18. Juni 2024Möglicherweise seltener als gedacht

Absetzsymptome bei Antidepressiva

Darüber, wie häufig Absetzsymptome bei Antidepressiva sind, gab es bislang nur wenig belastbare Daten. Eine großangelegte Übersichtsarbeit zeigt: Rund ein Drittel der Patientinnen und Patienten ist in Studien von Absetzsymptomen betroffen. In der Praxis treten die Beschwerden aufgrund der gängigen Vorgangsweise, Antidepressiva sukzessive zu reduzieren, möglicherweise noch seltener auf.

Laut einer neuen Metastudie leidet rund ein Drittel der Patienten beim Absetzen von Antidepressiva unter Symptomen. In der Praxis könnten Absetzsymptome sogar noch seltener sein.
Rick H./stock.adobe.com
Laut einer neuen Metastudie leidet rund ein Drittel der Patienten beim Absetzen von Antidepressiva unter Symptomen. In der Praxis könnten Absetzsymptome sogar noch seltener sein.

Die Übersichtsarbeit mit Metaanalyse im Journal Lancet Psychiatry hat 76 Veröffentlichungen mit insgesamt 79 Studien und rund 21.000 Patientinnen und Patienten untersucht, die entweder mit Antidepressiva oder Placebo behandelt wurden.1

Die Ergebnisse im Überblick:

  • Im Schnitt litten 31% darin über alle Medikamentenklassen hinweg unter Absetzsymptomen, und damit weniger als bisher oft angenommen.
  • Auch von den mit Placebo behandelten Patientinnen und Patienten berichteten 17% über Absetzsymptome. Um pharmakologisch bedingte Beschwerden dürfte es sich also bei rund 15% der Betroffenen handeln.
  • Am häufigsten traten die Absetzsymptome unter anderem mit Venlafaxin und Escitalopram ab, am seltensten mit SSRI wie Fluoxetin, Sertralin.

Warum die Häufigkeit von Absetzsymptomen möglicherweise überschätzt wurde

Antidepressiva werden vor allem zur Behandlung von Depressionen verschrieben, aber auch bei anderen psychischen Erkrankungen wie Angst- und Zwangsstörungen eingesetzt. In der Regel werden diese Medikamente ergänzend zu einer Gesprächstherapie verschrieben. Die Medikamente werden dabei meist nicht permanent eingenommen, sondern mit Verbesserung der Symptomatik abgesetzt.

Darüber, wie häufig dabei Absetzsymptome auftauchen, gab es bisher noch beträchtliche Unklarheit aus den bislang verfügbaren Studien. So lieferten etwa Untersuchungen, die auf internetbasierten Umfragen basierten, möglicherweise fälschlich hohe Symptomraten unter den Betroffenen. Das könnte an einem sogenannten Selektions-Bias liegen: Wer unter Symptomen leidet, nimmt vielleicht eher an einer solchen Umfrage teil.

Schwindel, Kopfweh, Reizbarkeit

Setzen Patientinnen und Patienten ein Antidepressivum ab, können Symptome auftreten, die typischerweise innerhalb von rund 2–3 Tagen nach dem Absetzen einsetzen und meist innerhalb von 2–6 Wochen von selbst wieder verschwinden.

Bekannt sind derzeit mehr als 40 mögliche Symptome, darunter:

  • Grippe-ähnliche Beschwerden (z.B. Kopfschmerzen)
  • Schlafstörungen (z.B. Ein- oder Durchschlafprobleme, Albträume)
  • Übelkeit und Erbrechen
  • Schwindel, Störungen des Gleichgewichts oder Benommenheit
  • Sinnesstörungen (z.B. ein Gefühl von Stromschlägen)
  • Übererregung (z.B. Angst, Reizbarkeit, Unruhe)

Anlässlich einer Pressekonferenz erklärt der Studienleiter Prof. Dr. Christopher Baethge, Universität Köln, den vermuteten pathologischen Mechanismus hinter diesen Problemen: „Nimmt man etwa einen Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) ein, erhöht sich das verfügbare Serotonin im synaptischen Spalt. Darauf stellt sich das Gehirn ein und reduziert die Anzahl der Serotoninrezeptoren. Nimmt man nun den SSRI nicht mehr ein, kann genau diese körpereigene Adaptation zu Absetzsymptomen führen.“

Ist der Wirkstoff vollständig aus dem Körper verschwunden, kehren sich die Prozesse um den Serotoninhaushalt allerdings sukzessive wieder um und die Absetzsymptome verschwinden.

Studien mit 21.000 Erkrankten geprüft

Darüber, wie häufig beim Absetzen von Antidepressiva tatsächlich Symptome auftreten, gab es bisher keinen wissenschaftlichen Konsens (siehe Kasten).  Die vorliegende Studie wollte diese Lücke nun schließen und prüfte insgesamt 6.100 Abstracts und 340 Publikationen auf ihre Relevanz zu dieser Fragestellung.

Als relevant erachteten die Forscher insgesamt 76 Publikationen mit 79 Studien, die rund 21.000 Erkrankte umfassten. Das Kollektiv bestand aus Personen, die an einer psychischen Störung, einer Verhaltensstörung oder einer neurologischen Entwicklungsstörung litten.

80% dieser Probanden waren mit einem Antidepressivum behandelt, 20% mit einem Placebo. Bei den meisten der Teilnehmer handelte es sich um Frauen (72%), das Durchschnittsalter belief sich auf 45 Jahre.

Rund ein Drittel hatte Absetzsymptome

In ihrer Studie fanden die Autorinnen und Autoren, dass 31% der Teilnehmer, über alle Wirkstoffklassen von Antidepressiva hinweg, Symptome beim Absetzen entwickelten. Unter Placebo waren es jedoch ebenfalls 17%. „Das legt nahe, dass lediglich rund 15% der Absetzerscheinungen pharmakologisch bedingt waren. Einer von sechs bis sieben Patientinnen und Patienten hat also wohl spezifische Absetzsymptome“, so Prof. Baethge.

Die nicht pharmakologisch bedingten Symptome resultieren laut den Forschenden unter anderem aus dem Nocebo-Effekt. Dabei handelt es sich um die Erwartungshaltung, dass das Absetzen des Antidepressivums unangenehme Symptome mit sich bringt.

Unter schweren Absetzerscheinungen litten in den Wirkstoffgruppen zusammengenommen 2,8%, in den Placebogruppen waren es durchschnittlich 0,6%.

Fluoxetin und Sertralin lösten die wenigsten Absetzbeschwerden aus

Außerdem untersuchte die Studie, wie häufig Absetzbeschwerden bei den unterschiedlichen Wirkstoffen auftraten. Am häufigsten wurden Symptome dabei mit den Wirkstoffen Imipramin, Venlafaxin und Escitalopram beobachtet. Alle 3 lösten Absetzerscheinungen bei rund 40% der Patienten aus. Am unteren Ende waren Fluoxetin, Sertralin und Citalopram angesiedelt (15–19% Absetzerscheinungen).

Das könnte möglicherweise an der langen Halbwertszeit von SSRI wie Fluoxetin liegen, erklärt Prof. Baethge. In diesen Fällen vollzieht sich das Absetzen aufgrund der langen Retentionszeit im Körper wahrscheinlich über mehrere Wochen.

Keine belastbaren Daten fanden die Forschenden bei Wirkstoffen wie Bupropion, Mirtazapin und Amitryptilin. „Über diese Medikamente können wir gar nichts sagen“, sagt Prof. Baethge.

Mit der Dauer, wie lange die Wirkstoffe eingenommen wurden, hatte das Auftreten der Symptome nichts zu tun. „Wir nehmen an, dass, wenn man den Wirkstoff einmal für 4–12 Wochen eingenommen hat, die Prävalenzen für Absetzerscheinungen danach ähnlich sind, egal wann man absetzt“, so Prof. Baethge.

Kritik zur praktischen Relevanz

Im Zuge eines Statements zur Studie lobt Prof. Dr. Erich Seifritz, Direktor und Chefarzt Erwachsenenpsychiatrie und Psychotherapie, Psychiatrische Universitätsklinik Zürich, zwar, dass die Autorinnen und Autoren das in der Öffentlichkeit als widersprüchlich aufgefasste Thema aufgegriffen haben, sowie dessen sorgfältige wissenschaftliche Bearbeitung.

Er kritisiert aber, dass die im Alltag üblicherweise angewendete Praxis, Antidepressiva schleichend abzusetzen, in den in der Metaanalyse untersuchten Studien kaum berücksichtigt wurde.

Ärztinnen und Ärzte wären sich hingegen dessen bewusst, dass das abrupte Absetzen zu Symptomen führt. „Aus diesem Grund setzen erfahrene Kliniker Antidepressiva in der Regel langsam und auf die individuelle Situation der Patientin oder des Patienten angepasst ausschleichend ab, wenn das Medikament nicht mehr notwendig ist, nicht genügend gut wirkt, Nebenwirkungen erzeugt oder wenn es aus anderen Gründen abgesetzt werden soll“, sagt Prof. Seifritz.

Absetzvorgang in der Praxis individuell an den Patienten angepasst

„Das langsame Ausschleichen verhindert in der klinischen Praxis bei den meisten Patientinnen und Patienten Absetzphänomene. Dies wurde in der Meta-Analyse von Henssler et al. zum Teil zwar berücksichtigt, dennoch bestehen klare Unterschiede zur praktisch klinischen Situation.“

Das Absetzen würde in der klinischen Realität etwa individuell an den Patienten angepasst – was im Setting der in der Metastudie untersuchten Studien nicht einging, wo das Absetzen entweder abrupt durchgeführt wurde oder die Reduktion der Medikamentendosis einem vordefinierten Schema folgte.