Zu viel Arbeit macht krank

Nihil novi sub sole – heute wie damals zeigen Arbeitsmediziner und Psychiater gesundheitliche Risiken von 12-Stunden-Tagen auf. Neu unter der Sonne ist jetzt nur, dass ein Sozialpartner nicht mehr im Boot ist. (Medical Tribune 27-28/18)

Der Gang ins Archiv bringt Erstaunliches zutage: Das Parlament soll noch vor dem Sommer ein neues Arbeitszeit- Paket beschließen, wonach die Kollektivvertragspartner künftig die Höchstarbeitszeit von 10 auf 12 Stunden pro Tag anheben können. Die Proteste sind enorm. Nein, nicht von der Gewerkschaft. Denn es handelt sich just um eine Einigung der Sozialpartner. Und zwar im Jahr 2007. Chef des Gewerkschaftsbundes (ÖGB) ist damals Rudolf Hundstorfer, späterer SP-Sozialminister, SP-Bundeskanzler ist Dr. Alfred Gusenbauer. Sorgen machten sich Arbeitsmediziner wie Dr. Reinhard Jäger, Präsident der Fachgesellschaft, und Beiratsvorsitzender Univ.-Prof. Dr. Hugo W. Rüdiger. Sie warnten damals in der Medical Tribune vor erhöhtem Unfall- und Krankheitsrisiko, was prompt die Ärztekammer Wien in einer Aussendung zitierte. Unter Ärzte-Chef Dr. Walter Dorner verabschiedete die Vollversammlung einen einstimmigen Beschluss gegen den Gesetzesentwurf.

Elf Jahre später, Juli 2018: „Das Studienmaterial ist geradezu erdrückend“, sagt Prim. Dr. Erich Pospischil, heutiger Präsident der Gesellschaft für Arbeitsmedizin, zu viel Arbeit mache krank. „Bei 12 Stunden Arbeit pro Tag bzw. 60 Stunden Wochenarbeitszeit gibt es eine Fülle von Problemen“, erklärt Pospischil und führt muskuläre oder auch erhöhte Schadstoffbelastungen ebenso an wie psychische Probleme. 2014 zeigte eine finnisch-schwedische Studie an 600.000 Arbeitnehmern ein erhöhtes Risiko für Schlaganfälle bei einer Wochenarbeitszeit von mehr als 55 Stunden. 2017 kam diese Forschergruppe zu dem Ergebnis, dass lange Arbeitszeiten das Risiko für Vorhofflimmern erhöhen. Viele Studien belegen auch, dass Leistungspotenziale ab der 7. bis 8. Arbeitsstunde linear abnehmen. Der Arbeitsmediziner und FA für Psychiatrie und Neurologie, Prof. Dr. Rudolf Karazman, berichtet von Projekten zur Verkürzung der Arbeitszeit: „Die Produktivität ist stets gestiegen.“ Ab der 9. Stunde nimmt indes auch das Risiko für Arbeitsunfälle mit jeder Stunde zu. In der 12. Stunde liegt es bereits um 70 Prozent höher. Fährt ein Arbeiter in der 13. Stunde nach Hause, besteht auch ein fünffach erhöhtes Risiko für einen Verkehrsunfall.

Das Toxin der heutigen Zeit

„Über diese Daten brauchen wir nicht zu diskutieren, das wäre so, als wenn man anzweifelt, dass die Erde eine Kugel ist“, sagt Prim. Dr. Georg Psota, Past-Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, und führt die steigenden psychischen Erkrankungen ins Treffen. „Das Toxin der heutigen Zeit ist Stress, und der ist assoziiert mit der Dauer der Arbeitszeit“, weiß Psota. Länger arbeiten erhöhe nachweislich das Risiko für psychische Erkrankungen wie Depressionen sowie ungünstiges Gesundheitsverhalten wie Rauchen oder Alkoholkonsum.

„Mensch ist keine Maschine“

Die Experten betonen unisono, dass eine Ausweitung der Arbeitszeiten neben persönlichem Leid auch volkswirtschaftliche Kosten durch erhöhte Belastungen im Gesundheits-, Sozialund Pensionssystem mit sich brächten. Karazman: „Wenn man mehr arbeitet, braucht man mehr Erholungszeit. Deshalb: Wenn schon ein 12-Stunden-Tag, dann in Kombination mit einer kürzeren Wochenarbeitszeit von 30 Stunden.“ Auch die frühere Gesundheitsministerin und jetzige Gesundheitssprecherin der SPÖ, Dr. Pamela Rendi-Wagner, kann dem VP/FP-Regierungsvorstoß bei den Arbeitszeiten nichts abgewinnen: „Das ist für mich ein gezielter Angriff auf die Gesundheit der Menschen – Menschen sind keine Maschinen und haben natürliche Leistungsgrenzen.“ „Je mehr man arbeitet, umso ungesünder ist es“, räumt auch der jetzige Ärzte-Chef Dr. Thomas Szekeres ein. Trotz Verständnis für die Proteste der Arbeitnehmer ist er im Vergleich zu seinem Vorgänger im Jahr 2007 relativ zurückhaltend. „Ich kann auf die Literatur verweisen und sagen, dass es gesundheitliche Auswirkungen gibt“, sagt Szekeres auf Anfrage der Medical Tribune.

Dennoch habe die Ärztekammer zur Arbeitszeitflexibilisierung keine Position. Man warte Details ab, es sei nicht primäre Aufgabe der Ärztekammer, sich um dieses Thema zu kümmern. Warum hat sich 2007 der ÖGB überhaupt mit den Arbeitgebervertretern auf den 12-Stunden-Tag geeinigt? „Weil damit die Möglichkeit zur Flexibilität verbessert wurde“, erklärt ÖGBChef Wolfgang Katzian gegenüber Medical Tribune. Seit 1998 sehe das Gesetz die Möglichkeit einer 4-Tage-Woche vor, „die Einigung 2007 bedeutet, dass die Kollektivvertragsverhandler die Rahmenbedingungen dafür gestalten können“. Es sei also jetzt schon möglich, bei einer 4-Tage-Woche bis zu 12 Stunden zu arbeiten – es bestehe aber kein Rechtsanspruch darauf, auch im Entwurf der Regierung gebe es diesen nicht.

Katzian: „Die Behauptung, dass Arbeitnehmer, die 4 Tage lang 12 Stunden gearbeitet haben, am 5. Tag selbstbestimmt zu Hause bleiben dürfen, wenn sie keine 4-Tage-Woche vereinbart haben, ist falsch, es gibt keine rechtliche Grundlage dafür.“ Hauptmotiv der Einigung 2007 war laut Katzian die Möglichkeit, die Flexibilität „gemeinsam“ mit Arbeitnehmervertretern zu gestalten. „Genau das soll jetzt wegfallen: Das Gesetz setzt Betriebsvereinbarungen außer Kraft, sie kommen in dem Gesetzestext gar nicht mehr vor. Überstunden sollen vom Arbeitgeber angeordnet werden können“, erläutert Katzian. Trotz einer Groß- Demo des ÖGB mit rund 100.000 Teilnehmern beschloss das Parlament das Gesetz am 5. Juli 2018.

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune