11. Juli 201850 Jahre Medical Tribune

Imposante Aufholarbeit der Humangenetik

Die österreichische Humangenetik ist heute mit einer Top-Versorgung und international anerkannten Forschung gut aufgestellt. Trotz der Spätzündung – infolge des unheilvollen Nationalsozialismus erst 1969 – gelang eine atemberaubende Entwicklung zum Wohle der Patienten. (Medical Tribune 26/18)

Von 5.262 (!) monogenen Krankheiten ist inzwischen der dahinterliegende Gendefekt bekannt.

In Österreich, wie auch in Deutschland, hat die Entwicklung der Humangenetik aufgrund der unheilvollen Umsetzung von wissenschaftlich nicht fundiertem eugenischen Gedankengut während des Nationalsozialismus nicht nur einen herben Rückschlag erlitten, sondern war bis in die späten 1960er Jahre in Misskredit, sodass kein Interesse an dem vermeintlich heißen Eisen Humangenetik bestand. Heute ist die Bedeutung des Faches Humangenetik unbestritten, basiert doch eine Vielzahl von monogenen Krankheiten auf genetischen Veränderungen, 5.262 davon mit inzwischen bekanntem Gendefekt (OMIM). Bei komplexen Erkrankungen sind genetische Ursachen ebenfalls in unterschiedlichem Ausmaß beteiligt. Mittels verschiedener Methoden, von der klinischen Untersuchung über biochemische, zytogenetische (Chromosomen-) bis zu molekulargenetischen, das gesamte Genom umfassenden Labortests, werden genetische Ursachen von Erkrankungen entschlüsselt.

Zunächst Physiologen

Bemerkenswert ist, dass humangenetische Institutionen an Österreichs Universitäten aus Instituten für Medizinische bzw. Allgemeine Biologie hervorgingen, also keine Neugründungen waren, und in Graz und Innsbruck anfangs von Physiologen geleitet wurden. Als erste derartige Einrichtung wurde 1969 an der Medizinischen Fakultät der Universität Graz ein Institut für Medizinische Biologie und Humangenetik etabliert (Leitung bis 1995: Univ.-Prof. Dr. Walter Rosenkranz, seit 2006: Univ.-Prof. Dr. Michael Speicher). 1972 wurde an der Universität Innsbruck das Institut für Medizinische Biologie und Genetik gegründet, 1981 erfolgte die Eröffnung der Humangenetischen Untersuchungs- und Beratungsstelle (Leitung bis 1983: Univ.-Prof. Dr. Hans Schröcksnadel, 1984–2008: Univ.-Prof. Dr. Gerd Utermann, ab 2008: Univ.- Prof. Dr. Johannes Zschocke).

Im Rahmen der Umsetzung des UG 2002 wurde an der neu entstandenen Medizinischen Universität Innsbruck das Institut für Medizinische Biologie und Humangenetik mit dem Institut für Biochemische Pharmakologie zu einem Department fusioniert und in Sektionen gegliedert. Damit bildeten die beiden forschungsstärksten Institute der Medizin Innsbruck eine Einheit mit Synergien, z.B. bei der Klärung der genetischen und biochemischen Grundlagen des Smith- Lemli-Opitz-Syndroms, eines „metabolischen Malformations-Syndroms“. Neben der Sektion Humangenetik mit dem Zentrum Medizinische Genetik ging aus dem Institut die Sektion Genetische Epidemiologie als erste derartige Einrichtung in Österreich und die Sektion für Zellgenetik hervor. An der Universität Wien wurde 1995 das Institut für Allgemeine Biologie an der Medizinischen Fakultät in ein Institut für Humangenetik umgewandelt und ausgebaut (Leitung bis 2010: Univ.-Prof. Dr. Christa Fonatsch, ab 2010: Univ.-Prof. Dr. Markus Hengstschläger).

Versorgen und forschen

Allen drei Institutionen oblag als Versorgungsauftrag die klinisch-genetische Betreuung von Patienten und ratsuchenden Familien. Die Patientenversorgung umfasste die Genetische Beratung, Syndromologie, prä- und postnatale Zytogenetik (Chromosomenanalyse z.B. bei Kindern mit Fehlbildungen, gehäuften Aborten, Infertilität, Jugendlichen mit ausbleibender Geschlechtsentwicklung), Tumorzytogenetik sowie ab den 1980ern die molekulargenetische Diagnostik (PCR, DNA-Sequenzierung etc.). An den drei universitären humangenetischen Einrichtungen wurde und wird schwerpunktmäßig Forschung in unterschiedlichen Bereichen der Humangenetik betrieben. In Wien lagen die wissenschaftlichen Schwerpunkte bei der zytogenetischen und molekulargenetischen Leukämie-Forschung (im European Leukemia Net oblag dem Institut die Leitung der Zytogenetik) sowie bei der molekulargenetischen Analyse von Tumordispositions-Syndromen, wie den Neurofibromatosen, und erblichem Darmkrebs.

Beide innovativen Forschungsgebiete wurden am Institut für Humangenetik in Wien für Österreich erstmalig und exklusiv etabliert und erfolgreich betrieben. Die Untersuchung von Mikrodeletionen, Trinukleotidamplifikationen, uniparentaler Disomie und Imprinting als Ursache genetischer Syndrome stellte ein weiteres Drittmittel- gefördertes Forschungsgebiet dar. In Innsbruck erfolgte Forschung in zwei Bereichen: zum einen auf dem Gebiet der Genetik komplexer Erkrankungen, insbesondere des Fettstoffwechsels und der Atherosklerose. Hierbei wurde erstmals die heute als „Mendelian Randomization“ bezeichnete Strategie entwickelt und angewandt. Zum anderen wurden in Zusammenarbeit mit anderen Instituten und Kliniken die molekularen Ursachen zahlreicher monogener Erkrankungen (u.a. Smith-Lemli-Opitz-Syndrom, Retina-Dystrophie, Syndromale kongenitale Natrium-Diarrhö, Microvillus Inclusion Disease) aufgeklärt.

In Graz standen Meiosestudien an männlichen Ratten, Mäusen und dem Chinesischen Hamster im Vordergrund der wissenschaftlichen Tätigkeit, ferner die Entwicklung und Erprobung neuer Chromosomendarstellungsmethoden an Lymphozyten- und Fibroblasten- Metaphasen. 1996 erfolgte die Etablierung der Österreichischen Gesellschaft für Humangenetik (ÖGH). Wissenschaftliche Beiträge werden seit 2000 jährlich, vornehmlich von Jung-Humangenetikern und -innen, aus allen österreichischen Humangenetik-Institutionen präsentiert. Dem gestiegenen Ansehen der österreichischen Humangenetik ist es auch zu verdanken, dass der nur alle vier Jahre stattfindende Internationale Kongress für Humangenetik 2001 unter Mithilfe der ÖGH in Wien ausgerichtet wurde.

ÖGH-Erfolg: FA für Genetik

Seit 2001 wird alljährlich in Salzburg eine Syndrom-Club-Tagung abgehalten, die der Vorstellung und Diskussion ungeklärter, genetisch bedingter Krankheitsbilder dient. Ein Erfolg der ÖGH war die Einführung des in anderen Ländern bereits existenten Facharztes für Medizinische Genetik am 1. Jänner 2007 gegen erhebliche Widerstände. Trotz der verzögerten Entwicklung des Faches wurde in den meisten Bereichen, sowohl die Diagnostik als auch die Forschung betreffend, imposante Aufholarbeit geleistet. An den universitären Standorten Graz, Wien und Innsbruck existieren heute in Forschung und genetischer Versorgung leistungsstarke humangenetische Institutionen. Im Rahmen der Patientenversorgung werden an den medizinisch-genetischen Einrichtungen der Universitäten genetische Beratungen, zytogenetische und molekularzytogenetische (FISH, Array-CGH) Labordiagnostik, Tumorzytogenetik und molekulargenetische Labordiagnostik bis zur massiv-parallelen Sequenzierung „next generation sequencing (NGS)“ durchgeführt.

Die Forschungsschwerpunkte der Grazer Humangenetik betreffen die Erfassung von Biomarkern aus zirkulierenden Tumorzellen und Plasma- DNA („liquid biopsies“), z.B. bei Prostata- und Mammakarzinom, ferner Chromosomen-Instabilität bei Alterung und Krebs, Autismus-Gene. An der Innsbrucker Sektion für Humangenetik steht u.a. die Aufdeckung genetischer Ursachen bei Seltenen Erkrankungen („orphan diseases“) im Zentrum, wobei Schwerpunkte in enger Zusammenarbeit mit Kollegen vor Ort auf den erblichen Stoffwechselstörungen sowie erblichen Krankheiten von Bindegewebe, Zähnen und Haut liegen. Die molekulare Onkogenetik am Institut, eine in Österreich zentrale Einrichtung, befasst sich mit Tumordispositions-Syndromen wie Neurofibromatosen, „Cancer Familiy“- Syndromen, erblichem Mammaund Kolonkarzinom.

Die Sektion für Genetische Epidemiologie (Leiter: Univ.-Prof. Dr. Florian Kronenberg) erforscht die Genetik komplexer Phänotypen (Lipoprotein- Stoffwechsel) bzw. Erkrankungen wie Arteriosklerose, Diabetes, metabolisches Syndrom mittels genomweiter Assoziationsstudien (GWAS), NGS und modernsten, tw. selbst entwickelten Methoden der Bioinformatik. Forschungsgebiete in Wien sind Stammzellen aus Fruchtwasser, Reproduktionsgenetik und Signaltransduktionswege bei genetischen Erkrankungen, insbesondere der Tuberösen Sklerose (Arbeitsgruppe Univ.-Prof. Dr. Markus Hengstschläger), bzw. das Rett-Syndrom, die molekulargenetische Aufklärung von „orphan diseases“ sowie Mikrotubulus- und Dynein- Gene (Gruppe Assoc. Univ.-Prof. Dr. Franco Laccone).

Weitere Einrichtungen

Humangenetische Forschung und Patientenbetreuung führen auch andere Einrichtungen durch (Auswahl):

  • Salzburg: PMU (Kinderklinik; Priv.-Doz. Dr. Dieter Kotzot), LKH (Dermatologische Klinik)
  • Linz: KUK (Inst. f. Med. Genetik, Prim. Univ.-Doz. Dr. Christoph Duba) in Kooperation mit Ordensklinikum BHS (Molekularbiologie, Tumorgenetik, Dr. Gerhard Webersinke)
  • Wien: Hanusch-Krankenhaus (Zentrum f. Med. Genetik, Prof. Dr. Gökhan Uyanik), CeMM (u.a. Immunologie)
  • Innsbruck: Pädiatrie I, Zellbiologie (u.a. kongenitale Enteropathien)

Insgesamt bietet die österreichische Humangenetik heute ein vielfältiges Bild mit einem breiten Angebot in der Patientenversorgung und international anerkannten Forschungsschwerpunkten!

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune