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Wie Gene und Umweltfaktoren die ADHS prägen
Die ADHS ist eine komplexe Störung. Bis zu 80% der Risikofaktoren sind genetisch bedingt. Aber auch Umweltfaktoren wie Rauchen oder die Einnahme von Paracetamol in der Schwangerschaft können die Erkrankung beeinflussen. Medikamente reduzieren die Kernsymptome effektiv.
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„Warum diagnostizieren wir ADHS so früh? Warum lassen wir Kinder nicht einfach Kinder sein?“, fragt Prof. Dr. Marcel Romanos von der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Universitätsklinikums Würzburg zu Beginn seines Vortrags auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN). „Diese Sichtweise ist verständlich, aber die Risiken und Langzeitprobleme einer unbehandelten ADHS erfordern unser Handeln.“ Denn jede Intervention kann Folgeerkrankungen verhindern.
ADHS und Klassifikation
In der ICD-11 wurde die Klassifikation adaptiert. Das Konzept der hyperkinetischen Störung wurde durch Kategorien ersetzt, die an das DSM-5 angelehnt sind. Es gibt nun 3 Subtypen:
- den kombinierten Typ,
- den überwiegend hyperaktiv-impulsiven Typ und den
- nvorwiegend unaufmerksamen Typ.
Der Referent weist darauf hin, dass diese Subtypen jedoch nur bedingt über die Zeit stabil sind, da psychosoziale Rahmenbedingungen einen starken Einfluss haben. Dem trägt die ICD-11 Rechnung. Eine Operationalisierung wie im DSM 5 wurde jedoch nicht in das neue Diagnosemanual übernommen.
Die Symptome müssen mindestens sechs Monate bestehen, das Kind deutlich beeinträchtigen und vor dem 12. Lebensjahr auftreten.
Geschlechtsspezifische Unterschiede
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Prof. Dr. Marcel Romanos, Universitätsklinikum Würzburg
Weltweit liegt die ADHS-Prävalenz bei etwa 5,3%, in Europa etwas niedriger.1 Polanczyk et al. untersuchten auch die Entwicklung der Prävalenz seit 1985.2 „Die Prävalenz ist in den letzten Jahre stabil. Es gibt keinen objektivierbaren Anstieg,“ widerspricht Prof. Romanos der häufig geäußerten Meinung, die ADHS hätte zugenommen.
In Metaanalysen sind Burschen häufiger betroffen als Mädchen (3,3:1).3 Mädchen zeigen jedoch seltener hyperaktive Symptome, was dazu führen könne, dass sie seltener diagnostiziert werden. „Die hyperaktiven Symptome bringen Kinder oft in Behandlung“, so Prof. Romanos.
Diagnose und Komorbiditäten
Bei Kindern zwischen drei und vier Jahren kann nicht ausreichend sicher diagnostoziert werden. Im Vorschulalter sollte die Diagnose nur bei ausgeprägter Symptomatik gestellt werden. Die Diagnose ist jedenfalls komplex, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen mit multiplen Symptomen wie Aggressivität, Drogenkonsum und Depressionen. Entwicklungsverläufe und Komorbiditäten müssen berücksichtigt werden. Drei Viertel der Kinder mit ADHS haben mindestens eine weitere Diagnose, ein Viertel sogar drei oder mehr. Dazu gehören u. a. oppositionelle und affektive, Teilleistungs-, Angststörungen und Tics.5, 6
Genetische Faktoren der ADHS
Prof. Romanos betont, dass ADHS eine starke erbliche Komponente aufweist. Studien schätzen deren Anteil auf 75–80 %. Eine rezente Assoziationsstudie, die die Daten von knapp 40.000 Betroffenen und 200.000 Kontrollpersonen analysierte, identifizierte zahlreiche Genvarianten, die mit ADHS assoziiert sind.7, 8 Einzelne Varianten tragen jedoch nur minimal zur Symptomatik bei. Um den Zusammenhang besser zu verstehen, werden polygenetische Scores eingesetzt. „Personen mit hohen polygenetischen Scores zeigen nicht nur eine stärkere Ausprägung der ADHS-Symptomatik, sondern auch eine höhere Persistenz sowie eine höhere Wahrscheinlichkeit für komorbide Störungen wie Angst oder Depression“, erklärt Prof. Romanos. Aber auch Umweltfaktoren wie Rauchen oder die Einnahme von Paracetamol während der Schwangerschaft erhöhen das Risiko.9, 10
Studien zufolge weisen ADHS-Betroffene funktionelle und strukturelle Veränderungen im Gehirn auf, besonders im ventromedialen und dorsolateralen präfrontalen Kortex sowie dem Cerebellum.11, 12 „Wir finden Aberrationen, aber wir können kein eindeutiges Kerndefizit oder eine zentrale Funktionsstörung identifizieren“, kommentiert Prof. Romanos.
Therapeutische Optionen
Bereits 1999 zeigte die MTA-Studie (Multimodal Treatment Assessment Study), dass eine Kombinationstherapie aus Medikation und Verhaltenstherapie bzw. alleinige Medikation beinahe gleichauf die stärkste Symptomreduktion bewirkt, während eine alleinige Verhaltenstherapie kaum Effekte auf die ADHS-Symptomatik hatte. „Die ADHS-Kernsymptome werden durch die Medikation sehr gut adressiert. Die Verhaltenstherapie kann da nicht mithalten“, betont Prof. Romanos. Bei Begleitproblemen wie sozialer Kompetenz oder schulischen Leistungen hat aber auch die Verhaltenstherapie positive Effekte.
Medikation: Effektivität und Langzeitwirkung
ADHS-Medikamente wie Methylphenidat, Amphetamine und Atomoxetin sind in Metaanalysen mit konsistent hohen Effektstärken assoziiert.13 Zwar fehlen randomisierte Langzeitstudien, dennoch legen Registerstudien aus Skandinavien und Hongkong nahe, dass eine Medikation mit einer 30%igen Reduktion von Notaufnahmen, geringeren Rückfallraten bei Substanzmittelmissbrauch und einer Senkung der Mortalität um 17% pro 100 Tage Medikamenteneinnahme assoziiert ist, berichtet Prof. Romanos.14, 15 Auch die Suizidalität sinke nach Beginn der Medikation.16
Quelle: „ADHS im Kindes- und Jugendalter“, Vortrag im Rahmen des Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), Berlin, 27.–30.11.24
Weiterlesen
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- Polanczyk G et al., Am J Psychiatry 2007; 164(6):942–8
- Polanczyk G et al., Int J Epidemiol 2014; 43(2):434–42
- Sacco R et al., European Child & Adolescent Psychiatry 2022; 33(9):2877–94
- Young S et al., Psychological Medicine 2024; doi: 10.2147/NDT.S472923
- Taurines R et al., ADHD 2011; 2(4):267–89
- Tung I et al., Pediatrics 2016; 138(4):e20160430; doi: 10.1542/peds.2016-0430
- Demontis et al., Nature Genetics 2023
- Green et al., J Psychiatr Res 2022
- Godleski et al., Ped Rep 2024
- Ricci C et al., Paediatr Perinat Epidemiol 2023 ; doi: 10.1111/ppe.12963
- Faraone et al., Nature Reviews 2015
- Yu et al., Frontiers in Psychiatry 2023
- Cortese et al., Lancet Psychiatry 2018
- Sun et al., JAMA Psychiatry 2019
- Chen et al., Br J Psychiatry 2020
- Kenneth et al., JAMA Psychiatry 2017