15. Jän. 2025Ab wann ist Übergewicht eine Krankheit?

Lancet-Kommission: Adipositas ist mehr als der BMI

Eine internationale Kommission bestehend aus 56 Expertinnen und Experten hat einen lang erwarteten Ansatz zur Neudefinition der Klassifikation der Adipositas veröffentlicht. Künftig soll weniger der Body-Mass-Index (BMI) als der Anteil und die Verteilung von Körperfett sowie das Vorhandensein von Organschäden darüber entscheiden, ob eine behandlungspflichtige Adipositas vorliegt.

Take Home Messages

  • Adipositas ist mehr als BMI: Neue Kriterien berücksichtigen Fettverteilung und Organfunktion.
  • Klinische vs. präklinische Adipositas: Behandlung nur bei Organschäden.
  • Neue Kriterien für Kinder: Frühzeitige Erkennung und Behandlung.
  • Gezielte Therapie: Prävention statt Überbehandlung.
Fitte Menschen mit Adipositas gelten für die Lancet-Kommission nicht mehr als behandlungsbedürftig.
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Fitte Menschen mit Adipositas gelten für die Lancet-Kommission nicht mehr als behandlungsbedürftig.

Die Autorinnen und Autoren streben in ihrem Konsensus-Statement1 eine umfassendere und nuanciertere Betrachtung von Adipositas über den bisher gängigen Body-Mass-Index (BMI) hinaus an.

Ziel der Neuerungen ist es, eine behandlungsbedürftige „klinische Adipositas“, bei der auch Organschäden oder Einschränkungen von Alltagsaktivitäten vorliegen, von der „präklinischen Adipositas“ zu unterscheiden. Bei präklinischer Adipositas, so die Expertengruppe, sind keine Therapien notwendig, sondern lediglich Präventionsmaßnahmen, um künftige Risiken zu minimieren.

Wann spricht man von Adipositas?

Bei Adipositas nimmt der Anteil des Fettgewebes im Körper übermäßig zu, was deutliche Konsequenzen hat. Besonders Bauchfett ist hormonell und immunologisch aktiv und erhöht das Risiko für kardiometabolische Erkrankungen, Entzündungen, eine höhere Infektanfälligkeit sowie muskuloskelettale Beschwerden.

In aktuell gültigen Leitlinien wird Adipositas als ein BMI ab 30 kg/m² definiert. Diese Definition steht jedoch seit vielen Jahren in der Kritik. Expertinnen und Experten bemängeln, dass der BMI nicht zwischen Fett- und Muskelmasse unterscheidet und keine Aussage über den Gesundheitszustand eines Menschen trifft.

Die in der neuen Klassifikation geforderte zusätzliche Abklärung zielt darauf ab, Fettansammlungen – insbesondere am Bauch – offiziell in die Adipositas-Diagnose einzubeziehen. Dennoch bleibt der BMI laut den Expertinnen und Experten ein nützliches Screening-Instrument, vor allem auf Bevölkerungsebene.

Körperfettanteil soll berücksichtigt werden

Die Kommission, die sich aus 56 Expertinnen und Experten aus vielen Ländern, darunter auch Deutschland, Österreich und der Schweiz, zusammensetzt, schlägt nun vor, den Adipositas-Verdacht per BMI mit Messungen wie Taillenumfang, Taille-Hüfte-Verhältnis oder direkte Fettmessungen zu bestätigen. Ein BMI von über 40 kg/m² gilt weiterhin als klare Adipositas-Diagnose.

Diese Messungen sind laut dem Autorenteam niederschwellig durchführbar, etwa in Hausarztpraxen.

Krankhafte Adipositas?

Über die Diagnostik hinaus strebt das Papier an, den Krankheitsbegriff für Adipositas präziser zu definieren. Entscheidend ist für die Autorengruppe, ob Patientinnen und Patienten mit Adipositas bereits unter Organschäden leiden. Liegen eine eingeschränkte Organfunktion oder erhebliche Einschränkungen der alltäglichen Lebensführung vor, wird dies als „klinische Adipositas“ (clinical obesity) bezeichnet.

Liegt zwar ein erhöhter Körperfettanteil vor, aber keine ernsthaften Organfunktionsstörungen, sprechen die Expertinnen und Experten hingegen von „präklinischer Adipositas“ (pre-clinical obesity). Zur Anwendung sollen künftig 18 diagnostische Kriterien kommen, die im Rahmen der Patientenuntersuchung abgefragt werden.

„Adipositas kann, aber muss nicht krankhaft sein“

Prof. Louise Baur von der University of Sydney, eine der führenden Stimmen der Kommission, betont in einem Pressegespräch die Notwendigkeit, Adipositas nicht nur als Problem des Körpergewichts, sondern als systemische chronische Krankheit zu verstehen.

Prof. Francesco Rubino, Kommissionsvorsitzender und Professor am King’s College London, ergänzt, dass Adipositas nicht einfach nur ein Risikofaktor sei, sondern in vielen Fällen eine eigenständige Krankheit darstellen könne. Die neue Klassifikation könne Menschen, die bisher keine Behandlung erhielten, Zugang zu Therapien ermöglichen, während unnötige Eingriffe bei anderen vermieden werden.

Erstmals klinische Adipositas bei Kindern und Jugendlichen definiert

Eine Besonderheit der neuen Klassifikation ist ihre Anwendbarkeit unabhängig von Geschlecht und Alter. Die neuen Kriterien gelten somit auch für Kinder und Jugendliche.

Adipositas führt bereits in jungen Jahren zu spezifischen Gesundheitsproblemen wie Atemwegserkrankungen, Gelenkschäden und Herzproblemen. Die neuen Leitlinien beinhalten 13 diagnostische Kriterien speziell für Kinder, um solche Schäden frühzeitig zu identifizieren und zu behandeln.

Zweifel am gesunden Übergewicht

Viele Expertinnen und Experten wie die österreichische Endokrinologin und Gender-Expertin Univ.-Prof. Dr. Alexandra Kautzky-Willer von der Medizinischen Universität Wien begrüßen die Empfehlungen der Kommission in einem Pressestatement grundsätzlich. Prof. Kautzky-Willer betont jedoch die Wichtigkeit, geschlechtsspezifische und ethnische Unterschiede bei der Fettverteilung zu berücksichtigen.

Ob Menschen mit „pre-clinical obesity“ tatsächlich gesund sind, sieht sie kritisch: „Ich bezweifle die metabolisch und auch sonst gesundheitlich unbedenkliche ‚healthy obesity‘, die nur bei regelmäßiger Bewegung (Ausdauer- und Krafttraining) und körperlicher Fitness vorliegen kann. Die meisten Verlaufsuntersuchungen zeigen, dass diese beim Großteil in eine krankhafte Form übergeht, wenn nicht rechtzeitig eine Intervention oder Gewichtsabnahme erfolgt. Für Präventionsmaßnahmen wäre es daher wichtig, auch bei Adipositas ohne Krankheitssymptome anzusetzen.“

Auswirkungen auf Gesundheitssysteme und Gesellschaft

Die Implementierung der neuen Kriterien könnte weitreichende Konsequenzen für Gesundheitssysteme haben. Zwar erfordert die differenzierte Diagnostik mehr Aufwand und Ressourcen, langfristig könnte sie jedoch Kosten senken, da unnötige Eingriffe vermieden und gezielte Präventionsmaßnahmen rechtzeitig ergriffen werden könnten.

In Ländern wie Großbritannien, wo die Prävalenz der Adipositas hoch ist, könnte die neue Klassifikation Diskussionen über die Finanzierung und Priorisierung von Therapien neu anstoßen.

„Weniger übergewichtige Personen mit diagnostizierter Adipositas“

Nicht alle Expertinnen und Experten sehen die neuen Kriterien als Gewinn. Prof. Dr. Thomas Reinehr, Facharzt für Jugendmedizin und Diabetologie an der Vestischen Kinder- und Jugendklinik Datteln, befürchtet etwa, dass unter der neuen Definition weniger übergewichtige Menschen eine Adipositas-Diagnose erhalten könnten.

Er kritisiert, dass Kostenträger nach der neuen Definition Behandlungsmaßnahmen für Patientinnen und Patienten mit Übergewicht nur noch bei Vorliegen von medizinischen Folgeerkrankungen übernehmen könnten. Psychologische Komorbiditäten der Adipositas sieht er dabei nicht genug gewürdigt.

Medikamente und Kostenübernahme

Abnehm-Medikamente wie der GLP-1-Rezeptor-Agonist Semaglutid (Wegovy) müssen derzeit in Deutschland und Österreich ohne therapieresistenten Diabetes schon jetzt privat bezahlt werden. In der Schweiz hingegen werden die Kosten seit März 2024 von den Krankenkassen für stark von Adipositas betroffene Patientinnen und Patienten übernommen.