CIRSmedical: „Wir arbeiten gerade an Liste für ‚Never Events‘ mit“
Die Schweiz und Deutschland haben sie schon: eine Liste mit „Never Events“, sprich schwerwiegenden Fehlern, die nie passieren dürften. Warum das auch Österreich angeht, erklären Dr. Artur Wechselberger und Eva Gartner vom CIRSmedical-Team. Und sie bilanzieren, was das (Beinah-)Fehler-Meldesystem schon bewirkt hat – samt Aufruf, mehr zu melden. Denn, so der Tenor, jeder Fehler zählt und man muss nicht jeden Fehler selbst machen.
medonline: Seit wann gibt es das Critical Incident Reporting System „CIRSmedical“ in Österreich und was war der Auslöser – gab es ein Schlüsselerlebnis?
Artur Wechselberger: Das Schlüsselerlebnis schlechthin nicht nur für uns in Österreich, sondern generell auf der interessierten Welt war die Publikation „To Err is Human“ in den USA im Jahr 2000. Man ist draufgekommen, dass medizinische Behandlungsfehler die achthäufigste Todesursache in den USA sind, 44.000–98.000 Menschen sterben jährlich daran. Innerhalb der EU sind allein durch die nosokomialen Infektionen, die durch den breitflächigen Antibiotika-Einsatz ein großes Problem in Krankenhäusern darstellen, ungefähr 37.000 Todesfälle zu sehen, in Österreich ca. 2.400. Also eine große Menge, die eigentlich dem Wesen eines Gesundheitssystems und der Gesundung von Menschen zuwiderläuft. In Deutschland gibt es seit 2005 und in der Schweiz seit 2006 CIRS-Systeme und somit war es eine logische Folge, dass im Jahr 2009 der Vorstand der Österreichischen Ärztekammer (ÖÄK) beschlossen hat, auch ein Fehler- und Beinah-Fehler-Meldesystem in Österreich einzurichten und dieses auch zu finanzieren. Ich war von Anfang an dabei und bin nicht unstolz darauf, als am 1. April 2009 dieser Vorstandsbeschluss gefasst wurde und danach in Zusammenarbeit u.a. mit dem Bundesinstitut für Qualität im Gesundheitswesen (BIQG), dem Gesundheitsministerium sowie Patientenvertretern die – an Deutschland angelehnte – Plattform www.cirsmedical.at im November 2009 freigeschalten wurde.
2009 waren Sie ÖÄK-Vizepräsident, gab es auch ein persönliches Schlüsselerlebnis, warum Sie sich für CIRS engagieren?
Wechselberger: Vermutlich meine allgemeinmedizinische Herkunft und mein Interesse am Qualitätsmanagement. Einige Jahre davor habe ich schon mitverfolgt, wie die Allgemeinmedizin in Deutschland das sinnvolle System „Jeder Fehler zählt“ ins Leben gerufen hat. Neben großem Verständnis seitens des ÖÄK-Vorstandes war Mag. Rita Offenberger, MSc, Juristin der ÖÄK, maßgeblich an der Einführung des Systems beteiligt.
Frau Gartner, Sie sind seit 2007 in der ÖQMED (Österreichische Gesellschaft für Qualitätssicherung & Qualitätsmanagement in der Medizin) tätig und leiten u.a. den Bereich CIRSmedical. Was ist hier die Aufgabe der ÖQMED?
Eva Gartner: Wir sind verantwortlich für den gesamten Prozess hinter einem Bericht und einem Leserkommentar, sprich alles, was auf CIRSmedical veröffentlicht wird. Jeder eingehende Bericht ist technisch komplett anonym und wird zunächst an eine interne Expertengruppe geschickt, welche die Inhalte auf Relevanz prüft und Fachgebiete für eventuelle Expertisen bekanntgibt. Aktuell setzt sich unser Expertenpool aus rund 200 Expertinnen und Experten aus dem gesamten Gesundheitswesen zusammen, welche Lösungsvorschläge oder Verbesserungsmaßnahmen zum Bericht ausführen. Sobald eine Stellungnahme an die ÖQMED retourniert wurde, wird der Bericht inklusive der Expertise an das BIQG zur Freigabe weitergeleitet. Erst wenn wir die Prozessfreigabe haben, schalten wir den Bericht auf CIRSmedical.at frei.
Eva Gartner, Leitung CIRSmedical, ist seit 2007 in der ÖQMED (Österreichische Gesellschaft für Qualitätssicherung & Qualitätsmanagement in der Medizin) tätig und übernahm nach diversen Ausbildungen und Lehrgängen u.a. als ausgebildete Risikomanagerin die Leitung der Bereiche CIRSmedical, Barrierefreiheit, Brustkrebs-Früherkennungsprogramm und A-OQI Qualitätszirkel.
Was hat es mit den 24 Meldegruppen auf sich, die beim GÖG-Colloquium „Aus Fehlern lernen – Melden ist Ehrensache“ am 22.11.2023 thematisiert wurden?
Gartner: Es gibt einerseits das System CIRSmedical.at, das für alle Beschäftigten im Gesundheitswesen öffentlich zugänglich ist und daneben die erwähnten 24 CIRSmedical-Meldegruppen. Diese sind ein Duplikat von CIRSmedical und haben den Vorteil, dass die Meldegruppe z.B. nur in einem Krankenhaus verwendet wird und auch nur intern einsehbar ist. Das heißt, wenn hier ein unerwünschtes Ereignis berichtet wird, weiß das Haus oder die Organisation wie z.B. das Rote Kreuz, dass dieser Vorfall vor Ort gescehen ist, und kann gezielt reagieren. Beim öffentlichen CIRS haben die Häuser die Möglichkeit, unerwünschte Ereignisse nachzulesen, ob so ein Vorfall auch bei ihnen passieren könnte, und die Prozesse anzupassen bzw. besonders beispielhafte Fälle in das österreichweite System zu übermitteln.
Seit Beginn wurden 880 unerwünschte Ereignisse und 633 Leserkommentare veröffentlicht. Wie hat sich das im Laufe der Jahre entwickelt, sind es mehr geworden, auch im Vergleich mit anderen Ländern?
Gartner: Es ist die letzten Jahre ziemlich gleichgeblieben und liegt im Durchschnitt bei 5 Berichten im Monat. Der Vergleich mit anderen Ländern ist schwierig: Die Schweiz hat kein offenes System so wie wir, sondern ein nur intern zugängliches. Das System in Deutschland ist ident zu dem in Österreich, jedoch bereits länger aktiv und flächenmäßig wesentlich größer.
Wechselberger: Die jährlichen Einmeldungen sind zwar sehr konstant, sind aber immer wieder angestiegen, wenn etwas zu CIRSmedical.at, etwa in der Österreichischen Ärztezeitung (ÖÄZ), größer publiziert wurde, und dann leider wieder auf das alte Niveau gefallen. Die Meldefrequenz schwankt also leider immer noch mit der aktuellen Aufmerksamkeit, die Publikationen hervorrufen.
Dr. Artur Wechselberger, Referent für Qualitätssicherung und Qualitätsmanagement der Österreichischen Ärztekammer (ÖÄK), Vertreter der ÖÄK in den Gremien der ÖQMED, ist Allgemeinmediziner mit Additivfach Geriatrie sowie Gesundheitswissenschaftler und war von 1990 bis 2022 Präsident der Ärztekammer für Tirol, von 2007 bis 2012 erster ÖÄK-Präsident und von 2012 bis 2017 ÖÄK-Präsident.
Das heißt, es sollte schon viel mehr gemeldet werden?
Wechselberger: Ja, deswegen danke auch für Ihr Interesse! Seit Jahren bemühen wir uns, das System bekannt zu machen. Und zwar so bekannt, dass man es auch nutzt, wenn es nicht gerade ein öffentliches Thema ist. Zudem haben wir das System auch für Nicht-Gesundheitsberufe aufgemacht – das ist ein Unterschied zu Deutschland und zur Schweiz. Bei uns kann jede Person einmelden, der im Gesundheitswesen etwas auffällt. Schließlich fallen auch Patientinnen und Patienten und Begleitpersonen kritische Situation auf. Wir wollen, dass jeder besonders bei den Beinahe-Fehlern an CIRSmedical.at denkt und sich die Mühe macht, das Frageformular im System auszufüllen. Die Kenntnis über ein Fehler-Meldesystem ist auch ein Punkt in der gesetzlichen Qualitätsevaluation von Arztpraxen. So wie Fehlermeldesysteme in den Krankenhäusern implementiert worden sind, wollen wir, dass das auch im niedergelassenen Bereich genutzt wird.
Gehen wir ins Detail: Wer berichtet und was wird am häufigsten berichtet?
Gartner: Hauptsächlich werden unerwünschte Ereignisse im Zusammenhang mit Kommunikation berichtet (45%). An 2. Stelle, mit 30%, stehen die persönlichen Faktoren, die „human factors“. Sei es, weil ein Patient/eine Patientin verwechselt wurde oder ein Medikament, auch weil viele Verpackungen ähnlich aussehen oder Medikamentennamen gleich klingen. Am häufigsten berichten Ärztinnen und Ärzte mit 55%, gefolgt von Pflegepersonal mit 22% und 7% andere Gesundheitsberufe wie z.B. Apothekerinnen und Apotheker. 2% der Meldungen kommen von Patientinnen und Patienten oder Angehörigen.
Können Sie Beispiele für typische häufige Fälle bringen?
Wechselberger: Typische häufige Fälle sind Verwechslungen von Personen: Im Krankenhaus liegen 2 Personen mit ähnlichem oder gar demselben Namen im gleichen Zimmer und es wird ein Medikament der falschen Person gegeben. Oder jemand bekommt das Rezept einer anderen Person. Häufig sind auch Fehler in der Kommunikation, man hat z.B. einen Übertragungsfehler im Dokumentationsbereich, im Arztbrief. Oder eben Verwechslungen von Medikamenten, weil sie, wie Frau Gartner schon gesagt hat, ähnlich ausschauen oder einen ähnlich klingenden Namen haben.
Apropos Dokumentation: Es ist schon lange die Rede davon, die elektronische Fieberkurve flächendeckend einzusetzen, zuletzt wieder bei einer ÖÄK-Enquete in Linz. Aber es gibt in vielen Spitälern noch immer die handschriftliche Version, die ja fehleranfällig ist, oder?
Wechselberger: Die Handschriftlichkeit hat in der Informationsweitergabe im Gesundheitswesen hoffentlich bald ausgedient. Wir haben mehrere problematische Dinge bei den Fieberkurven: Das eine ist eben die Handschriftlichkeit, das andere, davon oft abgeleitet, ist die Nichtnachvollziehbarkeit, wer den Eintrag gemacht hat. Und wir sehen immer wieder auch Systembrüche: Man versucht, von der Handschriftlichkeit in die digitale Form zu übertragen, wo wieder Übertragungsfehler passieren. Die elektronische Fieberkurve ist sicherlich ein wesentliches Thema der Zukunft, das auch dazu führen sollte, dass viele Fehler wegfallen. Wir haben es jetzt bei den Rezepten schon sehr weitgehend geschafft. Vor 30 Jahren waren das handgeschriebene Rezept und die graphologische Finesse der Apothekerinnen und Apotheker, herauszufinden, welches Medikament eigentlich gemeint ist, eine potenzielle Fehlerquelle. Heute ist das maschinengeschrieben, elektronisch erfasst und unmissverständlich lesbar.
Gibt es Beispiele, wo CIRS-Meldungen nachweislich Erfolge gebracht haben?
Gartner: Ja, z.B. bei den Etiketten von Ketanest® und Cyclokapron®. Wir haben ein paarmal gemeldet bekommen, die Ampullen sind nebeneinander im OP-Bereich gelegen und haben leicht zu Verwechslungen geführt. Daraufhin haben wir uns mit der Pharmafirma zusammengesetzt und es wurde tatsächlich eine Etikettenfarbe geändert, um hier zumindest das „look alike“ etwas besser sichtbar zu machen!
Wechselberger: CIRS ist ja auf der einen Seite eine Meldemöglichkeit, auf der anderen Seite ist es unser Bemühen, dieses generierte Wissen weiterzugeben, damit es auch zur Fehlervermeidung umgesetzt wird. Wir bewerben das System, haben immer wieder Artikel in der ÖÄZ, erstellen regelmäßig einen Newsletter und bedienen uns der sozialen Medien. Seit Jahren verfassen wir E-Learning-Artikel, die auch für die ärztliche Fortbildung und zum Erwerb von DFP-Punkten approbiert sind. Auch einen Podcast zum Thema CIRS produzieren wir. Grundsätzlich geht auch um eine veränderte Denkeinstellung: Vieles von CIRS soll einfach für Patientensicherheit sensibilisieren und einen offenen Umgang mit Fehlern vorantreiben. Also Dinge nicht unter den Teppich zu kehren, zu wissen, dass die Frage immer sein muss, was ist passiert und nicht: Wer hat das gemacht? Uns interessieren Strategien, wie man Fehler nicht mehr macht. Und die Bewusstseinsbildung zu einer neuen Fehlerkultur: Wo Menschen arbeiten, passieren leider Fehler, auch im Gesundheitswesen. Niemand ist fehlerfrei. Ein Fehler darf einmal passieren, aber kein zweites Mal und es muss nach jedem Fehler eine Strategie entwickelt werden, diesen Fehler in Zukunft zu vermeiden. Ein wichtiger Punkt ist, Wissen und Erfahrungen aus Fehlern an alle anderen im Gesundheitsbereich, denen ein ähnlicher Fehler passieren könnte, weiterzugegeben, um ein Auftreten des Fehlers zu verhindern. Das ist die große Idee, die über den Einzelfällen steht.
Sie sprechen die „Never Events“ an, also Fehler, die nie passieren dürften. Können Sie da Beispiele nennen?
Wechselberger: „Never events“ sind Fehler mit schwerwiegenden Folgen, die deshalb nie passieren dürften, weil es gute Verhinderungsmechanismen gibt, z.B. eine OP-Checkliste. Diese listet auf, welche Vorsichtsmaßnahmen getroffen werden müssen, um sicher zu sein, dass die richtige Person an der richtigen Seite oder am richtigen Organ operiert wird. Solche Checklisten sind nahezu in allen OPs in Österreich etabliert. Dazu gehört auch das „Team-Time-Out“: Bevor der Operateur oder die Operateurin den ersten Schnitt setzt, werden vom Checklistenkoordinator einige wichtige Fragen gestellt: Wer ist der Patient bzw. die Patientin, stimmt die Identität? Wer ist der Operateur/die Operateurin – das Operationsteam? Welcher Eingriff ist vorgesehen? Sind kritische Situationen zu erwarten, alle notwendigen Vorkehrungen getroffen? Nach Abarbeitung des Fragenkatalogs kann man mit nahezu 100%iger Sicherheit davon ausgehen, dass nichts verwechselt wird. Eine Patientenverwechslung wäre also ein klassisches „Never Event“: Denn es gibt gute Möglichkeiten, die man nur einhalten muss, um die Fehlerwahrscheinlichkeit gegen null zu bringen.
Gibt es eine Liste, wo man solche „Never Events“ bzw. einfache Strategien nachschauen kann?
Wechselberger: An dieser Liste arbeiten wir jetzt. Es gibt „Never Events“-Analysen und -Strategien aus den USA und Kanada, die dann über England nach Europa gekommen sind. In der Schweiz gibt es bereits eine „Never Event“-Liste, in Deutschland wurde die APS-SEVer-Liste (die seit Kurzem APS-Never-Event-Liste heißt) erstellt und in Österreich ist die Erstellung solch einer Liste derzeit in Konzeption und Abstimmung.
Kann man diese Listen schon ansehen?
Wechselberger: Ja, man kann sie schon herunterladen (NeverEvents_Auflistung_DE_211117.pdf (patientensicherheit.ch) und https://www.aps-ev.de/wp-content/uploads/2023/09/APS-Never-Event-Liste.pdf). In Österreich werden wir eine den Schweizern angepasste Liste erstellen. Es handelt sich hierbei um ein breit angelegtes Projekt unter der Führung der Plattform Patientensicherheit, um in Österreich den Ausdruck „Never Events“ bekannt zu machen, zumal es einen Unterschied zu CIRS gibt. CIRS ist für Beinahe-Fehler und Fehler gemacht, aber bei „Never Events“ geht es ausschließlich um schwere Fehler, für die es Vermeidungsstrategien gäbe. Wenn wir CIRSmedical.at entsprechend der Schweizer Liste durchsuchen, finden wir in etwa 2% der Fälle „Never Events“. Solche Fehler sind also auch im CIRS eingemeldet, ohne dass der Ausdruck „Never Events“ bekannt ist.
Seit dem Frühjahr 2022 gibt es eine Kooperation mit Deutschland. In einem ersten Fallpaket wurden 5 Fälle aus Deutschland bei uns auf CIRS veröffentlicht, wie z.B. Verwechslung von Blutröhrchen wegen Namensähnlichkeit. Gibt es neue Fälle, die für Österreich interessant sind?
Gartner: Im März 2022 haben wir diese Kooperation ins Leben gerufen, da Deutschland genau das gleiche System verwendet wie wir. Mittlerweile haben wir 16 Berichte aus Deutschland, die bei uns auf der CIRS-Seite – gekennzeichnet mit einer Deutschlandfahne – aufscheinen, z.B. einen Bericht über erhöhtes Fehlerpotenzial aufgrund der neu eingeführten elektronischen Patientenakte. Oder eine fehlerhafte Vorbereitung einer Schmerzpumpe – also alles Berichte, die rein theoretisch auch bei uns vorfallen können oder für Österreich relevant sind.
Unter den Podcasts gibt es auch eine Folge zu „Second victims“. Ärzte, Ärztinnen oder andere Gesundheitsberufe machen Fehler ja nicht zufleiß, können aber darunter leiden bzw. Schuldgefühle haben, also „zweites Opfer“ sein – selbst wenn der Fehler oft im System liegt. Was raten Sie Betroffenen, wie sie den Schritt schaffen, etwas zu melden oder überhaupt darüber zu sprechen und nicht lieber zu schweigen, auch aus Angst vor Folgen?
Wechselberger: Die „Second Victim“-Problematik ist ein lautes Signal, dass es im Gesundheitssystem einen Kulturwandel braucht. Wenn im Krankenhaus XY ein tatsächlicher oder vermeintlicher Fehler passiert ist, entschuldigt sich die Geschäftsführung des Hauses in der Regel bei den Betroffenen und teilt oft lapidar mit, dass die Ärztin oder der Arzt suspendiert wurde. Ein Schutzmechanismus für die Einrichtungen, die Betroffenen werden im Regen stehen gelassen. Nicht selten kommt nach bisweilen monatelangen Suspendierungen heraus, dass es ein systemischer Fehler war, nachdem ein rein persönliches Fehlverhalten selten ist. Trotz dieses Systemfehlers empfinden Betroffene – allein schon als Folge einer Art Vorverurteilung – das Geschehene als persönliches Versagen. Unsere Aufgabe ist es, am Kulturwandel mitzuwirken, damit die betroffenen Personen vom Dienstgeber entsprechende Unterstützung erhalten, indem er sich hinter sie stellt. Für manche werden kollegiale Gespräche reichen, für manche wird reichen zu wissen: Ja, mein Dienstgeber weiß, welch eine wertvolle Arbeit ich leiste und dass das nicht ein persönliches Versagen war. Auch für meine berufliche und existentielle Sicherheit ist gesorgt. Anderen soll zudem therapeutische Hilfe wie etwa Supervision angeboten werden, um solche Dinge aufzuarbeiten.
Auch von Fehlern betroffenen Patientinnen und Patienten ist es oft ein Anliegen, dass daraus gelernt wird, damit es anderen nicht so ergeht. Wenn sie das aber ansprechen, wird das oft sofort negiert. Was würden Sie Patientinnen und Patienten raten, die nur etwas aufzeigen wollen, ohne dass Ärztinnen und Ärzte verständlicherweise z.B. aus Angst vor Klagen sofort abblocken?
Wechselberger: CIRSmedical.at bietet, wie schon erwähnt, die Möglichkeit, auch für Nicht-Gesundheitsberufsangehörige, eine Beobachtung, einen Beinahe-Fehler oder einen Fehler anonym einzumelden. Die Meldung wird bei uns bearbeitet, es werden Strategien vorgeschlagen, wie man das verhindern könnte, und es wird publiziert. Allerdings muss sich jede Gesundheitseinrichtung und damit auch jede Arztpraxis im Rahmen des Qualitätsmanagements überlegen, wie sie mit Fehlern und Beinahe-Fehlern umgeht. Ein ganz wesentlicher Punkt ist dabei die Kontaktaufnahme und die Rücksprache mit der betroffenen Person.
Sie raten also schon dazu, dass man sich drübertraut und das anspricht?
Wechselberger: Selbstverständlich! Wenn man es in einer entsprechenden Form und in einem entsprechenden Setting macht, dann wird das meistens auch zu einem positiven Ergebnis führen. Oft lassen sich Missverständnisse aufklären, wird eine Entschuldigung angenommen und ein Arzt-Patienten-Verhältnis aufrechterhalten. Vielen Patientinnen und Patienten ist es dabei wichtig zu erfahren, dass aufgrund des Vorfalles, der sie betroffen hat, Verbesserungsmaßnahmen gesetzt wurden, damit er sich nicht mehr wiederholen kann.
Würden Sie da die Schiedsstellen der Ärztekammern bzw. die Patientenanwaltschaften auch empfehlen?
Wechselberger: Gerade die Schiedsstellen, die bei den Ärztekammern angesiedelt sind, sind dazu da, ohne Kosten und Prozessrisiko Patientinnen und Patienten zu helfen. Gleichzeitig werden auch für die betroffenen Ärztinnen und Ärzte Fragen außergerichtlich geklärt und aufwendige Gerichtsverfahren vermieden. Auch Patientenanwaltschaften, die primär für die Krankenanstalten – und in vielen Bundesländern auch für den niedergelassenen Bereich – eingerichtet sind, bieten Hilfe an.
Was ist abschließend Ihre Botschaft für unsere Leserinnen und Leser?
Gartner: Wir freuen uns über jede Meldung – denn jeder Fehler zählt und muss nicht zweimal gemacht werden!
Wechselberger: Genau, und man muss nicht jeden Fehler selbst machen. Man kann auch lernen, indem man die Fehler anderer analysiert und versucht, diese Fehlerquellen dann im eigenen Bereich auszumerzen. Das sind unsere zwei wesentlichen Dinge, die zur Weiterentwicklung der Fehlerkultur im Gesundheitswesen beitragen.
Herzlichen Dank für das Gespräch!