätze“ ins Regierungsstammbuch geschrieben hatte. Zumal es hier um Milliardensummen gehe. Die ausverhandelten anderthalb Sätze im 328-seitigen Pakt – davon sieben zur Gesundheit – beinhalten eine Evaluierung der Zusammenlegung von SVA und SVB zur SVS sowie das Bekenntnis zum Prinzip der Selbstverwaltung. Letzteres begrüßt die Kammer aber.
Defizit in der Prävention angehen
Viele andere Punkte finden ebenso Anklang, darunter die Einführung des Eltern-Kind-Passes bis zum 18. Lebensjahr (ein fertiger Entwurf liege dem Gesundheitsministerium vor, erinnern die Standesvertreter) oder langjährige Forderungen wie das Abschaffen der unechten Umsatzsteuerbefreiung bei Vermietung an Ärzte. „Massiv begrüßt“ werden weiters bessere Informationen und Beratungen über Impfungen, heißt es im Positionspapier, das die ÖÄK am 14. Jänner der Öffentlichkeit präsentiert hat.
„Was uns besonders freut, ist die Erwähnung von Präventionsprogrammen, da haben wir ein Defizit in Österreich“, betont Szekeres und untermauert dieses mit OECD-Zahlen. Demnach liege Österreich bei den 15-jährigen Jugendlichen „ziemlich abgeschlagen“: Übergewicht, übermäßiger Alkohol- und Nikotinkonsum, zu wenig Bewegung – hier sollte man rechtzeitig mit Präventionsprogrammen und Aufklärung beginnen, „in dem Zusammenhang ist auch die Aufwertung der Schulärzte positiv zu erwähnen“. Allerdings fehle die tägliche Turnstunde im Regierungsprogramm.
Messlatte aus Deutschland und der Schweiz
Was der Kammer auch fehlt, ist eine Antwort auf die Finanzierungsfrage. „Die Gesundheitsausgaben gemessen am BIP stagnieren ohnehin schon lang genug“, konstatiert Szekeres, „wir dürfen unsere Messlatte, die im Bereich unserer Nachbarländer Deutschland und Schweiz liegt, nicht aus den Augen verlieren.“ Es brauche mehr Geld im Gesundheitssystem. Die großen Themen „Gesundheit“ und „Pflege“ könne man nur gemeinsam meistern. „Wir vertrauen hier auf die pragmatische Lösungsorientierung und Pakttreue des neuen Gesundheitsministers“, zeigt sich Szekeres zuversichtlich, „unsere Hand ist jedenfalls von Beginn an ausgestreckt, um zu helfen.“
Kritisch sieht Szekeres „eine verbesserte Abstimmung der medizinischen Versorgung zwischen Bund, Ländern und Sozialversicherung und damit eine Stärkung der Bundeszielsteuerung“. Der Grund: In dieser „Gleichung“ fehle die Einbindung der Ärzteschaft. Dazu gebe es „einfach keine vernünftige Alternative“. Die ärztliche Expertise dürfe auch nicht beim geplanten Aufwerten von diplomierten Pflegekräften und Stärken neuer Gesundheits- und Sozialberufe (Stichwort Community Nurses) zu einer „Erosion ärztlicher Kompetenzen“ führen. Diagnose und Therapie müssten bei Ärzten bleiben, das sei eine Frage der Patientensicherheit.
e-Card bei der Hälfte der Ärzte nicht im Einsatz
Das Konsultieren der Ärzte wünscht sich die ÖÄK auch beim kontroversen Thema e-Health. „Die Ärzte-Vertreter sind keine ELGA-Feinde, wir hätten nur gern ein elektronisches Tool, das uns hilft“, bringt es Dr. Harald Mayer, ÖÄK-Vizepräsident und Kurienobmann der angestellten Ärzte, auf den Punkt. Davon sei man noch weit entfernt: „Solange ich bis zu einer Minute brauche, bis ich einen Patientenakt offenhabe, der dann noch immer nicht ordentlich befüllt ist, dann ist das keine Erleichterung, sondern eine zusätzliche Belastung.“
Mayer kritisiert auch die in den verschiedenen Krankenhäusern und Sozialversicherungen unterschiedlichen EDV-Systeme, „die nicht einmal über Schnittstellen ordentlich miteinander kommunizieren können“. Hier sei es höchste Zeit für EDV-Tools, die sowohl in der Niederlassung als auch im Spital funktionieren: „Dann wird es leichter sein, die Patienten gut durch das Gesundheitssystem zu führen.“ Zurzeit arbeite man mit PDF-Dateien, „die zwar sehr schön sind, aber da war ein guter alter Bene-Ordner auch nicht viel schlechter“, weiß Mayer, Unfallchirurg am LKH Schärding.
Bemerkenswert ist jedenfalls, dass im gesamten Regierungsprogramm das Reizwort ELGA gar nicht vorkommt. Dafür der Terminus „population health management“ aus der Healthcare & IT-Branche. Darauf geht das ÖÄK-Positionspapier zwar nicht ein, sieht aber den Punkt „Ausnahmslose Nutzung von anonymisierten Daten zu wissenschaftlichen Zwecken“ im Regierungsübereinkommen skeptisch, weil ELGA eigentlich für andere Zwecke etabliert worden sei. Zur geplanten „Weiterentwicklung der e-Card als Schlüssel für papierlose Prozesse unter Berücksichtigung des Datenschutzes“ merkt die ÖÄK trocken an, dass die e-Card bei mehr als der Hälfte der Ärzte nicht im Einsatz sei, „nämlich bei den Wahlärzten“.
Die ÖÄK fordert daher eine gemeinsame österreichische e-Health-Digitalisierungssteuerung, bei der Bund, Länder, Sozialversicherung, Ärzteschaft und Industrie einzubinden seien, anstelle von „Einzelprojekten“. Weiters wollen die Ärzte-Vertreter eine „Vereinheitlichung der an der Digitalisierung beteiligten IT-Unternehmen in der Hand des Bundes, der Länder und der Sozialversicherung (ELGA GmbH, SVC, ITSV etc.)“ und ein rechtlich garantiertes Mitspracherecht der Ärzte bei sie betreffenden EDV-Entscheidungen.
Die geplante Verlängerung des Opt-outs bei den Höchstarbeitszeiten für Spitalsärzte (55 statt 48 Wochenstunden) ab Mitte 2021 ist für Mayer keine „qualitativ wertvolle“, sondern eine „katastrophale Lösung“. Der Ansatz „Die Ärzte werden weniger, lassen wir sie halt länger arbeiten“ werde keinen Erfolg haben, prophezeit er, „denn die einzigen Ärzte, die aus den derzeit gültigen Höchstarbeitszeiten hinausoptieren, sind großteils ältere Ärzte“. Die jungen Ärzte würden sogar 38 Stunden, nicht 48 Stunden fordern, außerdem mehr Zeit für Ausbildung. Damit nicht noch mehr Ärzte Österreich verlassen, müsse man hier strukturelle Maßnahmen ergreifen.
Nicht mit Fieber und Rollator zum Hausarzt
Die niedergelassenen Ärzte-Vertreter würden sich mit dem Regierungsprogramm „ganz zufrieden“ geben und es „mit sehr viel Optimismus“ sehen, sagt Dr. Naghme Kamaleyan-Schmied, Leiterin des ÖÄK-Referates für Primärversorgung und ärztliche Zusammenarbeitsformen. Freilich sei die Qualität der Ankündigung an ihrer Umsetzung zu messen. Als „Nachteil und Vorteil“ des Regierungsprogrammes gibt die Wiener Allgemeinmedizinerin an, dass es relativ unkonkret sei.
„Für mich als Hausärztin erfreulich ist vor allem, dass die Gesundheitsversorgung – vor allem der Ausbau der flächendeckenden wohnortnahen Versorgung – diesmal wirklich nachhaltig finanziell abgesichert werden soll“, ist Kamaleyan-Schmied guter Dinge. Sie hoffe „aus tiefstem Herzen“, dass dies auch umgesetzt werde, „weil die wohnortnahe Versorgung, die wir als Hausärztinnen und Hausärzte bieten, genau das ist, was sich vor allem ältere Patienten wünschen“. Für Jüngere sei der Weg zum Arzt in Wahrheit machbar, aber wenn man sich mit Fieber und Rollator durch die Gegend kämpfen müsse, „damit man seinen Hausarzt sieht, ist das natürlich nicht tragbar“.
Das Bekenntnis zur wohnortnahen Versorgung sollte auch bedeuten, sich zu rund 1.300 zusätzlichen Kassenarztpraxen zu bekennen, erneuert die ÖÄK eine langjährige Forderung.
Bewertung weiterer Punkte des Regierungsprogramms auf www.aerztekammer.at
Einheitliche Gesundheitshotline 1450 in der Warteschleife
Wie heikel das Thema Digitalisierung ist, zeigt auch die telefonische Erstberatung 1450, die laut Regierungsprogramm aufgewertet und weiterentwickelt werden soll. Obwohl die Hotline österreichweit gilt, haben die „Schrebergärten“ Hochkonjunktur: In der Steiermark z.B. wird auch der (freiwillig besetzte) Bereitschaftsdienst 141 über 1450 disponiert. Dies führte zuletzt laut „Kleine Zeitung“ zu zahlreichen Fehlleitungen der Patienten zu geschlossenen Ordinationen. Andere suchten händeringend einen Visitenarzt: Erst nach zehn Stunden (!) konnte am Freitagabend, den 27.12.2019, mithilfe der Apotheke ein Arzt ihrer 92-jährigen Mutter ein dringend benötigtes Antibiotikum geben, berichtet eine Wiener Journalistin gegenüber Medical Tribune. Laut Arzt hat ihre Mutter die Nacht nur knapp überlebt.
Auf Nachfrage der Medical Tribune, ob man eine einheitliche Lösung forciere, heißt es seitens der ÖÄK: „Hier können wir noch keine abschließende Bewertung machen, da 1450 erst seit Kurzem in allen Bundesländern angeboten und sehr unterschiedlich organisiert wird. Daher müssen wir noch abwarten, welche Erfahrungen in den einzelnen Bundesländern gesammelt werden, bevor wir das Angebot evaluieren können.“ Grundsätzlich sehe die ÖÄK aber sämtliche Maßnahmen, die Spitäler entlasten, positiv.
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