Föderalismus kostet
Das Schweizer Gesundheitssystem weist einige Parallelen zum österreichischen auf. Ein Blick über die Grenze. (Pharmaceutical Tribune 03/2018)
Wenn es um Reformen im Gesundheitssystem geht, dann blickt man in Österreich mitunter über die Landesgrenzen hinaus. Deutschland etwa wird oft als Vergleich herangezogen, als vorbildhaft werden immer wieder die skandinavischen Länder genannt, als abschreckende Beispiele gelten England oder Griechenland. Ein Land allerdings taucht selten in solchen Diskussionen auf, obwohl dessen Gesundheitssystem frappante Ähnlichkeiten mit dem österreichischen aufweist: die Schweiz. „Das Schweizer Gesundheitssystem ist ähnlich gelagert wie unseres“, betont Univ.- Prof. Dr. Herwig Ostermann, Geschäftsführer der Gesundheit Österreich GmbH (GÖG): „Viele Dinge lassen sich eins zu eins umlegen.“ Ähnlich wie Österreich verfügt die Schweiz – gemäß OECD und dem European Health Consumer Index – über ein sehr gutes, aber auch sehr teures Gesundheitssystem. „In den vergangenen Jahren sind die Kosten weiter stark angestiegen. Die wirtschaftliche Belastung der Haushalte hat nun ein Ausmaß erreicht, das die Regierung zu Maßnahmen zwingt“, fasst Univ.-Prof. Dr. Bernhard J. Güntert, MHA, Lehrender an der Privaten Universität im Fürstentum Liechtenstein sowie Vertreter des Krankenversicherungsverbandes curafutura, die aktuelle Lage in seinem Heimatland zusammen, die durchaus Ähnlichkeiten mit der österreichischen aufweist.
Viele Töpfe
Das ist nicht die einzige Parallele. So wie das österreichische leidet das Schweizer Gesundheitssystem an einer gemischten Finanzierung. Für den ambulanten Bereich sind die Krankenversicherungen zuständig, für den stationären Bereich die Kantone (zu 55 Prozent) und die Krankenversicherungen (zu 45 Prozent), dem Bund bleiben die Kompetenzen für Prävention und Gesundheitsförderung. Statt mit neun Bundesländern hat es die eidgenössische Gesundheitspolitik jedoch mit 26 Kantonen zu tun. „Der Föderalismus erschwert die Problemlösung in der ambulanten und stationären Versorgung“, erklärte Güntert bei einem Vortrag in der GÖG. Oder weniger diplomatisch ausgedrückt: „Die Kantone schießen alles ab, was ihre Autonomie einschränkt. Föderalismus kostet und verhindert viel.“ Vor allem lassen sich die Kantone ihre Spitäler nicht nehmen. Sogar der Kanton Appenzell Innerrhoden mit 16.000 Einwohnern besteht auf einem kantonseigenen Krankenhaus. Folglich gibt es in der Schweiz bei einer ähnlichen Einwohnerzahl wie Österreich nicht weniger als 288 Spitäler, wobei dazu auch 50 Reha-Einrichtungen gerechnet werden.
MITGEZÄHLT
19.748 Apotheken gab es Ende 2017 in Deutschland, das entspricht einem Rückgang um 275 Apotheken gegenüber 2016. Damit wurde der tiefste Stand seit dem Jahr 1987 erreicht.
162 Milliarden Euro will Indiens Regierung nach eigenen Angaben in das „größte geförderte Gesundheitsprogramm der Welt“ stecken. Das Geld soll 100 Millionen der ärmsten Familien Indiens eine bessere Gesundheitsversorgung ermöglichen.
Einen ähnlichen Wildwuchs gibt es bei den Krankenkassen: 52 Krankenversicherungen gibt es in der Schweiz – und auch die wehren sich gegen sinnvolle Reformen. Eine sogenannte Volksinitiative – ein Instrument der direkten Demokratie in der Schweiz – welche die Schaffung einer Einheitskrankenkasse für alle Bürger anstrebte, scheiterte vor zehn Jahren sowohl an den Kantonen als auch an den Kassen. Zwar besteht in der Schweiz offiziell der Konsens, möglichst viele Leistungen vom stationären in den ambulanten Bereich zu verschieben, doch auch diese Bestrebungen werden von den Kassen blockiert, wie Güntert erläutert: „Weil der ambulante Bereich von den Krankenkassen finanziert wird, haben diese kein Interesse daran, dass Leistungen dorthin verschoben werden.“
Managed Care
Es gibt aber auch große Unterschiede zwischen dem Schweizer und dem österreichischen Gesundheitssystem. Einer davon ist die weite Verbreitung von Managed Care. Darunter versteht man ein Steuerungsmodell, das die freie Arztwahl zugunsten von geplanten, vertraglich geregelten Abläufen eingeschränkt. Versicherte können sich einem Managed-Care-System freiwillig anschließen und gehen dabei die Verpflichtung ein, sich im Krankheitsfall immer an einen vorgegebenen Arzt zu wenden. Im Gegenzug erhalten die Versicherten – je nach Modell – einen Prämienrabatt von bis zu 20 Prozent. Rund 60 Prozent der Versicherten in der Schweiz sind in ein Managed-Care-Modell eingeschrieben. Ermöglicht wird dies dadurch, dass es in der Schweiz keine Pflichtversicherung gibt, sondern eine Versicherungspflicht. Das heißt, jeder Bürger muss sich krankenversichern, kann sich aber die Versicherung frei aussuchen. Die niedergelassenen Ärzte waren anfangs von Managed Care alles andere als begeistert. „Doch als sie feststellten, dass sie diese Entwicklung nicht aufhalten können, haben sie ihre Strategie geändert“, erzählt Güntert: Sie bildeten Ärztenetze und riefen eigene Managed-Care- Modelle ins Leben. Lange habe es für die Schweiz keine entsprechenden Daten gegeben, mittlerweile jedoch sei die Wirksamkeit solcher Modelle bei chronischen Krankheiten bezüglich Qualität und Wirtschaftlichkeit wissenschaftlich beweisen, bekräftigt der ehemalige Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Public Health.
Privat statt Staat
Ein weiterer Unterschied zwischen Österreich und der Schweiz ist die fortschreitende Privatisierung des Gesundheitssystems. „Die aktuelle politische Konstellation fördert Marktmechanismen und die Kommerzialisierung des Gesundheitswesens“, erklärt Güntert. 159 der 288 Schweizer Krankenanstalten sind Aktiengesellschaften, häufig sind diese Teil einer ganzen Krankenhauskette. Auch der niedergelassene Bereich steht Unternehmen offen. So gibt es zum Beispiel einen niederländischen Investor, der seit zwei Jahren Landarztpraxen aufkauft und dort Ärzte anstellt. „Ich bin mir aber nicht sicher, ob dieses Geschäftsmodell lange hält“, gibt Güntert zu bedenken. „Die Probleme der jeweiligen Gesundheitssysteme sind in verschiedenen Ländern ähnlich“, resümiert der ehemalige Professor der Privatuniversität UMIT in Hall in Tirol: „Die Lösungsansätze unterscheiden sich jedoch aufgrund geografischer, politischer und gesellschaftlicher Voraussetzung zum Teil erheblich.“
Das eidgenössische Apothekensystem
Die Schweizer Apotheken haben ein breiteres Aufgabenspektrum als die österreichischen. Das Apothekenwesen ist zwar kantonal reguliert, doch in der Schweizer Gesundheitspolitik ist es Konsens, dass die Apotheken den niedrigschwelligen Zugang zum Gesundheitssystem sicherstellen sollen. So bieten viele Apotheken die Möglichkeit einer Telekonsultation mit dem Arzt. Dabei können Patienten – kostenpflichtig, aber ohne Voranmeldung – in der Apotheke medizinische Beratung einholen. Bei 25 Indikationen kann der Apotheker entscheiden, ob er ein Medikament direkt abgibt, per Telefon einen Telemediziner hinzuzieht oder ob er den Patienten an eine andere Stelle überweist.
Seit 2015 dürfen Apotheker in 18 von 26 Kantonen impfen. Rund ein Drittel aller Schweizer Apotheken bietet bereits Impfungen an, etwa 1.050 Apotheker haben bislang die dafür notwendige Ausbildung absolviert. Umgekehrt dürfen schon seit Langem Ärzte – in 14 Kantonen – Medikamente direkt an Patienten verkaufen. Die pharmaSuisse, die Dachorganisation der Schweizer Apotheker, kritisiert die ärztliche Selbstdispension.
Reibungslos hingegen funktioniert die Zusammenarbeit zwischen Apothekern und Ärzten auf dem Gebiet der Qualitätssicherung. Seit einigen Jahren gibt es Qualitätszirkel, bei denen sich Apotheker und Ärzte drei- bis viermal pro Jahr treffen und die Verschreibungspraxis besprechen. Die Apotheker bringen dabei die aktuellsten Entwicklungen und Erkenntnisse aus dem Pharmabereich ein.
In den 26 Kantonen der Schweiz gibt es derzeit rund 1.790 Apotheken. Obwohl keine Niederlassungseinschränkungen bestehen, wird der Markt nicht, wie beispielsweise in Großbritannien, von einigen wenigen großen Ketten kontrolliert. Es gibt größere und kleinere Apothekenketten, unabhängige Apotheker und kettenähnliche Kooperationen. Sehr beliebt ist mit einem Marktanteil von 57 Prozent das Modell der Apothekenkooperation. In einem solchen Modell ist der Apotheker nach wie vor Inhaber seiner Apotheke, die Mitglieder der Kooperation präsentieren sich aber mit einem gemeinsamen Marktauftritt.