Eine drohende Weihnachts-Katastrophe
Sie machen einen vorweihnachtlichen Spaziergang, als plötzlich neben Ihnen etwas gewaltig scheppert.
Sie trauen Ihren Augen kaum, als Sie vor sich die Kutsche mit dem Weihnachtsmann sehen. Er sieht tatsächlich so aus, wie man ihn sich vorstellt. Ein ausladender Bauch, ein recht rotes Gesicht und den langen weißen Rauschebart. Allerdings scheint es ihm nicht gut zu gehen. Sein Gesicht ist schmerzverzerrt, und als er sich an Sie wendet, schafft er es nur mühsam, seine Stimme klar sprechen zu lassen. „Helfen Sie mir! Diese Schmerzen!“ dabei zeigt er auf seinen linken Thorax. „Ich kann jetzt nicht ausfallen, in zwei Tagen ist Heiliger Abend, und ich habe noch unheimlich viel zu tun!“ Leider haben Sie Ihre Arzttasche nicht mit, aber können Sie dem Weihnachtsmann dennoch helfen, dass er den Heiligen Abend gut übersteht und wenn ja, wie? Oder bahnt sich eine weihnachtliche Katastrophe an? (ärztemagazin 23/2016)
„Nach dem ersten Schreck leuchten gleich mehrere Differenzialdiagnosen auf“
Doz. Dr. Bernhard Angermayr,
FA f. Innere Medizin & Gastreonterologie und Hepatologie, Leiter von ärzte im zentrum, St. Pölten, www.angermayr.com
Nach dem ersten Schreck (was macht bitte ein Weihnachtsmann bei uns in Österreich?) und dem Ausschluss einer Halluzination meinerseits (soweit das bei aller Selbstreflexion möglich ist) leuchten bei mir am Weihnachtshimmel mehrere Differenzialdiagnosen des akuten Thoraxschmerzes hell und klar auf: Akuter Myocardinfarkt, Aortendissektion, Pulmonalembolie, Pneumothorax, vertebrogener Schmerz und funktionelle Herzbeschwerden. Möglich wäre auch eine Stress-Kardiomyopathie (Tako-Tsubo-Syndrom), welche den Symptomen eines akuten Koronarsyndroms gleicht, denn Stress hat er ja derzeit genug. Unwahrscheinlicher ist eine Pleuritis, und noch unwahrscheinlicher ist eine traumatische Ursache: Wenn ihn sein Rentier getreten hätte, hätte er dies ziemlich sicher erwähnt.
Beruhigend finde ich, dass in der Fach- und Weltliteratur bis dato kein Fall bekannt ist, dass der Weihnachtsmann altern oder gar sterben kann. Das sage ich ihm auch (dieser Umstand war ihm offenbar nicht bewusst), was zu seiner Beruhigung beiträgt und die Symptome lindert. Jedenfalls behandle ich ihn genauso wie jeden anderen auch. Ich bin kein Freund von VIP-Behandlungen. Klar ist: Der Weihnachtsmann braucht so rasch wie möglich ein Spital mit der Möglichkeit einer akuten Koronarangiografie. Auch wenn es mich reizen würde, mit seinem Schlitten selbst zum Hubschrauberlandeplatz eines Spitals zu fliegen, bleibe ich am Boden der Realität. Die Arzttasche habe ich zwar nicht mit, jedoch ein Handy, mit dem ich unverzüglich den Notarzt rufe.
Um sicherzustellen, dass der Notarzt auch wirklich kommt, unterlasse ich es zu erwähnen, um welchen Patienten es sich handelt. Bis zum Eintreffen des Notarztes bleibe ich beim Weihnachtsmann und wünsche mir von ihm, dass er nicht reanimationspflichtig wird. Nach Eintreffen des Notarztes verabschiede ich mich und habe wieder ein gutes Argument mehr für das Christkind statt dem Weihnachtsmann: Kinder haben de facto nie die Symptome eines akuten Thoraxschmerzes!
„Die Diagnose scheint auch mir als Fauenärztin klar: ein Herzinfarkt droht“
Univ.-Prof. Dr. Doris Maria Gruber,
FÄ. f. Frauenheilkunde und Geburtshilfe, Wien
Meine Überraschung ist selbstverständlich groß, den Weihnachtsmann 2 Tage vor Weihnachten in so einem schlechten Zustand mitten im Wald bei meinem Adventspaziergang zu begegnen. Das glaubt mir niemand! Nicht einmal mein Sohn, ach wäre er doch mitgegangen. Nun ist rasches Handeln gefragt. Als Frauenärztin haben ich mit kranken Männern nicht wirklich viel zu tun und dann noch DER Weihnachtsmann. Die Diagnose scheint auch mir klar zu sein: ein Herzinfarkt droht, die klinische Symptomatik ist typisch dafür. Auch die Physiognomie des Weihnachtsmannes (abdominale Adipositas und nicht mehr der Jüngste) sowie der sicherlich schon seit Wochen anhaltende Stress prädisponieren für solch ein Geschehen.
Zum Glück befindet sich der Weihnachtsmann noch in seinem goldenen Schlitten und ist nicht herausgefallen. Ich versuch ihn zu beruhigen, fühle seinen Puls, gebe ihm eine Aspirin Akut, das ich immer bei mir habe und versuche ihn in eine transportfähige Lage zu bringen. Dabei müssen die bereits im hinteren Abteil des Schlittens gestapelten Geschenke ausgeladen und leider an Ort und Stelle zurückgelassen werden. Die vorgespannten Rentiere sind sehr willig und gehorchen zum Glück auch meinen Anweisungen.
So starten wir los zum Emergency Room des nächst gelegenen Krankenhauses. Die Fahrt ist zügig und ich muss sagen, wäre nicht ein Notfall an Bord, könnte ich mir eine längere Spritztour vorstellen. Aber die Zeit drängt. Wir landen rasch und natürlich ohne telefonische Voranmeldung in der Notfallaufnahmen. Auch dort ist das Erstaunen groß. Ich versuche alle Zweifel an der Echtheit des Patienten zu zerstreuen, berichte, wie ich den Patienten vorgefunden habe und über mein – zugegebenerweise – erst minimales ärztliches Einschreiten. Aber der Weihnachtsmann hat den Umständen entsprechend die Fahrt gut überstanden und wird mit der Verdachtsdiagnose Myokardinfarkt sofort fachgerecht behandelt. Ich mache mich verwundert über das, was ich gerade erlebt habe, auf den Heimweg. Zu Hause erzähle ich meine Erlebnisse meinem Sohn, und wir beschließen noch am selben Abend dem Weihnachtsmann einen Krankenbesuch abzustatten.
„Ohne lange Anamnese Notruf betätigen! Der Patient kommt ins Krankenhaus“
Univ.-Prof. Dr. Heinz Weber,
FA f. Innere Medizin, Kardiologie, Wien, www.cardio-weber.at
Ein „Weihnachtsmann“ erleidet (menschliche) Thoraxschmerzen (TS), die er nicht mehr „erdulden“ kann. Er wird zum „Patienten“, der zufällig auf mich, einen Arzt, bewaffnet mit Einkäufen, ohne Stethoskop, Arzttasche etc. trifft. Es ist kalt, windig und anstrengend. Das kommt uns nur allzu bekannt vor! Daher „back to the roots“, die fünf Sinne und den Hausverstand einsetzen, „Küchenmedizin“ ist angesagt: Liegt ein lebensbedrohlicher Zustand vor oder ist „nur“ die Lebensqualität temporär beeinträchtigt? Für Ersteres gilt, aus der Katastrophen-Medizin kommend, „Worst First“!
Ich denke an einen akuten Herzinfarkt (AMI, ca 20.000/J) oder seltener an ein Aneurysma dissecans (AD, ca 250/J). Alle anderen TS sind zwar unangenehm, beeinträchtigen die Lebensqualität, bedrohen aber üblicherweise nicht akut das Leben. Also ohne lange Anamnese Notruf betätigen! Der Patient kommt ins Krankenhaus. EKG, Enzyme (CK-MB und Troponin), rasch verfügbar, differenzieren den STEMI, den Non-STEMI. Wenn notwendig wird eine Akut-Angiografie mit Intervention durchgeführt. „Zeit ist (Herz-)Muskel!“ So das von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich funktionierende Konzept zur AMI-Akutversorgung. Sind die Enzyme negativ und das EKG unauffällig, so lohnt sich eine nochmalige, exakte EKG-Analyse: z.B. (kürzlich gesehen) koronar negative T nur in Ableitung AVL.
Auch ein komplett normales EKG schließt einen AMI trotz negativer Enzyme (z.B. zu früh abgenommen?) nicht vollständig aus: Eine teuflische Falle ist die „Pseudo-Normalisierung“ koronar negativer Ts in BWAs während Stenokardien (sog. „Spurious improvement“), die außerhalb des Anfalls infarkttypisch koronar negativ sind! Wenn kein akutes koronares Ereignis vorliegt, TS bei negativem EKG und Enzymen auftreten, so unbedingt an ein dissezierendes Aorten-Aneurysma (AD) denken! Es macht u.A. infarktähnliche TS. Daher unverzüglich CT oder Thorax MR mit der Frage nach einem AD durchführen! Bei rechtzeitigem Erkennen wird es heute überaus erfolgreich operiert!
Alle anderen Zustände von TS sind akut kaum bedrohlich und können im Krankenhaus fast immer ausreichend abgeklärt werden: Von einer entzündlichen Pleuritis/Perikarditis über (häufig!) den Bewegungsapparat als Ursache bis zur Panikattacke. Im Vordergrund unseres Denkens muss der Grundsatz „Worst First“ stehen, mit dem Ziel, ein akut lebensbedrohliches Ereignis auszuschließen! Der ökonomische Druck darf nicht unser ärztlich gerechtfertigtes Handeln bestimmen!