Kindesmissbrauch: interdisziplinäre Zusammenarbeit gefragt
Für die Untersuchung und Behandlung von Kindern nach Gewalterfahrungen braucht es eine optimale Zusammenarbeit von Expertinnen und Experten aus Medizin, Psychologie, Recht und Sozialarbeit. Im Akutfall sollten Ärztinnen und Ärzte wissen, wie Kinder zu befragen sind, um keine wertvollen Beweise im Gespräch zu verlieren.
Ein Beispiel dafür, wie Kindern nach Gewalttaten häufige Untersuchungen und Befragungen erspart werden könnten, zeigen die „Childhood Houses“ in Schweden. Auch in Österreich und Deutschland werden aktuell Wege gesucht, betroffene Kinder und Jugendliche medizinisch-forensisch sowie psychologisch und psychotherapeutisch an einer Stelle zu untersuchen und weiter zu betreuen. „Allerdings ist dies derzeit bei uns in Deutschland noch schwierig, weil es dafür keine Finanzierungsmodelle gibt“, sagt Dr. Bernd Herrmann, Leiter der ärztlichen Kinderschutzambulanz an der Kinderklinik des Klinikum Kassel (D) sowie Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin (DGKiM). Gemeinsam mit Expertinnen und Experten aus Österreich debattierte Herrmann in der Podiumsdiskussion unter dem Titel „Anforderungen an eine funktionierende interdisziplinäre Zusammenarbeit“ bei der Fachtagung der Plattform für Interdisziplinäre Kinder- und Jugendgynäkologie Österreich (PIKÖ) über entsprechende Möglichkeiten. Herrmann verweist dabei jedoch auf einen Nachteil des schwedischen Modells: Es sei „rein strafrechtlich orientiert“; falls sich also herausstellt, dass kein strafrechtlich relevantes Delikt vorliegt, könne dort auch keine weitere Betreuung stattfinden.
Für eine gemeinsame Anlaufstelle in Österreich – sie wurde unter dem Arbeitstitel „Gewaltambulanz“ diskutiert – wird zunächst die Kooperation zwischen Forensik und Pädiatrie als essenziell angesehen. „Sinnvoll ist es, wenn es eine fachführende Person gibt“, sagt Univ.-Prof. DDr. Martin Grassberger, Facharzt für Gerichtsmedizin und Anthropologe. Es braucht einerseits forensische Expertise und Erfahrung, um ein Kind zu untersuchen und ein Gutachten zu erstellen, andererseits genauso den altersangepassten Umgang als pädiatrische Domäne, wie Herrmann ergänzt. Vor allem aber sollten den Kindern lange Anfahrtswege zwischen den einzelnen Fachpersonen erspart werden.
Mobile Teams als Möglichkeit
Eine mögliche Variante wären dabei mobile Einsatzteams, so der Vorschlag von Chefinsp. Eric Egretzberger, Ermittlungsbereichsleiter Sexualdelikte beim Landeskriminalamt Niederösterreich. Allerdings gibt es vor allem in Ostösterreich aktuell einen Mangel an Sachverständigen in der gerichtlichen Medizin, weiß LStA Mag.Michaela Obenaus, Leiterin der Staatsanwaltschaft Wien. „Kommt es zu einem Strafverfahren, dann steht die Qualität eines rechtsmedizinischen Gutachtens an der Spitze“, ergänzt die Juristin, die auch in die Konzepterstellung für „Gewaltambulanzen“ eingebunden war. Dazu brauche es jedoch noch eine gesetzliche Grundlage. Zudem werde derzeit noch diskutiert, ob jedes Gewaltopfer kostenlos und ggf. anonym eine solche aufsuchen kann. „Ein mobiles Team, das rund um die Uhr zu angezeigten Fällen geschickt werden und ohne Zeit- und Spurenverlust Befunde erheben kann, wäre sicher ein Ideal.“
Auch aus psychologischer Sicht wäre eine übergeordnete Koordinationsstelle jedenfalls zu begrüßen, betont Mag. Hedwig Wölfl, Klinische Psychologin sowie Geschäftsführerin des Kinderschutzzentrums „die möwe“. „Sicherlich ist der Zeitfaktor von Bedeutung, wenn es um die Sicherstellung medizinischer Spuren geht. Aus psychologischer Sicht kommt es zudem auf die Expertise in der Befragung an, gerade nach Fällen von sexuellem Missbrauch.“ Dabei sind oft „digitale Spuren“ sicherzustellen, die sich aus der Befragung ergeben. Die Bezeichnung „Gewaltambulanz“ sei jedoch zu hinterfragen, betont Wölfl; besser wäre etwa „Gewalt-Schutz-Ambulanz“.
Dies unterstreicht auch Univ.-Doz.in Dr.in Sabine Völkl-Kernstock, leitende Klinische Psychologin an der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am AKH/Medizinische Universität Wien. Zudem müssten auch Ärztinnen und Ärzte im Krankenhaus geschult sein, wie sie mit dem Kind sprechen, um nicht das gesprochene Wort als Beweis zu verlieren. Eine Erstbefragung durch speziell ausgebildete Psychologinnen und Psychologen wäre daher eine Überlegung vor dem Hintergrund, dass gerade sehr junge Kinder sehr anfällig für Suggestionen sind.
An Kinderschutzgruppen zuweisen
Der deutsche Pädiater Herrmann verweist zudem darauf, dass an einer „Gewalt(schutz)ambulanz“ der Fokus nur auf akuten Übergriffen liegen würde. „Ein großer Anteil der Betroffenen sucht allerdings oft erst Wochen, Monate oder gar Jahre später Hilfe.“ Es müsse daher an allen Gesundheitseinrichtungen Konzepte dafür geben, wie mit Personen nach Gewalterfahrungen umgegangen wird. „Selbst die beste Forensik löst das Problem der sexualisierten Gewalt nicht, es braucht dafür eine Pyramide der kinderschutzmedizinischen Regelversorgung“, betont Herrmann. Abgesehen davon verursachen Gewalt oder Vernachlässigung von Kindern enorme volkswirtschaftliche Folgekosten, Schätzungen zufolge wären dies in Deutschland rund 30 Milliarden Euro pro Jahr.
Sein österreichischer Kollege Prim. Dr. Reinhold Kerbl, Vorstand der Abteilung für Kinder und Jugendliche am LKH Hochsteiermark in Leoben sowie Generalsekretär der ÖGKJ und Vizepräsident der PIKÖ, verweist auf die Kinderschutzgruppen an allen Kinder- und Jugendabteilungen. „In Leoben haben wir sehr gute Erfahrungen damit. Auch niedergelassene Ärztinnen und Ärzte können übrigens an die Gruppe zuweisen.“
Da geht es oft zunächst um die Frage, ob überhaupt Gewalt stattgefunden hat oder nicht, wie Kerbl am Beispiel eines 5-jährigen Buben mit Strangulationsmerkmalen am Hals berichtet: „Zunächst lag die Vermutung nahe, dass die Verletzungen beim Spielen durch andere Kinder verursacht wurden. Die Kindergartenpädagogin berichtete jedoch davon, dass dies nicht das erste Mal vorgekommen sei.“ Eine intensive Zusammenarbeit des medizinischen Teams mit der Kinder- und Jugendhilfe sowie Sozialarbeit führte zur weiteren Verfolgung des Falles. Allerdings, so Kerbl, erhalten die Ärztinnen und Ärzte nach der Meldung an die Kinder- und Jugendhilfe keine Rückmeldungen darüber, wie es den Kindern weiter ergeht. „Da gehen ganz wichtige Informationen verloren und es gilt abzuwägen, wie Kinderschutz und Datenschutz hier vereinbart werden könnten.“
Anzeigepflicht für die Ärzteschaft
Im österreichischen Ärztegesetz ist die Verschwiegenheits-, Anzeige- und Meldepflicht geregelt. Ärzte und Ärztinnen sind dann zur Anzeige verpflichtet, wenn sie im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit bei minderjährigen Patientinnen und Patienten das Bestehen von Misshandlung, Vernachlässigung oder sexuellem Missbrauch für wahrscheinlich oder möglich erachten. In einer Novelle aus dem Jahr 2001 wird der Ärzteschaft jedoch ein Ermessensspielraum eingeräumt: Eine Anzeige muss zunächst nicht erfolgen, wenn sich der Verdacht gegen einen Angehörigen bzw. eine Angehörige richtet und das Unterbleiben der Anzeige zum Wohl des bzw. der Minderjährigen ist. Hierbei muss auch daran gedacht werden, dass ein Kind evtl. wieder in die Umgebung, in der es Gewalterfahrungen gemacht hat, zurückgeschickt wird.
Wird eine Anzeige unterlassen, ist eine weitere Voraussetzung, dass eine Zusammenarbeit mit einem Jugendwohlfahrtsträger erfolgt und ggf. die Kinderschutzeinrichtung an einer Krankenanstalt miteinbezogen wird. In einer solchen Kinderschutzgruppe arbeiten Fachärztinnen und Fachärzte für Pädiatrie und weiterer Fachrichtungen, Pflegepersonal sowie Fachpersonen aus Psychologie/Psychotherapie und Sozialarbeit zusammen.
Unterbleiben darf eine Anzeige hingegen nicht, weil eine erziehungsberechtigte Person des Kindes das nicht möchte.
Podiumsdiskussion/Fachtagung der Plattform für interdisziplinäre Kinder- und Jugendgynäkologie Österreich (PIKÖ), Wien, 20.10.2023.
Moderation: Dr. Sigrid Schmidl-Amann, Fachärztin für Gynäkologie und Geburtshilfe, Vorstandsmitglied der PIKÖ
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