Zugang zu neuen Medikamenten in Österreich oft eingeschränkt
16% der Arzneimittelinnovationen seit 2015 sind nicht erhältlich, 11% werden nur zeitlich begrenzt erstattet. Auch die Zeit bis zur Verfügbarkeit ist lange.
Entgegen der weit verbreiteten Meinung, dass Patientinnen und Patienten in Österreich rasch Zugang zu innovativen Arzneimitteln erhalten, zeichnet eine aktuelle Analyse von FOPI und PHARMIG ein anderes Bild. Insbesondere im niedergelassenen Bereich müssen Betroffene oft lange auf neue Therapien warten, Einschränkungen bei Verschreibungen hinnehmen oder sogar befürchten, ihre Therapie nicht langfristig fortsetzen zu können. Die Ergebnisse des Berichts „Time to Patients“ verdeutlichen die Situation und bieten Ansätze für Reformen.
Zugang und Verfügbarkeit: Der Schein trügt
„Von vielen Seiten wird seit Jahren betont, dass der Zugang zu neuen Arzneimitteln für Patientinnen und Patienten in Österreich ausgezeichnet wäre. Die Realität sieht jedoch anders aus“, betonte Dr. Leif E. Moll, MBA, Vizepräsident des Forums der forschenden pharmazeutischen Industrie in Österreich (FOPI), im Rahmen eines Round Table, bei dem die Ergebnisse der Analyse präsentiert wurden. Laut dem Bericht, der von Krammer, Wrbka & Partner Consulting erstellt wurde, sind seit 2015 375 Innovationen zugelassen worden, ein Drittel davon für seltene Erkrankungen. Doch rund 16% der neuen sind in Österreich nicht erhältlich, wie Dr. Barbara Möller, MPH, Geschäftsführerin von KWPC, kommentierte.
Hürden bei der Verschreibung und lange Wartezeiten
Ein weiteres Problem zeige sich bei der Kostenübernahme: Von den Innovationen, die im niedergelassenen Bereich eingesetzt werden könnten, sind nur 60% in der Regelerstattung (EKO) gelistet. Und es ist nicht garantiert, dass diese Medikamente so verschrieben werden können, wie sie von der EMA zugelassen wurden. Möller betont: „Nur ein einziges dieser Medikamente kann vollständig ohne Einschränkungen verschrieben werden.“ In der Regel müssen Ärztinnen und Ärzte zunächst Genehmigungen durch den chef- und kontrollärztlichen Dienst einholen, bevor Patientinnen und Patienten die für sie notwendige Therapie erhalten können.
Die Studie zeigt, dass die „Time to Patients“, also die Dauer bis zur Verfügbarkeit für Betroffene, im Schnitt 15,5 Monate beträgt. In besonders langwierigen Fällen dauerte es über 3 Jahre. Möller unterstreicht die Problematik: „Diese Wartezeit kann für Menschen mit einem dringenden Bedarf einschneidend sein.“ Viele neue Therapien dürfen außerdem nur als Zweit- oder Drittlinientherapie oder mit strengen Diagnosekriterien verschrieben werden – und die Erstanwendung muss oft in einem spezialisierten Zentrum erfolgen, was die Patientinnen und Patienten zusätzlich belastet.
Befristete Listungen im EKO führen zudem dazu, dass 11% der neuen Therapien nur zeitlich begrenzt erstattet werden. Ist die Frist abgelaufen, müssen Patientinnen und Patienten mitunter auf andere Medikamente umgestellt werden. Möller wies darauf hin: „Das bedeutet, dass rund ein Zehntel der neuen Arzneimittel keine langfristige Sicherheit für die Patientinnen und Patienten bietet.“
Patientinnen und Patienten fordern mehr Sicherheit
Auch vonseiten der Patientinnen und Patienten wird die Forderung nach mehr Sicherheit und schnelleren Zugängen laut. Mag. Elisabeth Weigand, MBA, Geschäftsführerin von Pro Rare Austria, sagt: „Patientinnen und Patienten erwarten den schnellstmöglichen und unkomplizierten Zugang sowie die Erstattung aller zugelassenen Therapien österreichweit einheitlich.“ Dabei dürften finanzielle Aspekte nicht als Barriere wirken. „Gerade bei teuren Therapien scheitert der Zugang leider häufig an Diskussionen zur Kostenübernahme“, so Weigand weiter.
Ärzteschaft fordert Anpassung an medizinische Entwicklungen
„Die Erstattungsregeln müssen auf den aktuellen medizinischen Standards basieren“, forderte Prim. Univ.-Prof. Dr. Peter Fasching, MBA, Präsident der Österreichischen Diabetes-Gesellschaft (ÖDG). Viele Regeln wurden vor Jahren festgelegt und nicht an neue Studien und evidenzbasierte Therapien angepasst. „Es kann nicht sein, dass chronisch erkrankte Menschen keine aktuellen Therapien erhalten, nur weil die Regeln veraltet sind.“ Fasching sprach sich zudem für eine zweite Versorgungsebene aus, die eine Verschreibung innovativer Medikamente auch durch niedergelassene Ärztinnen und Ärzte ermöglichen würde. Derzeit müssen Patientinnen und Patienten mit Stoffwechselerkrankungen ihre Erstverschreibung in einer spezialisierten Ambulanz erhalten, was die Spitäler zusätzlich belastet.
Systematische Lösungen und klare Reformen gefordert
Hon.-Prof. (FH) Dr. Bernhard Rupp, MBA, Leiter der Abteilung Gesundheitspolitik der Arbeiterkammer Niederösterreich, wünschte sich die klare Trennung von Schein- und echten Innovationen, um Patientinnen und Patienten vor ineffektiven Therapien zu schützen. Er sieht die neue EU-Nutzenbewertung als Chance, die „Time to Patients“ zu verkürzen. Außerdem müsse das chef- und kontrollärztliche System überarbeitet und die finanzielle Ausstattung der Krankenversicherungen gesichert werden. „Österreich darf sich nicht von der modernen Medizinentwicklung abkoppeln. Innovative Therapien müssen den Versicherten, die diese brauchen, zur Verfügung stehen,“ betonte Rupp.
Handlungsbedarf für moderne Gesundheitsversorgung
Die Diskutierenden waren sich einig, dass die Studienergebnisse deutlich machen, dass Österreich dringend Reformen benötigt, um den Zugang zu innovativen Therapien zu verbessern und die Behandlungssicherheit für Patientinnen und Patienten zu gewährleisten. „Wir möchten erreichen, dass die gesetzlichen Rahmenbedingungen angepasst werden, um einen einheitlichen Zugang für Patientinnen und Patienten zu Therapien sicherzustellen,“ resümierte Moll. Durch die Umsetzung der vorgeschlagenen Maßnahmen könnte die Versorgung der Patientinnen und Patienten nachhaltig verbessert und die ärztliche Therapiehoheit gestärkt werden.
Konkrete Lösungsvorschläge der PHARMIG und FOPI
- Stärkere Einbindung von Fachexpertise und Vertreterinnen und Vertretern von Patientinnen und Patienten in den EKO-Prozess
- Aktualisierte Definition von Innovation und Etablierung einer zeitgemäßen umfassenden Nutzenbewertung (Nutzen für Patientinnen und Patienten, aber auch für das gesamte Gesundheits- und Sozialsystem sowie die Volkswirtschaft; zusätzlicher therapeutischer Nutzen, wie z.B. Rückgang der Symptome, Vermeiden von Folgeschäden, Ausbleiben von Nebenwirkungen etc.; innovative bzw. neue Darreichungsformen zur Verbesserung der Anwendung und des Nutzens für Patientinnen und Patienten)
- Festlegung von sachgerechten Vergleichs- und Erfolgsparametern für Innovationen
- Angemessene Preisbildung bei Indikationsausweitungen
- Sicherstellen des dauerhaften und breiten Zugangs: keine Befristungen; Indikationseinschränkungen nur Guideline-konform (oder ggf. nach wissenschaftlichen Kriterien)
- Finanzierungsmodell des Gesundheitssystems transparenter und effizienter gestalten, um ganzheitliche Nutzenbetrachtung zu ermöglichen und finanzielle Ressourcen für Innovation freizumachen
- Trennung von Nutzenbewertung und Preisverhandlung, ähnlich wie in Deutschland – denn es ist jeweils unterschiedliche Expertise nötig
- Betrachtung von EU-HTA als Chance, um den EKO-Prozess weiterzuentwickeln
- Insgesamt Schaffung klarer Erstattungsrichtlinien für die Industrie, um Rechtssicherheit im Interesse der Patientinnen und Patienten zu haben