13. Okt. 2025Neue Einsichten in Pathophysiologie und Management

ME/CFS: „Es kann wieder besser werden“

Das Myalgische Enzephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrom (ME/CFS) gab es bereits lange vor der Pandemie – durch Covid-19 erhielt es neue Aufmerksamkeit. Der Wiener Neurologe Dr. Michael Stingl erklärt, wie man Betroffene identifiziert und mit welchen Strategien sich bei manchen Patient:innen tatsächlich eine Besserung erreichen lässt.

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Fatigue ist nicht gleich Fatigue“ erklärt Dr. Michael Stingl, niedergelassener Neurologe in Wien. Das unspezifische Symptom begleitet viele Erkrankungen – etwa Multiple Sklerose, Depressionen oder Tumorerkrankungen.

Auch beim Myalgischen Enzephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrom (ME/CFS) ist Fatigue nicht das Hauptproblem, erklärt Stingl. Der Name sei daher doppelt ungünstig gewählt: Auch der Begriff Enzephalomyelitis sei missverständlich. Er stammt aus den 1950er-Jahren, und entbehrt zwar jeder Basis, hat sich aber gehalten, wie der Neurologe erklärt.

Kernsymptom Post-Exertional Malaise

Das eigentliche Kernsymptom der ME/CFS ist die Post-Exertional Malaise (PEM) – eine dramatische Zustandsverschlechterung („Crash“) nach körperlicher oder kognitiver Belastung bzw. einem Infekt. Diese ist nicht durch Ruhe reversibel und hält per definitionem mindestens 14 Stunden an – manchmal aber auch Tage oder Wochen.

Die Verschlechterung kann dabei sowohl unmittelbar während oder nach der Aktivität auftreten, als auch Stunden bis Tage später. Besonders ungünstig ist es, wenn Patient:innen versuchen, die Erschöpfung zu übertauchen – das ist meist ein Garant für einen schweren Zusammenbruch. Im schlechtesten Fall beeinträchtigt eine PEM das alltägliche Funktionsniveau der Patient:innen dauerhaft.

„Viele Betroffene beschreiben das Gefühl der PEM ‚wie bei einem Infekt‘ oder ‚wie bei einem Kater nach einer durchzechten Nacht, kombiniert mit einem Marathonlauf‘“, berichtet Stingl. Typische Begleiterscheinungen sind laut dem Experten unter anderem:

  • Grippeähnliches Krankheitsgefühl (z.B. Halsschmerzen, Muskelschmerzen)
  • Massive Reizempfindlichkeit gegenüber Licht, Geräuschen oder Gerüche
  • Kognitive Einbrüche (z.B. Konzentrationsstörungen, Wortfindungsprobleme).

PEM-Diagnostik mit Risiko

Die PEM ist aber nicht nur eine klinische Schilderung ohne Korrelat, sondern lässt sich durchaus objektivieren. In Studien nützt man etwa zwei Ergometrien an aufeinanderfolgenden Tagen oder repetitive Handkraftmessungen. Doch jede Belastung birgt das Risiko einer Zustandsverschlechterung, warnt Stingl. „Das Dilemma ist, dass man PEM nur messen kann, indem man sie auslöst. Und das kann den Zustand im schlimmsten Fall dauerhaft verschlechtern.“

Dr. Michael Stingl
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Dr. Michael Stingl

Für die Praxis empfiehlt erdaher keine potenziell destruktiven körperlichen Tests, sondern als einfaches Screening-Instrument den DePaul Symptom Questionnaire, der Intensität, Häufigkeit und Dauer der Symptomverschlechterung erfasst.

Differenzialdiagnostik und Komorbiditäten der ME/CFS

ME/CFS ist eine klinische Diagnose, wie Stingl betont. Für die Praxis eignen die IOM-Kriterien, eines der international mittlerweile am häufigsten verwendeten Diagnose-Sets. Die Diagnose kann gestellt werden, wenn alle drei Hauptkriterien und mindestens eines der beiden Zusatzkriterien erfüllt sind (siehe Kasten).

IOM-Kriterien für ME/CFS (2015)

Hauptkriterien:

  1. Substanzielle Einschränkung der Aktivität:
    • Neu aufgetretene, anhaltende oder wiederkehrende Erschöpfung (Fatigue)
    • von mindestens 6 Monaten Dauer
    • die nicht durch Ruhe besser wird
  2. Post-Exertional Malaise (PEM)
    • Anhaltende Zustandsverschlechterung nach körperlicher, kognitiver oder orthostatischer Anstrengung
    • oft mit verzögertem Beginn (typischerweise Stunden später)
    • und mit typischen Symptomen (grippeähnliches Krankheitsgefühl, Schmerzen, „Crash“)
  3. Nicht erholsamer Schlaf
    • Gefühl „wie gerädert aufzuwachen“, selbst nach ausreichendem Schlaf
    • Häufig gestörter Schlafrhythmus oder unruhiger, fragmentierter Schlaf

Mindestens eines der folgenden Zusatzkriterien:

  • Kognitive Beeinträchtigung (Konzentrations-, Aufmerksamkeits-, oder Gedächtnisstörungen [„Brain Fog“], oder
  • Orthostatische Intoleranz
    • Beschwerden beim Stehen oder Sitzen (Schwindel, Benommenheit, Herzrasen)
    • Messbar durch Anstieg der Herzfrequenz oder Abfall des Blutdrucks (z.B. beim Schellong-Test)

Wichtig sei, die richtigen Fragen zu stellen, wie der Neurologe betont: „Entscheidend ist nicht, ob Patient:innen erschöpft sind, sondern, wie es ihnen nach Aktivität geht.“ Viele Betroffene schildern etwa, dass sie nach Arztbesuchen oder alltäglichen Belastungen mehrere Tage ans Bett gefesselt seien.

Die ME/CFS kann sich in unterschiedlichen Schweregraden äußern– von leichteren Verläufen, bei denen die Menschen weiterhin arbeitsfähig sind, aber ihre Freizeitaktivitäten reduzieren müssen, bis zu schwerstbetroffenen, bettlägerigen Patient:innen, die kaum aufstehen können. „Gerade die sieht man im klinischen Alltag selten, weil sie es schlicht nicht in die Ordination schaffen.“

Rund 70 Prozent der ME/CSF-Betroffenen sind laut internationalen Beobachtungsstudien und Registerdaten nicht erwerbsfähig, etwa 25% sind hausgebunden oder bettlägerig.

Behandlung der orthostatischen Intoleranz kann Betroffene stabilisieren

Eine wichtige häufige Begleiterkrankung bei ME/CFS ist die orthostatische Intoleranz, eine Fehlregulation des Kreislaufsystems beim Aufstehen. Testen lässt sie sich durch den Schellong-Test, bei dem nach zehnminütiger Liegezeit Puls und Blutdruck im Stehen über eine Minute gemessen werden. Typisch ist ein deutlicher Pulsanstieg (>30 Schläge/min;) und ein Blutdruckabfall mit orthostatischen Symptomen wie Schwindel oder Benommenheit, was zusammengenommen als posturales Tachykardiesyndrom (POTS) bezeichnet wird.

Ursache ist eine Fehlreaktion des vegetativen Nervensystems (Dysautonomie), im Zuge derer es auch zu Störungen der Gefäßregulation kommt. Beim Aufstehen wird das Blut nicht ausreichend aus den Beinen zurücktransportiert, es „versackt“, was zu venöser Stauung und Sauerstoffmangel im Gewebe führt. Ein häufiges und oft übersehenes Zeichen ist eine Farbveränderung der Füße im Zusammenhang mit orthostatischer Belastung. „Wenn die Patient:innen stehen, sieht man oft, dass die Füße zu Beginn des Tests eher weiß sind und am Ende livid verfärbt oder marmoriert werden“, so Stingl. Typischerweise bessert sich die Verfärbung, sobald sich die Betroffenen hinlegen oder die Beine hochlagern.

Entgegenwirken lässt sich der orthostatischen Intoleranz mit ausreichender Flüssigkeits- und Salzzufuhr, Kompressionsstrümpfen und bei Bedarf Medikamenten wie Betablocker oder Midodrin. „Wenn man die orthostatische Intoleranz richtig testet und behandelt, können Patienten oft deutlich mehr leisten“, betont der Experte.

Neben der orthostatischen Intoleranz ist die ME/CFS mit weiteren wichtigen Komorbiditäten verbunden, die behandelbar sind, womit sich auch der Verlauf der Erkrankung verbessern kann:

  • Mastzellaktivierungssyndrom (MCAS, Ansprechen auf Antihistaminika bei rund 20%
  • Small-Fiber-Neuropathien
  • Hypermobilitätssyndrome

Pacing statt Aktivierung!

Die wichtigste Therapie bei ME/CFS sei neben der Behandlung von Komorbiditäten eine Anpassung der Aktivität an die individuellen Grenzen. „Pacing bedeutet nicht, nichts zu tun“, betont Stingl. „Aber wer die eigenen Belastungsgrenzen respektiert, hat die größte Chance auf Besserung.“

Das früher empfohlene gestufte Training (graded exercise training, GET) gilt heute als kontraindiziert, da es Rückfälle auslösen kann. Neben symptomorientierter Behandlung (z.B. gegen begleitende Schlaf- und Schmerzprobleme) spielen unterstützende Psychotherapie, soziale Absicherung und strukturierte Anlaufstellen eine wichtige Rolle – insbesondere für schwer betroffene, bettlägerige Patient:innen, die derzeit kaum versorgt werden.

Obwohl eine begleitende, an ME/CFS angepasste Psychotherapie oft hilfreich sein kann, warnt Stingl aber davor, die Erkrankung vorschnell als psychogen einzuordnen: „Es gibt natürlich psychische Komorbiditäten – was man sich angesichts der Probleme der Patient:innen gut vorstellen kann – aber ME/CFS ist keine primär psychiatrische Störung.

Pathophysiologische Hinweise nehmen zu

Denn obwohl ME/CFS lange als psychosomatisch galt, mehren sich inzwischen die Befunde für eine komplexe biologische Störung im Hintergrund. Dazu gehören etwa eine gestörte Sauerstoffabgabe in der Peripherie, mikrovaskuläre Veränderungen, mitochondriale und immunologische Dysfunktion, metabolische Verschiebung sowie die schnelle Laktat-Akkumulation und die Ablagerung von Amyloid in den Muskeln nach relativ moderater Belastung. Diese Mechanismen passen, so Stingl, exakt zu den klinischen Schilderungen der Patient:innen: „Der Körper schafft es nicht, den Energiebedarf zu decken – bei körperlicher oder geistiger Aktivität kommt es zum Crash.“

Bekannt ist auch, dass ME/CFS bei rund 70% der Fälle erstmals nach einem bekannten Infekt auftreten. Besonders Erreger wie das Epstein-Barr-Virus und SARS-CoV-2 spielen hier eine Rolle. „Aber nicht alle Fälle von Long Covid betreffen ME/CFS“ betont der Neurologe.

Außerdem berichten Patient:innen immer wieder von Traumen, etwa eine Geburt oder psychische Ausnahmesituationen, als primäre Auslöser. Und auch hormonelle Komponenten dürfte es geben: Besonders häufig sind Frauen betroffen, mit Altersgipfeln rund um 30 und 40 Jahren.

Forschung und Versorgung im Aufbruch

2024 publizierte Stingl gemeinsam mit anderen Experten aus Österreich, Deutschland und der Schweiz ein Konsensus-Statement zur Diagnose und Behandlung von ME/CFS. Zudem entsteht am AKH Wien gerade eine Biobank, die standardisierte Diagnostik und Forschung ermöglichen soll. Doch am wichtigsten, so der Neurologe, sei der Ausbau der spezialisierten Zentren mit stationären Kapazitäten. „Die Zahl der schwer Erkrankten ist höher, als viele glauben.“