Künstliche Intelligenz in der klinischen Praxis
Betroffene seltener Erkrankungen haben es oft nicht leicht. Auch im Bereich der Neurologie erhalten sie oft nicht dasselbe Maß an Behandlung wie Patientinnen und Patienten mit häufigeren neurologischen Erkrankungen. Künstliche Intelligenz (KI) soll dem ein Ende setzen. Obwohl die Entwicklungen stetig voranschreiten, gilt es dennoch einige Hürden zu überwinden.
Aufgrund der geringen Häufigkeit bestimmter Krankheiten ist das Fachwissen und die Kenntnis über diese nicht so umfassend wie bei häufig auftretenden Erkrankungen. Dr. Maria J. Molnar, Professorin für Neurologie und Direktorin des Instituts für Genomische Medizin und Seltene Krankheiten der Semmelweis-Universität in Budapest, erklärt, dass Patientinnen und Patienten mit seltenen neurologischen Erkrankungen oft nicht das gleiche Maß an Behandlung erhalten wie Personen mit häufigeren neurologischen Erkrankungen. „Es kommt immer wieder zu fehlenden oder falschen Diagnosen. Aufgrund der Seltenheit dieser Krankheiten ist es besonders wichtig, sich auf datenbasierte Erkenntnisse zu stützen“, erklärt die Expertin.
„Data sharing“ essenziell für seltene Erkrankungen
Das menschliche Gehirn ist in der Lage, zeitgleich fünf bis sieben verschiedene Hypothesen zu evaluieren. Künstliche Intelligenz kann hier Abhilfe leisten. Bei seltenen Erkrankungen besteht allerdings der Nachteil, dass oft nicht sehr viele Daten vorhanden sind, was die Qualität eines KI-basierten Algorithmus senkt. „Data sharing“ zwischen Organisationen ist daher essenziell für diesen Bereich.
Chatbots in der Medizin können gefährlich sein
Medizinerinnen und Mediziner haben heute zunehmend Zugang zu KI-basierten Tools, die sie bei Vorhersage, Diagnose, Therapie und Nachuntersuchung unterstützen können. Es ist jedoch wichtig, vorsichtig zu sein und sich nicht auf unsichere Tools zu verlassen, wie von der Expertin gewarnt wird. Sie betont, dass Chatbots, wie z.B. Chat GPT, nicht für die Unterstützung klinischer Entscheidungen entwickelt wurden und dass man sich nicht auf ihre Ergebnisse verlassen kann. Es besteht ein hohes Risiko, das in solchen Fällen sehr gefährlich sein kann.
KI-basierte Tools für klinische Entscheidungen
Es gibt jedoch auch andere Tools, die speziell für die Unterstützung klinischer Entscheidungen entwickelt wurden. Zum Beispiel können Sprachanalyse-Tools zur Vorhersage von kognitiven Veränderungen oder zur frühzeitigen Erkennung von Depressionen eingesetzt werden. Wenn es um die Diagnose seltener Erkrankungen geht, stehen Tools wie PHENOTIPSTM und Symptoma zur Verfügung. Darüber hinaus können auch Gesichtserkennungs-Tools wie FACE2GENE genutzt werden. Wenn es um die Suche nach geeigneten Therapien geht, erwähnt die Expertin die Plattform HealNet, die speziell für seltene Erkrankungen entwickelt wurde.
KI revolutioniert die Behandlung seltener Erkrankungen
Die Anwendung von KI zur Überwachung des Krankheitsverlaufs findet beispielsweise bei der Muskeldystrophie Anwendung. Dank Wearables und KI wird die Vorhersage des Krankheitsverlaufs verbessert. Durch die Verwendung von tragbaren Geräten, die die gesamte Körperbewegung erfassen, können Aktivitäten des täglichen Lebens analysiert werden, um den Krankheitsverlauf bei Kindern mit Duchenne-Muskeldystrophie vorherzusagen. Ein ähnliches System wird auch zur Vorhersage des Krankheitsverlaufs bei Friedreichs-Ataxie eingesetzt.
Herausforderungen bestehen
Die Expertin sieht noch einige Herausforderungen im Zusammenhang mit KI-basierten Diagnosetools:
- Mangelnde Transparenz: Es ist nicht immer klar, wie ein KI-basiertes Diagnosetool zu seinen Schlussfolgerungen gelangt.
- Mangel an standardisierten Prozessen: Es fehlen einheitliche und standardisierte Verfahren für den Einsatz von KI in der Diagnostik.
- Diagnosegenauigkeit: Die aktuelle Genauigkeit der KI-basierten Diagnosetools ist nicht immer besser als die erfahrener Expertinnen und Experten auf dem entsprechenden Gebiet.
- Fehlende behördliche Zulassung: Viele der verwendeten Tools haben noch keine offizielle Genehmigung oder Zulassung von Behörden erhalten.
- Mangelnde ethische und rechtliche Kontrolle: Es besteht eine Lücke in Bezug auf ethische und rechtliche Kontrollen bei der Anwendung von KI-basierten Diagnosetools, was potenzielle Risiken für Patientinnen und Patienten und Datenschutzfragen aufwerfen kann.
KI künftig Teil des klinischen Alltags?
Intelligente Systeme haben bereits die Fähigkeit, menschliche Aufgaben wie Sprachverständnis, Objekterkennung und komplexe Entscheidungsfindung zu übernehmen. „Innerhalb der nächsten 20 Jahre wird KI ein unverzichtbarer Bestandteil unseres täglichen Lebens sein. Viele Patient:innen werden durch KI-gesteuerte Telemedizin und virtuelle Assistenten bequem von zu Hause aus betreut werden können“, zeigt sich Molnar überzeugt.
Derzeit kann KI jedoch nur eine Ergänzung für Ärztinnen und Ärzte sein und diese nicht vollständig ersetzen. „Die erfolgreiche Integration von KI in die Praxis erfordert eine enge Interaktion zwischen menschlichen Erfahrungen und Fähigkeiten sowie algorithmischen Prozessen“, erklärt die Expertin.
„Developing and implementing decision support systems for the diagnosis and treatment of rare neurological disorders?“, Session im Rahmen des Kongresses der European Association of Neurology (EAN), Budapest & virtuell, 1.7.23