Drogen und Substanzkonsum: Es fehlt an validen Daten
Daten zum Ausmaß und zur Art des Substanzkonsums bei Jugendlichen sind in Österreich rar. Einen Überblick über aktuelle Trends präsentierte Assoc. Prof. Priv.-Doz. Dr. Katrin Skala, Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der MedUni Wien.
Take Home Messages
- Die erhöhte Sensibilität des Belohnungssystems, kombiniert mit den noch unreifen kognitiven Kontrollmechanismen, macht Jugendliche besonders anfällig für Substanzmissbrauch und Abhängigkeitserkrankungen.
- Die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf den Substanzkonsum und die psychische Gesundheit von Jugendlichen unterstreichen die Notwendigkeit einer adaptiven und reaktionsfähigen Gesundheitsversorgung.
- Die aktuelle Datenlage zeigt eine komplexe und dynamische Situation im Bereich des Substanzkonsums, insbesondere bei Jugendlichen. Während einige Trends, wie z.B. der Rückgang des Zigarettenkonsums, positiv zu bewerten sind, gibt es zunehmend Hinweise auf eine Verschiebung hin zu alternativen Konsumformen und eine Zunahme problematischer Konsummuster.
In einem Vortrag im Rahmen des Kinder- und Jugendpsychiatrie Kongress Innsbruck beleuchtete Assoc. Prof. Priv.-Doz. Dr. Katrin Skala, Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der MedUni Wien, Aspekte der adoleszenten Gehirnentwicklung und gab einen Rundblick auf die verfügbaren Daten in Zusammenhang mit Substanzkonsum bei Jugendlichen. Zwar sind die vorhandenen Daten sehr limitiert und in ihrer Aussagekraft begrenzt, dennoch ergibt sich aus der Zusammenschau der Daten ein Mosaik des aktuellen Substanzkonsums bei Jugendlichen.
Ein wesentlicher Punkt in der Betrachtung des jugendlichen Substanzkonsums ist die kulturelle Permissivität gegenüber bestimmten Substanzen, insbesondere Alkohol. Historische und kulturelle Darstellungen von Rauscherfahrungen spiegeln eine gewisse Akzeptanz wider. „Über Jahrhunderte schwelgt die Kunst in Darstellungen von Rauscherfahrung. Konsum und Rausch ist kulturimmanent und wird auch teils gutgeheißen und zelebriert“, so Skala einleitend. Zur Präzisierung der Diskussion ist es auch hilfreich, grundlegende Begrifflichkeiten zu definieren:
- Gebrauch: sinnvolle und zweckmäßige Verwendung von Substanzen oder Objekten
- Genuss: etwas gebrauchen, was nicht unbedingt notwendig ist, aber eine angenehme Wirkung hat
- Gewöhnung/Gewohnheit: aus ständiger Wiederholung des Verhaltens entstehend
- Missbrauch: Verwendung von Substanzen, die zu körperlichen, psychischen oder sozialen Schäden führt
- Abhängigkeit/Sucht: definiert als eine pathologische Interaktion zwischen einer Person und einer Substanz oder einem fixierten Verhaltensmuster.
In der klinischen Praxis ist die Unterscheidung zwischen Missbrauch und Abhängigkeit essenziell. Während Missbrauch durch die Symptome der Schädigung (physisch, psychisch und im DSM-IV auch sozial) gekennzeichnet ist, ohne dass eine Abhängigkeit vorliegen muss, ist die Abhängigkeit durch Faktoren wie Kontrollverlust, Entzugssymptome, Toleranzentwicklung, Vernachlässigung anderer Interessen und Konsum trotz negativer Konsequenzen definiert.
Das DSM-IV fügt im Gegensatz zum ICD-10 dem Kontrollverlust noch den Aspekt des Konsums in größeren Mengen bzw. „länger als geplant“ hinzu. Im ICD-11 wird eine Neugliederung der Diagnosekriterien in 3 Kategorien vorgenommen: psychologisch, physiologisch und sozial. Zusätzlich wird eine graduelle Einteilung der Abhängigkeit (leicht, mittelschwer, schwer) basierend auf der Anzahl der Symptome eingeführt. Dies stellt eine Abkehr von der binären Klassifikation des ICD-10 dar, in dem das Vorliegen von drei oder mehr Symptomen eine Abhängigkeitsdiagnose impliziert.
Neurobiologische Aspekte der Adoleszenz und Implikationen für das Suchtverhalten
In der Adoleszenz durchläuft das Gehirn bekanntlich signifikante Veränderungen, die sowohl Verhaltensweisen als auch die Anfälligkeit für Suchterkrankungen beeinflussen. Es kommt zu einem Abbau von Neuronen und einer gleichzeitigen Verstärkung von Synapsen und Vernetzung, wodurch die Effizienz des Gehirns gesteigert wird. „Die Art der Aktivitäten und Erfahrungen in dieser Lebensphase kann dauerhafte Auswirkungen auf die neuronale Struktur haben“, betont Skala.
Während dieser Entwicklungsphase erfahren Strukturen wie die Amygdala und der Hippocampus, welche maßgeblich an der Verarbeitung von Emotionen und Erinnerungen beteiligt sind, eine erhöhte Aktivierung. Diese Veränderungen führen zu einer intensiveren emotionalen Reaktion und einer erhöhten Empfindlichkeit gegenüber Umweltreizen. Eine Schlüsselrolle spielt auch der präfrontale Kortex, der für höhere kognitive Funktionen wie Gefahrenabschätzung, Entscheidungsfindung, Impulskontrolle und Reflexion verantwortlich ist. Dieser Bereich des Gehirns beginnt seine Reifung allerdings erst um das 16. Lebensjahr und erreicht seine volle Entwicklung meist Mitte 20. „Infolgedessen zeigen Jugendliche oft ein Verhalten, das durch geringere Impulskontrolle und Risikobewertung geprägt ist“, schlussfolgert Skala.
Das limbische System, das bereits in der Adoleszenz gut entwickelt ist, spielt ebenfalls eine zentrale Rolle in der emotionalen Verarbeitung. Die Amygdala als ein Teil des limbischen Systems ist eng mit dem Hirnstamm verbunden und verantwortlich für die emotionale Bewertung von Reizen, einschließlich Gefahr und Belohnung. Jugendliche zeigen eine erhöhte Sensibilität im Belohnungssystem des Gehirns, insbesondere in Strukturen wie dem ventralen tegmentalen Areal und dem Nucleus accumbens. Diese erhöhte Dopaminreaktion führt zu einer stärkeren Belohnungswahrnehmung und kann das Risiko für die Entwicklung von Suchtverhalten erhöhen.
„Die Kombination aus intensiveren emotionalen Reaktionen, einer noch unreifen kognitiven Kontrolle und den laufenden strukturellen Veränderungen im Gehirn macht Jugendliche besonders anfällig für Suchterkrankungen“, fasst die Kinder- und Jugendpsychiaterin zusammen. Substanzkonsum in dieser Lebensphase kann zusätzlich die Entwicklung des Gehirns negativ beeinflussen, insbesondere in Bereichen, die für Urteilsvermögen, Entscheidungsfindung und Impulskontrolle zuständig sind. „Das Verständnis der neurobiologischen Grundlagen der Adoleszenz ist daher entscheidend für die medizinische Betreuung und Prävention von Suchterkrankungen in dieser vulnerablen Bevölkerungsgruppe“, unterstreicht Skala. Es sei wichtig, diese Erkenntnisse in die klinische Praxis zu integrieren, um adoleszenten Patientinnen und Patienten effektiv zu helfen und langfristige gesundheitliche Folgen zu vermeiden.
Substanzkonsum und Dopamin
Dopamin, ein zentraler Neurotransmitter im Belohnungssystem des Gehirns, spielt eine Schlüsselrolle bei der Verstärkung angenehmer Erfahrungen und damit auch der Suchtentwicklung. Dieser Neurotransmitter ist besonders aktiv im mesolimbischen Belohnungskreislauf, der Verhaltensweisen verstärkt, die als angenehm empfunden werden. Die Wiederholung solcher Verhaltensweisen wird durch das angenehme Empfinden, welches durch die Dopaminausschüttung hervorgerufen wird, gefördert.
Der Konsum verschiedener Substanzen führt zu einer unterschiedlich starken Erhöhung des Dopaminspiegels. Beispielsweise erhöht ein Cheeseburger den Dopaminspiegel um etwa das 1,5-Fache, während Nikotin und Kokain diesen um das 2- bzw. über 4-Fache steigern können. Methamphetamin hingegen kann den Dopaminspiegel um das 11-Fache erhöhen. Diese massive Zunahme des Dopaminspiegels kann zu neurodegenerativen Veränderungen und dem Absterben von Neuronen führen. Bildgebende Verfahren zeigen deutliche Unterschiede in der Dichte der Dopaminrezeptoren zwischen gesunden Individuen und Personen, die Substanzen konsumieren. Bei Letzteren kann eine deutliche Reduktion der Rezeptordichte beobachtet werden, die sich jedoch im Laufe der Zeit nach Beendigung des Konsums teilweise erholen kann.
Substanzkonsum in der Adoleszenz
Substanzkonsum führt zu physischen Veränderungen in Gehirnarealen, die relevant sind für die Urteilsfähigkeit, Entscheidungsfindung, das Lernen und Gedächtnis sowie die Impulskontrolle. Substanzkonsum im Sinne eines sogenannten „Probierkonsums“ ist besonders verbreitet in der Adoleszenz, einer Lebensphase, in der das Überschreiten von Grenzen und das Experimentieren mit neuen Erfahrungen häufig vorkommen. Statistiken zeigen, dass der Beginn des Substanzkonsums meist in der Adoleszenz stattfindet und selten nach dem 30. Lebensjahr beginnt. Der Großteil (67%) konsumiert im Teenager-Alter zwischen 12 und 17 Jahren erstmals Cannabis; weniger als 6% erstmals nach 25 Jahren, kaum jemand mehr nach 30.
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Auswirkungen der Covid-19-Pandemie
„Die Covid-19-Pandemie hatte einen signifikanten Einfluss auf die psychische Gesundheit, insbesondere bei Jugendlichen und hier vor allem bei Mädchen. Psychiatrische Probleme und Suizidversuche nahmen deutlich zu“, berichtet Skala. Bezüglich Substanzkonsum wurde Anfang 2020 unisono ein leichter Rückgang beobachtet, gefolgt von einem Anstieg ab Juni 2020, „verursacht durch Stress und Isolation“. Skala berichtet über Daten aus den USA1–3, die einen Anstieg des Substanzkonsums um 13% beschreiben, eine Zunahme der Überdosierung und der Opioidmortalität um 18%. Diese Zunahme war vor allem bei Jüngeren auffällig. Weiters hat sich auch das Konsummuster verändert: Der Konsum erfolgte zumeist alleine (49%), mit Eltern (42%), mit Freunden online (32%) und mit Freunden face-to-face (24%). „Vor allem der Konsum alleine ist mit depressiver Symptomatik und Angstsymptomen assoziiert. Die Datenlage ist aber extrem inkonsistent“, unterstreicht Skala.
Die Inanspruchnahme von Hilfsangeboten im Bereich Substanzmissbrauch ist während der Covid-19-Pandemie gesunken. Dies ist teilweise darauf zurückzuführen, dass viele Einrichtungen während der Lockdowns geschlossen waren oder eingeschränkte Dienste anboten. Auffällig ist ein Anstieg des funktionalen Konsums, bei dem Substanzen gezielt zur Erzielung bestimmter Wirkungen, wie Entspannung oder Stressbewältigung, eingenommen werden. „Dieser Konsumtyp ist besonders bedenklich, da er häufig zu Abhängigkeitserkrankungen führt“, warnt Skala. Eine kleinere Online-Untersuchung der MedUni Wien (6/23) zeigte in der Allgemeinbevölkerung stabilen Konsum. „Das stimmt allerdings nicht mit unseren klinischen Beobachtungen überein. Ein großes Problem ist die mangelnde systematische Erfassung von Daten bezüglich minderjähriger Substanzkonsumenten. Die Statistik Austria bietet keine homogenisierten Daten, und die vorhandenen Informationen sind oft lückenhaft oder nicht aussagekräftig.“
Hinsichtlich der aktuellen Datenlage gibt es zwei relevante, umfangreiche Studien: die HBSC (Health Behaviour in School-aged Children, 2022)4 und die ESPAD (European School Survey Project on Alcohol and Other Drugs, 2019)5. Beide Studien werden zyklisch alle vier Jahre durchgeführt. Die neuesten Ergebnisse der HBSC-Studie aus dem Jahr 2022 liefern interessante Einblicke, auch wenn sie weniger detailliert sind als die ESPAD-Studie und neben Substanzkonsum auch allgemeine Gesundheitsverhaltensweisen erfassen. Die aktuelle Auswertung der ESPAD-Studie, die Daten aus dem Jahr 2023 präsentieren soll, werden im Frühjahr 2024 erwartet.
Überblick über aktuelle Trends
Die neuesten HBSC-Daten zeigen, dass der Alkoholkonsum unter Jugendlichen kontinuierlich zurückgeht, sowohl hinsichtlich der Lebenszeitprävalenz als auch der durchschnittlichen Konsummenge pro Konsumereignis. Mädchen nähern sich in ihrem Konsumverhalten zunehmend den Jungen an, wobei aber insgesamt ein Rückgang zu verzeichnen ist. Europaweit zeigt sich nach wie vor ein unterschiedliches Bild: Während in Skandinavien der Alkoholkonsum aufgrund strengerer Regulierungen niedrig ist, zählt Österreich zu den Ländern mit einem verhältnismäßig hohen Alkoholkonsum.
Seit 2019 zeigt sich ein deutlicher Rückgang im Zigarettenkonsum, während alternative Nikotinprodukte wie E-Zigaretten und Wasserpfeifen an Popularität gewinnen. Jüngste Daten weisen ebenfalls auf eine Verschiebung im Konsumverhalten hin, mit einem Anstieg bei nicht-traditionellen Nikotinprodukten wie Nikotin-Pouches. Während der Zigarettenkonsum bei männlichen Jugendlichen und älteren Konsumentinnen und Konsumenten abnimmt, zeigt sich auch hier bei weiblichen Jugendlichen ein gegenläufiger Trend.
Besorgniserregend ist der tendenzielle Anstieg des Konsums von Cannabis bei unter 14-Jährigen, der nachhaltige und potenziell irreversible Auswirkungen auf das Gehirn haben kann. Bezüglich geschlechtsspezifischer Unterschiede zeigt sich eine Stabilisierung des Konsums bei Frauen, während bei männlichen Jugendlichen ein Rückgang zu verzeichnen ist.
In den letzten Jahren wurde ein Anstieg in der Benzodiazepin-Abhängigkeit, vor allem bei jungen Mädchen, beobachtet: „Wir haben in der Klinik verhältnismäßig viele Mädchen im Vergleich zu früher, die Sedativa nehmen bzw. mit effektiver Benzodiazepin-Abhängigkeit. Das habe ich vor 5 Jahren vielleicht einmal pro Jahr gesehen. Jetzt habe ich 3 Anfragen pro Woche. Hier gibt es aber eine Diskrepanz zwischen dem klinischen Erleben eines drastischen Anstiegs und den Untersuchungen der Allgemeinbevölkerung mit stabilem bzw. rückläufigem Konsum“, erklärt Skala.
Vulnerabilität: Wer wird abhängig?
„Jugendliche konsumieren oft aus Gründen wie sozialer Zugehörigkeit, Experimentierfreude oder als Ausdruck von Rebellion, und das gehört zur Adoleszenz“, meint Skala. Problematischer wird es allerdings, wenn der Konsum als Bewältigungsstrategie für Stress, Entwicklungsstörungen oder zur emotionalen Regulation dient. Besorgniserregende Muster sind regelmäßiger, hochdosierter oder funktionaler Konsum, insbesondere in Kombination mit anderen Substanzen. Problematisches Konsumverhalten ist:
- Regelmäßiger, häufiger Konsum
- Konsum hoher Dosen
- Funktioneller Konsum – Selbstmedikation
- Mischkonsum
Für die Verhinderung von problematischen Konsummustern und Abhängigkeit sollte der Fokus auf die Motive (wozu, warum) und die Umstände des Konsums (wo, wann, wie oft, wie viel, mit wem) gelegt werden. Ziele der Suchtprävention sollten u.a. das Hinauszögern des Einstiegs in den Substanzkonsum sein, z.B. indem das Jugendschutzgesetz konsequent umgesetzt wird.
Abschließend betont Skala, dass es einen großen Bedarf an robusten Daten gibt: „Um wirksame Präventionsmaßnahmen zu entwickeln, ist eine solide Datenbasis erforderlich, um das Ausmaß und die Art des Substanzkonsums zu verstehen. Wir brauchen Investitionen in Prävention und Frühintervention.“
Quelle: „Substanzkonsum bei Jugendlichen, Standortbestimmung und Zukunftsperspektiven“, Vortrag im Rahmen des Kinder- und Jugendpsychiatrie Kongress Innsbruck, Innsbruck, 26.1.2024
- Lundhal LH, Cannoy C, Pediatr Clin North Am. 2021; 68(5):977–990
- Sarvey D, Welsh JW, J Subst Abuse Treat 2021; 122:108212
- Chaffee BW et al., JAMA Pediatr 2021; 175(7):715–722
- Health Behaviour in School-aged Children (HBSC) 2022
- European School Survey Project on Alcohol and Other Drugs (ESPAD) Report 2019