Die Radiomics-Revolution

Maschinelles Lernen und Data-Mining machen es zusehends möglich, dass Diagnosen anhand radiologischer Bilder von Computerprogrammen erstellt werden. Radiologen versprechen sich viel von Radiomics, wie dieses neue Feld genannt wird. Allerdings stellt sich die Frage, ob die Radiologen dadurch irgendwann überflüssig werden. (CliniCum 4/17)

„Ich habe immer davon geträumt, Dr. House zu sein“, seufzt Prof. DDr. Osman Ratib im Scherz. Der Vorstand der Abteilung für Nuklearmedizin und Molecular Imaging am Universitätsspital Genf weiß sehr wohl, dass kein echter Mediziner je an die Fähigkeiten des TV-Serienarztes herankommen kann: „Eine riesige Zahl von Fällen im Kopf zu haben und aus diesen Informationen bei einem kniffligen Fall die richtige Diagnose abzuleiten übersteigt die menschlichen Möglichkeiten.“

Datenbanken analysieren

Woran der Mensch scheitert, das könnte in Zukunft der Computer leis­ten: aus riesigen Datenmengen implizites Wissen zu extrahieren. Menschen können das angesichts der Menge der zu untersuchenden Datenmengen nicht mehr tun, sehr wohl aber Computerprogramme. In der Radiologie laufen bereits die ersten Versuche, aus Bilddatenbanken mittels Data-Mining und maschinellem Lernen medizinische Erkenntnisse zu gewinnen. Das neue Feld, in dem durch die Analyse von quantitativen Bildmerkmalen in großen medizinischen Bilddatenbanken statistische Aussagen über Gewebeeigenschaften, Diagnosen und Krankheitsverläufe getroffen werden sollen, wird Radiomics genannt. „Radiomics bedeutet eine Revolution“, lässt Ratib seiner Euphorie freien Lauf: „In den vorliegenden Daten schlummern Informationen, die nur der Computer herausholen kann.“

An Datenmaterial mangelt es nicht. In den IT-Systemen der Krankenhäuser sind enorme Mengen an radiologischen Bildern gespeichert, die für radiomische Untersuchungen herangezogen werden könnten. Es gibt auch eine Reihe von Biobanken, in denen nicht nur Proben menschlicher Körpersubstanzen (z.B. Gewebe, Zellen, DNA, Proteine, Blut oder andere Körperflüssigkeiten) gesammelt werden, sondern auch radiologische Bilder. Die größten in Europa sind die britische UK Biobank mit den Daten von 500.000 Probanden und die Datensammlung der deutschen NAKO-Gesundheitsstudie mit 200.000 Teilnehmern.

Maschinelles Lernen

Was man mit solchen Daten anfangen kann, zeigt ein Schweizer Forschungsprojekt. „In den Archiven der Universitätsspitäler Zürich und Basel befinden sich riesige Mengen an CT-Befunden – und auf den meisten sind Knochen zu sehen“, schildert Dr. Kevin S. Mader vom Institut für Biomedizinische Technik der Eidgenössischen Technische Hochschule (ETH) Zürich. Gemeinsam mit den beiden Krankenhäusern hat Mader ein analytisches Tool entwickelt, mit dem sich aus einer Vielzahl von CT-Bildern aus unterschiedlichen Quellen und von unterschiedlicher Qualität Rückschlüsse auf das Osteoporoserisiko ziehen lassen. Grundlage waren lediglich 179 Bilder von 60 unterschiedlichen Patienten. „Wir arbeiten mit Big-Data-Methoden, aber gute Ergebnisse lassen sich bereits mit vergleichsweise wenigen Bildern erzielen“, sagt Mader.

Zur Analyse der Bilder wurde eine Methode der künstlichen Intelligenz verwendet: ein neuronales Netzwerk, bei dem das Zusammenspiel von Neuronen im Gehirn simuliert wird und das in einer Menge gegebener Daten Muster und Gesetzmäßigkeiten erkennen kann. Neuronale Netzwerke sind eine Form des sogenannten maschinellen Lernens: Ein künstliches System lernt aus Beispielen und kann diese nach Beendigung der Lernphase verallgemeinern. Die Spracherkennung am Smartphone oder der Spam-Filter des E-Mail-­Programms zum Beispiel basiert auf maschinellem Lernen. Nach demselben Prinzip funktioniert auch das von Mader und seinem Team entwi­ckelte Tool: Ein Radiologe färbte CT-Aufnahmen entsprechend ein, und das System leitete daraus von sich aus quantitative Knocheninformationen ab.

Organe identifizieren

Das Potenzial von maschinellem Lernen ist Gegenstand einer ganzen Reihe von Forschungsprojekten. Am Imperial College London zum Beispiel wird ein System namens MALIBO (MAchine Learning In whole Body Oncology) entwickelt, das in Zukunft vollautomatisch Tumore in Ganzkörper-Magnetresonanztomografien erkennen soll. Bislang hat das System anhand von Ganzkörper-MRTs freiwilliger gesunder Versuchspersonen gelernt, Organe und deren Einzelteile zu identifizieren. Zuerst markierten Radiologen auf den MRT-Bildern die zu erkennenden Strukturen und benannten sie. Danach war das System in der Lage, selbstständig an neuen Ganzkörper-MRTs Organe und deren Einzelteile zu identifizieren. Mittlerweile ist das ehrgeizige Forschungsprojekt in die zweite Phase eingetreten, wo es bereits um die Erkennung von Primärtumoren geht. „Wir haben schon einige gute Ergebnisse beim Kolorektalkarzinom erzielt“, berichtet Dr. Amandeep Sandhu Meng, MBBS, einer der am Projekt beteiligten Radiologen.

Überleben vorhersagen

Auf dem Europäischen Radiologenkongress (ECR 2017), der Anfang März in Wien stattfand, wurden auch zahlreiche andere derartige Projekte präsentiert. Forscher der Universitätsmedizin Mainz zum Beispiel entwickelten einen Algorithmus, um anhand von präoperativen 3D-CT-Scans das Überleben von Patienten nach einer Lebertransplantation vorherzusagen. Das Programm konnte mit einer Treffsicherheit von 80 Prozent richtig deuten, welche Patienten nach dem Eingriff länger als ein Jahr überleben und welche nicht – ohne dass den Wissenschaftlern klar wurde, nach welchen Kriterien das Programm bei seiner Vorhersage vorging. „Es ist ein bisschen wie eine ­Kristallkugel: Wie wissen nicht wie – aber es funktioniert“, erklärt Dr. Da­niel Pinto dos Santos, Leiter der Forschungsgruppe Radiology Image and Data Science (radIDS).

An der Universität von Valencia (Spanien) wurde ein Algorithmus entwi­ckelt, mit dem auf CT-Aufnahmen von Wirbelsäulen einzelne Wirbelkörper identifiziert und charakterisiert werden. Trainiert mit 200 verschiedenen Aufnahmen gesunder und kranker Wirbelsäulen, bewertete das Programm ihm unbekannte neue Fälle zu 95 Prozent korrekt. „Das ist ein exzellenter Wert“, betont Dr. Ana Jiménez Pastor, eine am Projekt beteiligte Telekommunikationsexpertin. Italienische Forscher haben ein computergestütztes Entscheidungssys­tem (CAD) evaluiert, das Läsionen auf MRT-Aufnahmen der Brust detektieren soll. Von 3.735 Schnittbildern wurden 192 als auffällig bewertet, darunter waren 102 falsch positive und vier falsch negative. „Dieser gute negative Vorhersagewert würde es erlauben, mit dem CAD-System aus einer großen Menge an Fällen jene Mammae herauszufiltern, die keiner weiteren Untersuchung bedürfen“, erklärt Dr. Michele Telegrafo von der Abteilung für diagnostische Bildgebung der Aldo-Moro-Universität in Bari.

Am Universitätsspital Basel schließlich wurde eine Software namens „PACS Crawler“ entwickelt, die bei zufällig ausgewählten CT-Aufnahmen aus dem Bildarchiv des Krankenhauses die Knochendichte errechnete und aus diesen Daten selbstständig Schlüsse zog. „Wie erwartet leitete das Programm aus den CT-Bildern ab, dass die Knochendichte bei Frauen im Alter stärker zurückgeht als bei Männern“, berichtet Dr. Thomas J. Re, MSEE, forschender Radiologe am Universitätsspital Basel.

Zukunft der Radiologie

Die Auswirkungen der automatisierten Bilderkennung auf die Radiologie werden unter Radiologen kontroversiell diskutiert. Auf fast jedem Kongress findet sich mittlerweile eine Sitzung, die sich mit der bangen Frage beschäftigt: „Wird der Computer die Radiologie übernehmen?“ Einige bejahen diese Frage. „Der Computer wird die Radiologen ablösen“, ist Prof. Dr. Wiro Niessen, Professor für Biomedical Image Processing an der Erasmus Universität Rotterdam, überzeugt. „Alles, was der Mensch kann, kann eine künstliche Intelligenz besser“, bekräftigte er am 33. Treffen der Europäischen Gesellschaft für Magnetresonanz in Medizin und Biologie (ESMRMB), die im Herbst des Vorjahres in Wien stattfand: „Die Algorithmen werden immer besser, und es gibt keinen Grund zur Annahme, dass diese Entwicklung plötzlich aufhört.“

Dr. Adrian Dixon, emeritierter Professor für Radiologie an der Universität von Cambridge, zeigt sich hingegen skeptisch. Kein Computerprogramm könne das in der diagnostischen Radiologie praktizierte und bei komplexeren Diagnosen unabdingbare Teamwork von Radiologen, Physikern und Röntgentechnikern ersetzen. Auch wenn man in der Bildgebung von gängigen Standards abweichen müsse, stoße der Computer an seine Grenzen. Als Beispiel nennt er traumatologische Patienten, die wegen möglicher Halswirbelverletzungen nicht bewegt werden dürfen und deren Wirbelsäule daher nur aus ungewöhnlichen Winkeln begutachtet werden kann. Und beim Abdomen-Imaging zum Beispiel gebe es überhaupt keinen Standard, betont Dixon: „So etwas wie ein ,normales‘ Abdomen-CT gibt es überhaupt nicht.“❙

„Machine Learning in image interpretation“, ECR 2017, Wien 1.3.17

„Man versus machine in Radiology: the computer will take over“, 33. Annual meeting of the European Society of Magnetic Resonance in Medicine and Biology, Wien 30.9.17