25. Okt. 2023Raucherentwöhnung

Harm Reduction: „Besser als ein Stein am Schädel“

Pragmatismus oder Prinzipientreue um jeden Preis? Um die Frage, ob Alternativprodukte zur Raucherentwöhnung eingesetzt werden sollen, tobt ein erbitterter Glaubenskrieg.

E-Zigarette –  Verdampfer – Akku – Liquid
Pixelot/AdobeStock

Die gesundheitlichen, sozialen und wirtschaftlichen Schäden im Zusammenhang mit dem Konsum psychoaktiver Substanzen zu verringern: So lässt sich das Prinzip der „Harm Reduction“ (Schadensminimierung) auf den Punkt bringen, nach dem heutzutage bei der Abhängigkeit von illegalen Drogen, aber auch bei Alkoholabhängigkeit, verfahren wird. In Zusammenhang mit Nikotinabhängigkeit ist dieser Ansatz allerdings umstritten.

Darüber und über die ethischen Aspekte von Harm Reduction sprachen wir mit Hon. Prof. (FH) Dr. Bernhard Rupp, MBA, Leiter der Abteilung Gesundheitspolitik der Kammer für Arbeiter und Angestellte für Niederösterreich.

medonline: Wie sind Sie dazu gekommen, sich mit dem Thema Harm Reduction zu beschäftigen?

Hon. Prof. (FH) Dr. Bernhard Rupp, MBA: Ich war jahrelang Psychiatriekoordinator des Landes Niederösterreich, habe auch am damaligen Suchtplan mitgewirkt. Damals habe ich erfahren, wie schwer es Suchtkranken fällt, von ihren Substanzen loszukommen. Und als Geschäftsführer im damaligen niederösterreichischen Gesundheits- und Sozialfonds habe ich gesehen, dass es in der Praxis einen gewissen Pragmatismus braucht: Damals gab es in einigen Krankenhausabteilungen einen sogenannten „Stationsdoppler“ – also eine Flasche Wein für alkoholkranke Patientinnen und Patienten. Natürlich ist Alkoholkonsum auch im Krankenhaus nicht gesund, aber die Ärztinnen und Ärzte waren der Ansicht, dass man Abhängige nicht einfach auf Entzug setzen könne. Der „Stationsdoppler“ war also auch schon eine Art von Harm Reduction.

Das heißt, mit einem kleineren Übel wird ein größeres Übel – in diesem Fall etwa ein potenziell drohendes Delir – verhindert.

Genau. Das Prinzip der Schadensminimierung ist ja in vielen Lebensbereichen nichts Außergewöhnliches. Die Helmpflicht beim Motorradfahren, der Sicherheitsgurt im Auto – all das ist Harm Reduction. Auch bei der Behandlung der Abhängigkeit von illegalen Substanzen hat sich Harm Reduction in Form der Substitutionstherapie durchgesetzt. Natürlich ist die Einnahme der entsprechenden Substanzen nicht gesund, aber auf diese Weise wird der Schaden für die Suchtkranken und für die Allgemeinheit möglichst gering gehalten. In Niederösterreich würde man sagen: Besser als ein Stein am Schädel.

Warum ist das Thema Harm Reduction in Zusammenhang von Nikotinabhängigkeit so umstritten?

Das verstehe ich auch nicht so ganz. Das Beharren auf der „quit or die“-Philosophie verwehrt einer großen Zahl von Rauchenden, die bislang erfolglos einen Weg fort von der Zigarette gesucht haben, eine wesentliche Option. Es gibt ja Alternativen zur Zigarette, die nach heutigem Wissensstand zwar auch nicht gesund, aber weniger gesundheitsschädlich sind (z.B. Tabakerhitzer oder E-Zigaretten, Anm. d. Red.). Aber die nationalen Gesundheitsbehörden wollen davon bislang nichts wissen. Als vor wenigen Jahren im Gesundheitsministerium eine neue Tabakstrategie diskutiert wurde, stand das Thema Harm Reduction nicht einmal auf der Tagesordnung.

Die Gegner argumentieren, dass diese Alternativen auch gesundheitsschädlich seien und noch zu wenig Evidenz vorliege, ob es sich um ein probates Mittel zum Rauchstopp handelt.

In diesem Zusammenhang wird einfach nicht mit gleichem Maß gemessen. Immer wieder werden neue Technologien eingeführt, ohne dass deren mögliche gesundheitliche Auswirkungen auf die Goldwaage gelegt werden. Die Ärztekammer Wien hat beispielsweise zuletzt im Jahr 2020 auf die möglichen negativen gesundheitlichen Folgen der 5G-Technologie für das Telefonieren mit dem Handy hingewiesen. Trotzdem erhebt niemand ernsthaft die Forderung, die Nutzung von Handys einzuschränken, ganz im Gegenteil. Auch bei der industriellen Nahrungsmittelherstellung wurde in der Vergangenheit nicht eben darauf gewartet, dass Langzeitstudien für irgendwelche Zusatzstoffe vorliegen. Dabei hat gerade eben eine Studie ergeben, dass hochverarbeitete Lebensmittel, insbesondere Snacks, süchtig machen können. Ich warte immer noch auf eine nationale Resonanz dazu.

Haben Sie eine Idee, woher diese Ablehnung kommt?

Es handelt sich um so etwas wie einen Glaubenskrieg. Beim Alkohol und der Alkoholpolitik zum Beispiel gibt es seit jeher 2 diametral entgegengesetzte Positionen: einen restriktiven Ansatz, der jeglichen Alkoholkonsum negativ betrachtet, und einen liberalen Ansatz, der einem moderaten Alkoholkonsum neutral bis positiv gegenübersteht. Das lässt sich auch auf den Nikotinkonsum übertragen. Der Suchtexperte Dr. Alfred Uhl hat dies einmal mit der religiösen Prägung erklärt: Die Vertreter des restriktiven Ansatzes stehen in einer strengen protestantischen Tradition, wie sie in der englischsprachigen Welt vorherrscht, die Vertreter des liberalen Ansatzes stehen eher in einer katholischen Tradition, in der kleine Sünden vergeben werden. Der restriktive Ansatz wird häufig als „Bevölkerungsansatz“ oder „Public-Health-Ansatz“ bezeichnet und hat nur die größtmögliche Gesundheit der Bevölkerung im Sinn. Der liberale Ansatz hingegen orientiert sich an den Gesundheitsförderungsgrundsätzen der Ottawa Charta, die darauf abzielt, die Menschen dazu zu befähigen, gesunde Entscheidungen zu treffen, ihnen aber nicht vorzuschreiben, wie sie sich zu verhalten haben.

Und Sie sind ein Vertreter des liberalen Ansatzes?

Meine Meinung lautet: Wir sollten den Menschen Hilfe anbieten, wo immer es möglich und gewünscht ist. Aber wir dürfen ihnen nicht vorschreiben, wie sie ihr Leben zu führen haben. Gesundheit als oberste Bürgerpflicht und absolute Genussfreiheit kann doch nicht unser Ziel sein. Außerdem funktioniert dieser Ansatz nicht. Auch die Prohibition in den USA in den 1920er und 30er Jahren hat nicht dazu geführt, dass eine gesündere Gesellschaft entstanden ist. Man öffnet nur illegalen Organisationen Tür und Tor, die dann mit nicht qualitätsgeprüften Produkten den Markt überschwemmen.

Haben Sie den Eindruck, dass sich dieser liberale Ansatz bzw. Harm Reduction beginnt durchzusetzen?

Der Mainstream in Österreich ist noch unbeeindruckt davon. Ich würde mir vor allem wünschen, dass das Thema Harm Reduction bei den Allgemeinmedizinerinnen und Allgemeinmedizinern ankommt. Es gibt seit Kurzem ein Konsensuspapier zur Raucherentwöhnung in der allgemeinmedizinischen Praxis*, in dem Harm Reduction mithilfe von Alternativprodukten als Option für den Rauchstopp aufgezeigt wird. Wenn sich die Allgemeinmedizinerinnen und -mediziner damit auseinandersetzen, könnte vielen Menschen geholfen werden. Derzeit müssen sich Suchtkranke, die aus welchen Gründen immer aufhören wollen zu rauchen und Alternativen suchen, ihre Informationen in der Trafik holen. „Zu Wirkungen und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt oder besser noch Ihren Trafikanten“ – das ist für mich keine sehr wünschenswerte Vorgangsweise für die Zukunft.

Raucherentwöhnung in der allgemeinmedizinischen Praxis
Konsensus-Statement unter der Ägide von AM Plus

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Interview, das die Meinung des Interviewpartners wiedergibt; der Beitrag entspricht nicht unbedingt der Meinung von Redaktion und Herausgeber.