NGF: Rita Levi-Montalcini und der Nerve Growth Factor
Wie eine jüdisch-italienische Wissenschaftlerin in den 1940er-Jahren im Untergrund das Fundament einer internationalen Forschungskarriere gelegt hat.
Rita Levi-Montalcini wird gemeinsam mit ihrer Zwillingsschwester Paola am 22. April 1909 als Tochter des wohlhabenden sephardisch-jüdischen Ingenieurs und Mathematikers Adamo Levi und seiner Frau Adele Montalcini in Turin geboren. Sie und Paola sind die jüngsten von insgesamt vier Kindern des Paares. Als Teenager spielt Rita mit dem Gedanken, Schriftstellerin zu werden. Als ein enger Freund der Familie an Magenkrebs erkrankt und stirbt, beschließt sie, Medizinerin zu werden.
1930 beginnt sie an der Universität Turin Medizin zu studieren. Zuvor musste sie aber ihren patriarchal-konservativen Vater davon überzeugen, dass dies ein angemessener Weg für eine junge Frau ist. An der Universität lernt sie den Neurohistologen Giuseppe Levi kennen, der bei der jungen Frau ein Interesse am sich entwickelnden Nervensystem weckt, zu ihrem Mentor wird und für viele Jahre ihr Kollege bleibt.
Levi-Montalcinis leben im Untergrund während des italienischen Faschismus
1938 wird Levi-Montalcini aufgrund der faschistischen Rassengesetze in Mussolinis Italien von der Universität ausgeschlossen. Das markiert den Beginn einer Zeit, die von Entbehrungen, von widrigen Umständen, aber auch von Levi-Montalcinis Durchhaltevermögen geprägt ist. Während des Zweiten Weltkriegs forscht sie in einem improvisierten Heimlabor in Turin an der embryologischen Neuroentwicklung. Ihre Experimente führt sie mit einem einfachen, selbstgemachten Sezierbesteck an befruchteten Hühnereiern durch. Nach Abschluss ihrer Untersuchungen dient dieses als Besteck fürs Abendessen. Als Italien 1943 auf die Seite der Alliierten wechselt und in der Folge von der Deutschen Wehrmacht besetzt wird, muss Levi-Montalcini mit ihrer Familie nach Florenz fliehen, wo sie Krieg und Holocaust überleben und Rita ihre Forschungsarbeit fortsetzt.
In dieser Zeit liest sie einen Text des Embryologen Viktor Hamburger von der Washington University in St. Louis, Missouri. Dieser beschreibt, dass das Abschneiden wachsender Gliedmaßen von Hühnerembryonen zu Atrophien in den neuronalen Zellclustern führt, die eigentlich diese Gliedmaßen innervieren sollten. Hamburger vermutet, dass ein „induktiver Faktor“ aus den fehlenden Gliedmaßen für das Wachstum und die Differenzierung der Nervenzellen notwendig ist.
Levi-Montalcini und Giuseppe Levi replizieren das Experiment unter Verwendung der Silberfärbetechnik, die Levi ihr beigebracht hat. Anfangs wachsen die Neuronen weiter, sterben jedoch ab, wenn sie ihr amputiertes Ziel nicht erreichen können. Levi-Montalcini schließt daraus, dass das Absterben der Neuronen auf das Fehlen einer wachstumsfördernden Substanz zurückzuführen ist, die von den Zielstrukturen der Neuronen abgegeben wird.
Levi-Montalcinis Entdeckung des Nervenwachstumsfaktors (Nerve Growth Factor – NGF)
Nachdem Hamburger seinerseits ein Interesse an zwei Texten Levi-Montalcinis entwickelt, lädt er sie in sein Labor in den USA ein. Ausgestattet mit einem Research Fellowship für ein Semester, nimmt Levi-Montalcini die Einladung im September 1946 an. In der Folge sichert sie sich eine Position in Hamburgers Labor als Research Associate, welche sie für die nächsten 30 Jahre innehat.
Wie bei vielen großen medizinischen Entdeckungen spielt der Zufall eine signifikante Rolle bei der Identifizierung des Nervenwachstumsfaktors (Nerve Growth Factor – NGF) durch Levi-Montalcini. Ein Student Hamburgers, Elmer Bueker, beobachtet, dass ein schnell wachsendes Sarkom stark innerviert wird, wenn es in einen Hühnerembryo transplantiert wird – das stellt eine überprüfbare Quelle für den NGF dar. Stanley Cohen, ebenfalls in Hamburgers Labor, entdeckt später, dass Schlangengift und die Unterkieferspeicheldrüsen erwachsener männlicher Mäuse noch ergiebigere Quellen für den NGF sind.
1952 gelingt Levi-Montalcini in Rio de Janeiro die erste Abbildung von der Entstehung von Nervenfasern, die unter dem Einfluss von NGF wachsen. Sie arbeitet im Labor ihrer Freundin Hertha Meyer, einer Expertin für die dafür notwendigen Techniken. Mithilfe von zwei in ihrer Handtasche nach Brasilien geschmuggelten tumortragenden Mäusen entwickeln die beiden Frauen den ersten „Halo“-Test für NGF. Das eindrucksvolle Experiment bestätigt die Existenz der von ihr vorhergesagten wachstumsfördernden Substanz.
Die Entdeckung revolutioniert die Neurobiologie und Endokrinologie und bildet die Grundlage für die Forschung zur Zellkommunikation. Anfangs wird die Bedeutung von NGF jedoch nicht allgemein anerkannt. Levi-Montalcini muss ihre Entdeckung bis in die frühen 1970er Jahre gegen Skeptiker verteidigen. Sie selbst ist keine Biochemikerin, und als Cohen St. Louis 1959 verlässt, überlässt sie die molekulare Charakterisierung von NGF anderen. Dennoch leistet sie mit Kollegen in Rom wichtige Beiträge zur erweiterten Rolle von NGF, insbesondere im Immunsystem und in der Augenheilkunde.
Levi-Montalcini bleibt 30 Jahre lang an der Washington University tätig. In den 1960er Jahren kehrt sie peu à peu nach Italien zurück, weil sie den Kontakt mit ihrer Zwillingsschwester Paola vermisst. 1969 wird sie Direktorin eines neuen Labors für Zellbiologie des Italienischen Forschungsrats in Rom, das unter Levi-Montalcinis Leitung zu einem der größten Forschungszentren des Landes heranwächst.
Nobelpreisträgerin und Ikone der italienischen Wissenschaft
1986 organisiert ein Kollege anlässlich ihres 77. Geburtstags die erste NGF-Konferenz in Monterey, Kalifornien. Sechs Monate später erhält sie zusammen mit Cohen den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin und wird zur ersten Frau aus Italien, welche mit dem prestigeträchtigsten Preis der Wissenschaftswelt ausgezeichnet wird. In ihrem Antwortschreiben an das Nobelpreiskomitee hält Levi-Montalcini fest, dass diese Auszeichnung wunderbar sei, sie jedoch ihre Geburtstagsfeier mehr genossen habe.
Sie ist eine unermüdliche Fürsprecherin der italienischen Wissenschaft. In den folgenden 25 Jahren nimmt sie an Fernsehdiskussionen teil, schreibt populärwissenschaftliche Bücher und berät die Regierung sowie andere Institutionen des italienischen Staates. 2001 wird sie zur Senatorin auf Lebenszeit ernannt und nutzt diese legislative Position, um wichtige politische Entscheidungen zu beeinflussen.
1992 gründet sie die Rita Levi-Montalcini Stiftung, die Frauen aus Entwicklungsländern, insbesondere aus Afrika, bei der Karriere in der Wissenschaft unterstützt. 2002 ruft sie das Europäische Hirnforschungsinstitut in Rom ins Leben.
Rita Levi-Montalcini wird als ehrgeizig, autokratisch, großzügig, besitzergreifend, aristokratisch, anspruchsvoll, beharrlich, einsichtig und völlig ihrer Arbeit gewidmet beschrieben. Sie trägt Meinungsverschiedenheiten mit zahlreichen Wissenschaftlern aus, welche die Ergebnisse ihrer Forschungsarbeit in Zweifel ziehen. Als die Bedeutung ihrer Entdeckungen zunehmend anerkannt wird, zeigt sie sich versöhnlicher und richtet sich in ihrer Rolle als „Matriarchin“ ein, die sie sich mit ihrer bahnbrechenden Arbeit redlich verdient hat. Ihr engeres Fachgebiet dominiert Rita Levi-Montalcini so umfassend, dass sie damit gleichgesetzt wird.
Ein Preis, den sie für ihre singuläre Position in der Wissenschaft bezahlt ist, dass sie niemals heiratet und keine Kinder bekommt. Levi-Montalcini nimmt das zugunsten ihrer Arbeit ohne Bedenken in Kauf und gibt in einem Interview 2006 zu Protokoll: „I never had any hesitation or regrets in this sense... My life has been enriched by excellent human relations, work and interests. I have never felt lonely.“ Sie bleibt bis ins hohe Alter aktiv und nimmt noch mit 97 Jahren an der konstituierenden Sitzung eines neuen italienischen Senats teil. Im greisen Alter von 103 Jahren stirbt Rita Levi-Montalcini am 30. Dezember 2012 in Rom und wird neben ihrer Schwester am Friedhof Cimitero monumentale di Torino in ihrer Heimatstadt Turin beigesetzt.