5. Juli 2019

ÖGGH will Darmkrebs-Screening nach niederländischem Modell

Österreichs Gastroenterologen fordern mit Nachdruck ein Screeningprogramm in der Dickdarmkrebsvorsorge. Seit 2007 sind Verhandlungen mit dem Gesundheitsministerium ergebnislos geblieben. (Medical Tribune 27–28/19)

„Der Dickdarmkrebs ist der Killer Nummer zwei unter allen Krebsformen“, sagt Univ.-Prof. Dr. Herbert Tilg, Gastroenterologe an der Medizinischen Universität Innsbruck und Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Gastro­enterologie und Hepatologie (ÖGGH). Im Jahr 2016 sind in Österreich 4.517 Menschen an Darmkrebs erkrankt, 2.123 daran gestorben. Tirols Krebsregister weist für 2016 360 Betroffene, darunter 210 Männer und 150 Frauen aus. Damit liegt Tirol unter dem Durchschnitt der EU und jenem in Österreich, was Tilg auf die Faktoren Lebensstil (Bewegung, Ernährung) und eine relativ hohe Zahl an Vorsorgeuntersuchungen zurückführt. Österreichweit nehmen an Kolo­skopien, die von den Kassen für die Hauptzielgruppe der 50- bis 75-Jährigen bezahlt werden, nur 20 Prozent der infrage kommenden Personen teil.

Am stärksten werden die in der Regel im Zehnjahresabstand durchgeführten Darmspiegelungen im Burgenland und in Vorarlberg in Anspruch genommen.

Lebensstil lässt immer mehr junge Leute erkranken

Sorgen bereitet den Gastroenterologen eine Tendenz zu steigenden Dickdarmkrebserkrankungen bei jüngeren Personen. Eine kürzlich im Fachjournal „Gut“ veröffentlichte große europäische Studie weist die höchste Steigerungsrate von acht Prozent für die Gruppe der 20- bis 29-Jährigen aus. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist die Ursache dafür im Lebensstil zu suchen, konkret bei einer kohle­hydrat-, fett- und fleischreichen Ernährungsweise, betont Tilg. Gleichzeitig ist in der Gruppe der 50- bis 75-Jährigen ein leichter Rückgang zu verzeichnen, zurückzuführen auf erfolgreiche Früh­erkennungen.

Erfolge in der Qualitätssicherung

Univ.-Prof. Dr. Monika Ferlitsch von der Medizinischen Universität Wien, Gastroenterologin und Expertin im Screening, hebt wichtige Erfolge in der Qualitätssicherung bei der Darmkrebsvorsorge in Österreich hervor. Ein 2007 von der ÖGGH gemeinsam mit dem Hauptverband der Sozialversicherungen und der österreichischen Krebshilfe lanciertes Projekt hat erreicht, dass sich inzwischen 43 Prozent der endo­skopierenden Stellen an dieser qualitätssichernden Maßnahme beteiligen. „In diesem Zeitraum wurden 321.000 qualitätsgesicherte Koloskopien durchgeführt und analysiert, dabei wurden 2.381 Darmkrebsfälle gefunden“, erklärt Ferlitsch. Besonders hervorzuheben sind 74.012 mit der gleichen Untersuchung entdeckte Adenome, davon 19.754 im fortgeschrittenen Stadium. Alle diese Polypen, die sich über kurz oder lang zu Darmkrebs entwickeln können, wurden im Zuge der Untersuchung abgetragen und aus dem Darm entfernt. Damit wurden in den letzten zwölf Jahren (statistisch) 10.523 Darmkrebsfälle verhindert, betont Ferlitsch.

Die übergreifende Qualitätssicherung bei der Vorsorgekoloskopie in Österreich ist für Ferlitsch auch insofern besonders wichtig, als eine schmerz- und komplikationsfreie Darmspiegelung wesentlich dazu beiträgt, dass Patienten weitere Vorsorgeuntersuchungen zu einem späteren Zeitpunkt in Anspruch nehmen. Zu dieser Qualitätssicherung zählt auch das Angebot einer Schlafspritze für die Dauer der Untersuchung – eine Möglichkeit, die inzwischen 86 Prozent der Patienten in Anspruch nehmen.

Keine gesicherten Erkenntnisse gibt es darüber, warum Männer um rund ein Drittel stärker von Darmkrebs betroffen sind als Frauen. Vermutet wird ein hormoneller Hintergrund, wobei Testosteron bei Männern belastend und Östrogen bei Frauen schützend wirke, sagt Ferlitsch. Darauf weise auch hin, dass die Darmkrebsrate bei Frauen nach der Menopause steige. Fakt ist, dass 30 Prozent der Männer über 50 Adenome entwickeln, aber nur 20 Prozent der Frauen.

Österreich ist in puncto Screening säumig

Die Forderung der EU nach einem nationalen Darmkrebsscreening blieb in Österreich bislang unerfüllt, obwohl sich u.a. die ÖGGH seit 2007 bei allen Gesundheitsministern der Republik darum bemüht hat. Österreichs Säumigkeit ist insofern besonders bemerkenswert, als z.B. die Mehrzahl der osteuropäischen Länder derartige Screenings längst eingeführt haben. Die drei deutschsprachigen Länder Deutschland, Schweiz und Österreich zählen nicht dazu.

Innerhalb der ÖGGH wird derzeit ein Modell präferiert, wie es die Niederlande seit 2014 anwenden. Dort erhalten alle Menschen der Altersgruppe zwischen 50 und 75 Jahren jährlich einen Test zur Untersuchung des Stuhls auf Blutspuren zugesandt. 73 Prozent schicken ihren Test per Post ein und erhalten innerhalb von 30 Tagen eine Antwort. Jene, zuletzt 6,1 Prozent, deren Test auf Blut im Stuhl positiv war, erhalten eine Einladung zu einer Koloskopie, die von 80 Prozent der Betroffenen wahrgenommen wird. Die beiden Methoden stuft Ferlitsch als gleichwertig ein, wobei der Bluttest als Früherkennung und die Koloskopie als Vorsorge einzustufen sind.

Tilg schlägt für Österreich eine ähnliche Herangehensweise vor, möchte aber die untere Altersgrenze für das Screening in Richtung 40 Jahre gesenkt wissen. Wie schon bei der jetzigen Vorsorgeuntersuchung sollen Menschen mit chronisch entzündlichen Darmerkrankungen und solche mit familiärer Belastung entsprechend früher zum Screening eingeladen werden.

Differenzierter Blick auf das Screening

Screeningverfahren werden in der Öffentlichkeit tendenziell immer kritischer beurteilt, da­rauf verweist Univ.-Prof. Dr. Uwe Siebert, Departmentleiter Public Health und Experte in Screeningverfahren von der Privatuniversität UMIT in Hall in Tirol. Teilweise zu Recht, meint Siebert und nennt Nebenwirkungen von Screeningverfahren, die wenig thematisiert würden. Dazu zählen Komplikationen durch die Maßnahme selbst und falsche Alarme, welche die Betroffenen einige Zeit ängstigen. Dazu kommen mögliche Überdiagnosen, also „die Entdeckung einer Krankheit, die ohne Früherkennung überhaupt nie zu Symptomen führt“. Als Beispiel nennt Siebert, dass fast alle 90-jährigen Männer Prostatakrebs hätten, der aber erst im Alter von 130 relevant würde.

Von all diesen Fragestellungen ist ein Dickdarmscreening weit entfernt: „Das Screening erlaubt das Erkennen einer Vorstufe, ohne eine Krebsdiagnose zu erzeugen. Wenn der Polyp raus ist, ist er raus“, betont Siebert. Überdiagnosen spielen beim Dickdarmscreening eine untergeordnete Rolle, weil Polypen nicht als bedrohlich wahrgenommen werden.

Rechenmodelle, die Siebert erstellt hat, belegen, dass ein konsequentes Koloskopieprogramm (mit Untersuchungen im Zehnjahresabstand) sogar Kosten im Gesundheitssystem sparen würde, Kosten und Nutzen eines Bluttestscreenings seien als neutral zu beurteilen.

Finale Erkenntnis für den Public-­Health-Experten: Unter allen erdenklichen Screeningprogrammen ist die eindeutige Nummer eins jenes für den Dickdarm.

Quelle: Pressegespräch anlässlich des Kongresses der Österreichischen Gesellschaft für Gastroenterologie und Hepatologie; Innsbruck, Juni 2019

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune