Man stirbt nur einmal
Die letzte Lebensphase von Menschen ist für Ärzte mit einer Vielzahl an medizinischen und juristischen Fragestellungen verknüpft – ein Spannungsfeld zwischen Übertherapie und Sterbehilfe. (Medical Tribune 23/18)
„Lebensverlängerung alleine ist kein Ziel von Intensivtherapie“, betont die Intensivmedizinerin Univ.-Prof. Dr. Barbara Friesenecker, „der Patient muss die Erkrankung überleben können, es muss ein Therapieziel geben, sonst braucht man ihn nicht in der Intensivstation aufzunehmen.“ Im Rahmen einer Veranstaltung der AbsolventInnenorganisation der Medizinischen Universität Innsbruck ALUMNI-I-MED wurde über schwierige medizinische Entscheidungen am Ende des Lebens diskutiert. Den Anfang machte dabei der Zivilrechtler Univ.-Prof. Dr. Michael Ganner. Ins Zentrum rückte er die Kategorien „Menschenwürde“ und „Autonomie“, wobei er Letztere als Voraussetzung für selbstverantwortliches Handeln und den Umgang mit Risiken bezeichnete. Der Autonomie steht die zweckorientierte Ethik des Utilitarismus gegenüber, wonach Leben und Lebensqualität durch dritte Personen bewertet wird. Medizinische Entscheidungen würden auf zwei Säulen beruhen, erläuterte Ganner, der vom Arzt bestimmten Indikation und der Zustimmung des Patienten.
Jedenfalls gelte aber: „Wenn der Arzt nicht von der Richtigkeit einer Behandlung überzeugt ist, darf er/muss er diese nicht durchführen.“ Mit dem entscheidungsfähigen Patienten sei ein Konsens herzustellen, was einschließe, Maßnahmen zu unterlassen, auch wenn der Arzt diese Maßnahmen als sinnvoll erachtet: „Sterbebegleitung ist rechtlich völlig gedeckt und unproblematisch.“ Die rechtliche Basis des Suizid-Tourismus in die Schweiz ist rasch erklärt: In Österreich ist seit der großen Strafrechtsreform von 1974 der Selbstmord straffrei, nicht aber die Mitwirkung/Beihilfe am Suizid. Die deutsche Regelung ist in diesem Punkt ähnlich jener in der Schweiz, allerdings mit einem wesentlichen Unterschied: Deutschland erlaubt den assistierten Suizid, verbietet diesen aber auf gewerbsmäßiger Basis. Ärzte in Österreich warnte Ganner davor, Patienten Informationen zu den Möglichkeiten in der Schweiz zu geben, weil das Gerichte als assistierten Suizid bewerten könnten.
Tendenz zur Übertherapie
Patientenverfügungen empfiehlt Ganner im allseitigen Interesse, sei es die (formal aufwendige) „verbindliche“ oder die „beachtliche“ Verfügung. Allerdings spielen Patientenverfügungen in der Praxis noch immer eine sehr untergeordnete Rolle – in 15 Jahren als Intensivmedizinerin hatte Dr. Barbara Friesenecker mit einer verbindlichen und drei beachtlichen Patientenverfügungen zu tun. Insgesamt zeichnete Friesenecker ein sehr kritisches Bild: „Wir befinden uns heute unter dem Diktat des Machbaren und haben Angst vor dem Vorwurf, Hilfeleistung zu unterlassen.“ Friesenecker forderte dazu auf, die Indikation von Therapiezielen kritischer zu hinterfragen, und stellte nüchtern fest: „Wir produzieren mit großem Aufwand häufig Pflegefälle. Es steht nirgendwo, dass wir unter allen Umständen Leben erhalten müssen.“ Gut begleitet sterben lassen, ohne Angst, Schmerz, Stress, Atemnot entspräche häufig mehr dem Patientenwohl.
Das heißt mit anderen Worten, rechtzeitig auf palliativmedizinische Maßnahmen umzustellen. Friesenecker verwies in diesem Zusammenhang auf große Studien mit weltweit 1,2 Mio. ausgewerteten Krankengeschichten, wonach in den letzten sechs Lebensmonaten 40 Prozent der Therapien ohne Nutzen seien. In diesem Kontext ist in der einschlägigen Literatur längst von „Übertherapie“ und „chronisch kritisch-krank“ die Rede. Zugleich gelte, dass der Patient „Nein“ sagen kann, betonte Friesenecker: „Auch wenn wir der Meinung sind, wir können ihn heilen, dürfen wir das nicht tun – ansonsten begehen wir eine Körperverletzung.“ Die Tendenz zu Übertherapie sieht Friesenecker auch in der tief verankerten Haltung unter Medizinern, wonach „Sterben heißt, wir haben beim Heilen versagt“. Friesenecker leitet daraus die Forderung ab, klinische Ethik ins medizinische Pflichtcurriculum aufzunehmen. „Wir können nicht alle Patienten heilen und müssen uns mehr mit der Endlichkeit befassen. Sterben ist keine persönliche Niederlage.“
Hospizbewegung
Daran knüpfte unmittelbar die Vorsitzende der Tiroler Hospizbewegung, Dr. Elisabeth Zanon, an. „Nicht mehr Lebenstage, sondern mehr Tage mit Leben“, sei das Motto der Hospizbewegung, zu der als zentrales Element die Freiheit zur Selbstbestimmung der Patienten zähle, betonte Zanon. Besonders wichtig sei es dabei, auch die Angehörigen inklusive der Kinder mit zu betreuen und einzubeziehen. Anders als im restlichen Österreich setzt das Konzept der Tiroler Hospiz-Gemeinschaft darauf, palliativmedizinische Leistungen und das Angebot des Hospiz als Einheit zu betrachten. Mit der Eröffnung des neu errichteten Hospizhauses Mitte Juni auf dem Gelände des Landeskrankenhauses Hall würde diesem Konzept künftig noch besser entsprochen werden können, so Zanon. Auf Widersprüche zwischen der Erwartungshaltung der Menschen und der Realität machte der Allgemeinmediziner Dr. Artur Wechselberger, Präsident der Tiroler Ärztekammer, aufmerksam. Demnach wünscht sich weit über die Hälfte der Menschen, zu Hause sterben zu können, nimmt man die Wünsche, im Hospiz oder einer Palliativstationen zu sterben, hinzu, ergibt das drei Viertel.
Gestorben wird im Spital
Tatsächlich hat sich das Sterben längst in die Krankenhäuser verlagert. Das trifft für mehr als die Hälfte der Menschen zu, rund 17 Prozent (Tendenz steigend) sterben in Heimen, nur einem Viertel ist es vergönnt, zu Hause zu sterben. Wechselberger sieht den Hausarzt in einer zentralen Rolle bei der Begleitung von Menschen in ihrer letzten Lebensphase. Er sieht ihn als „Teamleader“, der in der Regel den Patienten lange kennt. „Wir haben die Aufgabe, den Menschen zu helfen, für die Sterben nichts Alltägliches ist.“ Allgemeinmediziner werden in dieser Phase vor besondere Herausforderungen gestellt. Zentral ist aus Wechselbergers Sicht eine „ganzheitliche und kontinuierliche Betreuung“, wozu eine Rund-umdie- Uhr-Verfügbarkeit und damit die Weitergabe der Handynummer zähle. Aus Erfahrung weiß Wechselberger, dass Patienten bzw. deren Angehörige damit sorgsam und zurückhaltend umgehen.
Wechselberger sieht die Hausärzte auch in der letzten Lebensphase von Menschen in der Rolle von Koordinatoren des Versorgungsprozesse, bei der Einbindung nicht-ärztlicher Gesundheitsberufe, in der Sicherstellung des Informationsflusses etc. Eine wesentliche Aufgabe sei es auch, Behandlungsziele zu definieren und gegebenenfalls abzuändern – bis hin zum Abbruch der Behandlung. Die Beachtung von Lebens- und Sterbensqualität sieht Wechselberger als weitere Aufgabenfelder, wobei er Lebensqualität „als möglichst geringe Differenz zwischen den Erwartungen eines Menschen und der tatsächlichen Lebensrealität“ skizzierte. Damit wird auch deutlich, dass Lebensqualität immer ein sehr subjektives Maß ist und bis zum letzten Atemzug bleibt.