Retinoschisis: „Es fehlt an rechtzeitigen Informationen über Hilfsmittel“
Verursacht durch die X-chromosomal vererbte Retinoschisis erblindete Onur Kinavli im Schulalter am linken Auge, auf dem rechten hat er nur 10% Sehkraft. Heute arbeitet Kinavli als Kaufmann für E-Commerce im Bereich Marketing und spielt in einer Hobbymannschaft Fußball – das damit verbundene Risiko nimmt er bewusst auf sich.
Bis zum Alter von 6 Jahren hatte der heute 39-jährige Onur Kinavli keine Bedenken, dass mit seinen Augen etwas nicht in Ordnung wäre. Doch ein Sehtest bei der Einschulung zeigte Auffälligkeiten: „Ich erinnere mich noch gut daran, dass ich anstatt der Zeichen im Sehtestgerät nur Wellen gesehen habe.“ Eine genauere augenärztliche Abklärung führte rasch zur Diagnose Retinoschisis. Die in Esslingen bei Stuttgart (D) beheimatete Familie wurde daraufhin nach Köln zu einem Experten für Netzhauterkrankungen geschickt. „Innerhalb von 9 Monaten wurde ich dann dreimal in Folge am Auge operiert, wobei nach meinem Verständnis unter anderem versucht wurde, die Netzhaut mit Silikon gewissermaßen anzukleben“, schildert Kinavli im Gespräch mit medonline.
Das linke Auge wurde dem damaligen Schulkind zugeklebt, auch auf dem rechten nur kleines Sehloch belassen. Die Teilnahme am Schulunterricht gestaltete sich dadurch und auch durch die Krankenhausaufenthalte schwierig. „Zum Glück waren meine Lehreinnen und Lehrer so verständnisvoll, dass ich keine Klasse wiederholen musste“, erzählt Kinavli rückblickend. Seine Mitschülerinnen und Mitschüler halfen ihm zudem, da Kinavli etwa Geschriebenes an der Tafel oder an die Wand projizierte Texte nicht lesen konnte.
Während eines Krankenhausaufenthaltes zeigte ihm ein anderes Kind den Umgang mit dem Gameboy. „Wir haben gemeinsam Super Mario gespielt, obwohl ich nichts davon sehen konnte. Ich habe gelernt, mich an den akustischen Signalen zu orientieren und mir die Szenen gemerkt.“ Auch heute noch hilft ihm seine Vorstellungskraft oft im Alltag.
Erfolgreiche Umschulung
Obwohl Kinavli im Alter von 12 Jahren links sein Augenlicht schließlich ganz verlor, konnte er die Hauptschule abschließen und das Berufsvorbereitungsjahr absolvieren. „Hätte ich rechtzeitig Informationen über Hilfsmittel wie etwa Bildschirmlesegeräte gehabt, wäre meine Bildungslaufbahn sicher anders verlaufen“, betont Kinavli. Erst vor rund 3 Jahren bekam er Informationen dazu über die Nikolauspflege – Kompetenzzentren für Blindheit, Sehbehinderung und Mehrfachbehinderung (www.nikolauspflege.de), sodass er heute 2 Monitore zur Vergrößerung, ein iPad sowie ein iPhone mit entsprechenden Anwendungen für Menschen mit Sehbehinderung nutzen kann. Nach einer Umschulung zum Kaufmann für E-Commerce arbeitet Kinavli heute in der Werbeagentur seines Vaters im Vertrieb sowie im Bereich Social Media.
Mit seinem Augenarzt in Deutschland, der ihn seit vielen Jahren betreut, steht Kinavli in engem Austausch. Alle 3–6 Monate erfolgen Kontrollen, „derzeit ist die Netzhaut stabil“, berichtet Kinavli. Erst kürzlich musste jedoch eine schmerzhafte Verkalkung an der Bindehaut operativ entfernt werden. „Eine Ärztin im Krankenhaus hat mich darauf aufmerksam gemacht, mich nach einer möglichen Amputation des linken Auges zu informieren. Ich habe mich aktuell jedoch dagegen entschieden. Das Auge gehört zu mir, auch wenn ich weiß, dass es irgendwann raus muss.“ Bewusst hat sich Kinavli sein Auge innen an den linken Arm tätowieren lassen.
Zu akzeptieren, dass er eine unheilbare Augenerkrankung habe, beschreibt Kinavli heute als eine der größten Herausforderungen: „Als Jugendlicher habe ich mir immer meine Haare über das Auge wachsen lassen, damit es niemand sehen kann. Erst eine erste Verliebtheit mit 19 Jahren, wo mir die junge Frau zeigte, dass sie mich akzeptiert, wie ich bin, hat mir geholfen, mich auch selbst zu akzeptieren.“ Auch für seine Familie seien die ersten Jahre nach der Diagnose eine enorme Herausforderung gewesen: „Mein Vater hätte am liebsten sein eigenes Auge für eine Transplantation gespendet, wenn dies möglich gewesen wäre. Auch mein 4 Jahre jüngerer Bruder hat sicher unter den vielen Krankenhausbesuchen gelitten, zu denen er immer mitkommen musste.“
„Fast blind“ – und Fußball-Star
Überregional bekannt ist Kinavli in Deutschland mittlerweile deshalb, weil er mit seiner Behinderung in einer Hobby-Mannschaft als Torwart Fußball spielt und sogar eine Nachwuchs-Mannschaft trainiert. Dabei wurde ihm schon als Kind ärztlicherseits jeglicher Sport mit Bällen verboten und dringend empfohlen, Erschütterungen zu vermeiden. „Heimlich habe ich schon mit 6 Jahren Fußball gespielt, mit dem Okay der Eltern dann ab 12.“ Da kein Verein den sehbehinderten Sportler aufnehmen wollte, gründete er gemeinsam mit Freunden die Hobby-Mannschaft Betonspor 2004 e.V., die in ihrer Liga 2009 sogar die Meisterschaft gewonnen hat. „Jeder von uns hat irgendein gesundheitliches Problem: Mal sind es die Bandscheiben, mal Herzprobleme oder Diabetes“, erzählt Kinavli. Der Verein leistet zudem Integrationsarbeit auf professioneller Ebene.
Die häufigste Frage, die Kinavli als Fußballer gestellt wird: „Wie machst du das, du siehst doch praktisch nichts?“ Kinavli antwortet darauf, dass er sehr viel mit seiner Vorstellungskraft arbeitet – und alle bezeugen ihm, dass er ein guter Tormann ist! Als Jugendtrainer erhält er Unterstützung von Ko-Trainern: „Ich kann zwar erkennen, dass ein Kind mit dem Ball läuft, aber nicht, wer es ist.“ Auch seinen Schützlingen empfiehlt er, sich vor jedem Spiel den Spielablauf vor dem inneren Auge vorzustellen.
Mut machen und informieren
Für den „Augenarzt seines Vertrauens“ sei der Sport ein Dilemma, wie Kinavli erzählt. Immerhin sei die Gefahr groß, dass er durch einen Aufprall des Balles ganz erblinden könnte. Kinavli ist mittlerweile auch gefragter Speaker bei Firmen- oder Sportveranstaltungen zum Thema Motivation und ebenso Vorbild für andere Menschen mit unheilbaren Augenerkrankungen. „Ich bekomme immer wieder Anfragen über die Sozialen Medien von Jugendlichen, die verzweifelt sind, weil sie gerade die Diagnose bekommen habe. Da bemühe ich mich darum, ihnen Mut zu machen.“ Kinavli appelliert zudem an Augenärztinnen und Augenärzte, Informationen über Hilfsmittel und Unterstützungen bei Sehbeeinträchtigung weiterzugeben.
Fakten-Check: Retinoschisis
Die X-chromosomale Retinoschisis (XLRS) ist eine genetische Augenkrankheit männlicher Patienten mit Verlust der Sehkraft durch juvenile Makuladegeneration. Die Erstmanifestation durch Sehschwäche und Leseschwierigkeiten erfolgt oft im Kindesalter, kann aber erst im Erwachsenenalter vorkommen. Schätzungen zufolge beträgt die Prävalenz unter Männern weltweit 1–9/100.000. Frauen als Überträgerinnen haben nur selten Sehstörungen.
Typische Veränderungen am Augenhintergrund bestehen in mikrozystischen Veränderungen der Netzhaut in der Makula-Region und Aufspaltungen in der Nervenfaserschicht oder Schisis (Radspeichen-Muster) und Schleier im Glaskörper. Die Diagnose kann daher klinisch gestellt werden, auch eine Familienanamnese weist auf die X-chromosomale Vererbung hin. Ursache der Krankheit sind Mutationen im RS1-Gen (Xp22). In der Familie Kinavli ist etwa neben Onur Kinavli auch ein Cousin davon betroffen.
Die Erkrankung bleibt üblicherweise bis zum 4. oder 5. Lebensjahrzehnt stabil, worauf dann mit einer Verschlechterung gerechnet werden muss. In schweren Fällen kommt es zu vollständiger Ablösung der Netzhaut mit stark verminderter Sehkraft oder Erblindung. In weiter fortgeschrittenen Stadien der Krankheit können Glaskörperblutungen, Netzhautablösung und neovaskuläres Glaukom auftreten und einen schweren Visusverlust auslösen. Zum Management gehören regelmäßige augenärztliche Kontrollen. Patienten sollten zudem über chirurgische Eingriffsmöglichkeiten bei Komplikationen aufgeklärt werden, ebenso über Möglichkeiten im Umgang mit Sehbeeinträchtigungen oder Erblindung.
Informationen zum Thema Hilfsmittel bietet in Österreich u.a. der Blinden und Sehbehindertenverband
www.bsv-austria.at