Wider das Abstinenzparadigma
Schadensminimierung („Harm Reduction“) beim Nikotinkonsum stand im Mittelpunkt eines mit hochkarätigen Suchtexperten besetzten Kongresses in Wien.
„Schadensminimierung ist mittlerweile ein selbstverständlicher Zugang in der Suchtarbeit“, erklärt Priv.-Doz. Dr. Alfred Uhl, stellvertretender Leiter des Kompetenzzentrums Sucht in der Gesundheit Österreich GmbH. Die offizielle österreichische Suchtstrategie etwa fordere Flexibilität und Sachlichkeit, um negative Auswirkungen und Schäden im Zusammenhang mit dem Gebrauch von legalen und illegalen Suchtmitteln für Einzelne und für die Gesellschaft so gering wie möglich zu halten. „Statt Abstinenz als ideologischem Selbstzweck wird die Minimierung der Probleme für alle Beteiligten angestrebt“, bringt es Uhl auf den Punkt. In Zusammenhang mit illegalen Drogen ist der Ansatz der Harm Reduction – wie die Schadensminimierung im internationalen Kontext bezeichnet wird – unumstritten. Auch bei der Alkoholabhängigkeit wird das sogenannte kontrollierte Trinken immer mehr zum Standard. Bei einer weit verbreiteten Sucht allerdings schlägt den Proponenten der Harm Reduction ein rauer Wind entgegen: bei der Nikotinabhängigkeit. Hier sei nach wie vor das „bedingungslose Abstinenzparadigma“ bestimmend, klagte Uhl auf der 1. Harm Reduction D.A.CH Konferenz, die im Juni in Wien stattfand.
In Norwegen ist Snus verbreitet
„Es gibt viele Puristen, die sich eine nikotinfreie Gesellschaft wünschen“, seufzte Dr. Karl E. Lund, leitender Forscher am Norwegischen Institut für Public Health (NIPH): „Das Ziel von Pragmatikern, wie ich einer bin, ist es jedoch, die durch Zigarettenrauchen verbundenen Erkrankungen zurückzudrängen.“ Die süchtig machende Substanz Nikotin selbst nämlich spiele für die Entstehung dieser Erkrankungen nur eine untergeordnete Rolle. Vielmehr seien es die bei der Verbrennung von Tabak entstehenden, zum Teil hochgiftigen Substanzen, die Krebs, Lungen- und kardiovaskuläre Erkrankungen auslösen. Lund spricht sich daher für den Einsatz von Alternativprodukten wie E-Zigaretten oder Tabakerhitzern aus, um Raucherinnen und Raucher von der Zigarette wegzubekommen.
Norwegen ist ein Paradebeispiel dafür, dass dies gelingen kann. In dem skandinavischen Land ist – ebenso wie in Schweden – Snus verbreitet. Dabei handelt es sich um ein Tabakprodukt, das in Form kleiner Beutel oder als Paste zwischen Lippe und Zahnfleisch geschoben wird und Nikotin abgibt und über die Mundschleimhaut in den Blutkreislauf gelangt. Noch vor 22 Jahren wurden in Norwegen 93% des Tabaks in Form von industriell hergestellten bzw. selbstgerollten Zigaretten konsumiert. Heute wird mehr als die Hälfte des in Norwegen verbrauchten Tabaks in Form von Snus konsumiert.
Der Gebrauch von Snus ist nicht frei von Gefahren: Nutzerinnen und Nutzer haben ein erhöhtes Risiko für Ösophagus- und Magenkrebs, ein erhöhtes Mortalitätsrisiko nach einem Myokardinfarkt, Snus kann zu Frühgeburten führen und bei intensivem Konsum zu einem erhöhten Diabetes-Risiko. Mit jenen drei Erkrankungen, die für 70% der mit dem Zigarettenkonsum zusammenhängenden Todesfälle bei Raucherinnen und Rauchern verantwortlich sind, ist Snus jedoch nicht assoziiert, wie Lund betont: mit Leukämie, Atemwegserkrankungen und kardiovaskulären Erkrankungen.
Schaden minimieren, nicht verurteilen
Daher propagieren viele Suchtmediziner und -medizinerinnen für Harm-Reduction-Strategien auch im Bereich des Nikotinkonsums. Laut der International Harm Reduction Association (IHRA) sind dies Programme und Projekte, die darauf abzielen, die gesundheitlichen, sozialen und wirtschaftlichen Schäden im Zusammenhang mit dem Konsum psychoaktiver Substanzen zu verringern. „Es handelt sich um einen wissenschaftsbezogenen, evidenzbasierten und kosteneffizienten Ansatz, der dem Einzelnen, der Gemeinschaft und der Gesellschaft Vorteile bringt“, erklärt Univ.-Prof. Dr. Alfred Springer, Vorsitzender der Österreichischen Gesellschaft für arzneimittelgestützte Behandlung von Suchtkrankheit (ÖGABS) und emeritierter Leiter des Ludwig Boltzmann Institutes für Suchtforschung.
Tabak- bzw. Nikotinabhängige sollten nicht anders behandelt werden als andere Abhängige, fordert Springer. Er räumt allerdings ein, dass der Harm-Reduction-Zugang im Bereich der etablierten Alltagsdrogen schwieriger durchzusetzen sei als im Fall illegaler Substanzen: „Während bei Infragestellung der prohibitiven Einstellung beim Umgang mit illegalen Substanzen menschenrechtliche Argumente zum Einsatz kommen, basiert die prohibitive Haltung gegenüber Tabak und Alkohol ihrerseits selbst auf einer menschenrechtlichen Forderung: dem ,Health for All‘-Konzept der WHO.“ Dabei berufen sich auch die Befürworter von Harm Reduction auf die Menschenrechte. „Harm Reduction akzeptiert im Guten wie im Schlechten, dass legaler und illegaler Drogenkonsum Teil unserer Welt ist, und entscheidet sich dafür, an der Minimierung seiner schädlichen Auswirkungen zu arbeiten, anstatt ihn einfach zu ignorieren oder zu verurteilen“, fasst Springer deren Philosophie zusammen.
Harm Reduction D.A.CH Konferenz, Wien, 23.6.2023