3. Mai 2023Deutscher Kongress für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie

FOMO betrifft längst nicht nur die Jugend!

Internet-Süchte, oft getriggert durch „Fear of missing out“ (FOMO), sind längst kein Phänomen der jüngeren Generationen mehr. Immer mehr Menschen sogar im Pensionsalter leiden an behandlungsbedürftigen digitalen Süchten, warnen Expert:innen im Vorfeld des Deutschen Kongresses für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie.

Bunte überlappende Silhouetten von Handynutzern
smartboy10/GettyImages

Die Betroffenen von Internet-Süchten haben bereits Ende der 1980er Jahre Computer gespielt und sind gewissermaßen mit dem neuen Medium mitgewachsen. Bei Online-Süchten sind die hirnphysiologischen Auswirkungen des Suchtverhaltens vergleichbar mit jenen bei stoffgebundenen Süchten, berichtet Dr. sc. hum. Dipl.-Psych. Klaus Wölfling, Leiter der Ambulanz für Spielsucht an der Universitätsmedizin Mainz. Abhängige können nicht aufhören, etwa „Egoshooter“ zu spielen, Pornographie zu konsumieren oder an Glücksspielen teilzunehmen. Die exzessive Computernutzung aktiviert das hirneigene Belohnungssystem. Jeder „Like“ auf Social Media ruft einen Dopaminschub hervor, wie Studien mit funktioneller Magnetresonanztomographie belegen. Die WHO trägt dem im ICD-11 Rechnung und listet nunmehr Internet-, Computer- oder Glücksspielsucht unter Suchterkrankungen; sie werden damit etwa der Kokain- oder Alkoholsucht gleichgestellt.

An Wölflings Arbeitsplatz, der Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in Mainz, hat seit 2021 die Zahl der Erwachsenen zwischen 30 und 67 Jahren mit behandlungsbedürftigen Internet-Süchten um 25 Prozent zugenommen. Männer nutzen tendenziell häufiger Online-Pornographie, Computer- oder Glücksspiele, während bei Frauen die Online-Kaufsucht oder Aktivitäten in Sozialen Netzwerken im Vordergrund stehen.

Pandemie und Einsamkeit haben dieses Suchtverhalten bei vulnerablen Personen gefördert – „sie bekommen ein besseres Gefühl durch die Belohnungen aus dem digitalen Bereich“, betont Wölfling.

Die Therapie erfolgt nach Möglichkeit ambulant, wobei eine Online-Beratung den Weg in die Offline-Therapie bahnen kann. In Gruppen und Einzelsitzungen sollen abhängige Personen lernen, sich dem Medium zu entziehen. Bei stark ausgeprägtem Suchtverhalten kann eine stationäre Therapie über sechs bis acht Wochen indiziert sein, vor allem wenn Entzugserscheinungen wie innere Unruhe oder Aggressivität auftreten. „Es kommt dabei jedoch auf die Möglichkeiten der Nachsorge an“, ergänzt Wölfling.

Psychotherapie unterstützt gesundes Altern

Unter dem Motto „Altern im Wandel – Perspektiven und Handlungsfelder“ werden beim Deutschen Kongress für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie weiters Ergebnisse zum Nutzen der Psychotherapie für ältere Menschen diskutiert. Kongress-Präsident Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Manfred Beutel betonte dazu bei einer Online-Pressekonferenz vorab, dass psychische und soziale Belastungen in Kindheit und Jugendalter nicht nur seelische Erkrankungen und verminderte Lebensqualität, sondern auch vorzeitiges Altern und den Verlust gesunder Lebensjahre nach sich ziehen.

Biologisch nachweisbar sind die Folgen früher Traumatisierungen etwa in einer chronischen Aktivierung des Stresssystems sowie in einer Verkürzung der Telomere, den „Schutzkappen“ an den Enden der Chromosomen. „Zudem wissen wir heute, dass nachteilige Kindheitserfahrungen die Immunabwehr beeinträchtigen und sogar die Muskelkraft schwächen können“, sagt Beutel. Schutzfaktoren bieten vor allem positiv erlebte soziale Beziehungen.

Eine Psychotherapie kann zudem – auch im höheren Alter – die Aufarbeitung der Traumata sowie die soziale Einbindung unterstützen. Viel zu lange, so Beutel, wurden selbst in Fachkreisen die Veränderungsmöglichkeiten älterer Menschen unterschätzt. „Durch eine Psychotherapie kann das Älterwerden akzeptiert und ein gesunder Umgang mit dem eigenen Körper erarbeitet werden.“ Zudem treten mit gesundheitlichen Einbußen im Alter oft Ängste und Depressionen wieder auf. Bedeutsam sei es daher, die ältere Generation zu motivieren, in einer Therapie über sich und ihre Gefühle zu sprechen. Auf die Frage nach Versorgungsengpässen meint Beutel allerdings, diese „lege den Finger in eine offene Wunde“, denn in Deutschland gibt es so wie in Österreich lange Wartezeiten auf Kassenplätze. Offen bleibt auch, ob eine klinische und gesundheitspsychologische Beratung etwa bei der Unterstützung des Gesundheitsverhaltens nicht ebenso effektiv ist.

Psychosozialer Stress und Risiko für Long Covid

Dr. med. Christine Allwang, Leitende Oberärztin an der Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Klinikum rechts der Isar der TU München, verweist auf rezente Forschungsergebnisse zum Zusammenhang zwischen Psyche und Long Covid. Wang et al. (2002) konnten zeigen, dass Menschen, die vor der Infektion mit dem Coronavirus beispielsweise unter depressiven Symptomen, Ängstlichkeit, der Sorge sich zu infizieren oder Einsamkeit litten, ein erhöhtes Risiko für eine Long-Covid-Symptomatik hatten.

Bei zwei der Faktoren war das Risiko um 50 Prozent erhöht. „Es handelt sich dabei nicht um psychische Vorerkrankungen, sondern um psychologische bzw. psychosoziale Faktoren, deren Einfluss nicht wegzudiskutieren ist“, betont Allwang.

„Seelenmechanik“ von Verschwörungstheoretikern

Querdenker:innen gab es schon immer, doch mit der Covid-Pandemie hat in den Augen vieler die Protestbewegung eine neue Dimension bekommen. Wir erleben so etwas wie eine Zeitenwende: Die These „Du kannst alles bekommen, wenn du nur willst“ funktioniere kaum mehr angesichts unsicherer Finanzlage und Pensionen oder der Überforderung durch die Digitalisierung, erklärt Prof. Dr. med. Stephan Herpertz, Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des LWL-Universitätsklinikums, Ruhr-Universität Bochum. „Kaum war Covid-19 auf dem Rückzug, kam der Ukraine-Krieg.“

Mit der zunehmenden Erfahrung der Unkontrollierbarkeit stößt die eigene Selbstwirksamkeit an ihre Grenzen.

Reaktionen darauf könnten dann in einer Art „panischer Sinnsuche“ gipfeln, mit Besinnung auf sich selbst verbunden mit dem Anspruch, nur selbst die Wahrheit zu kennen. Aggressives Verhalten und Auflehnung gegen wissenschaftliche und politische Eliten sind ebenso möglich wie Depressionen oder seelischer Rückzug. „Es ist leicht, vermeintliche Täter für die herrschende Unsicherheit und Strukturlosigkeit verantwortlich zu machen“, meint Herpertz. Auch eine ganze Wissenschaft – die Virologie – werde zur Rechenschaft gezogen. Die Ich-syntone Haltung und zugleich Dialog-Unfähigkeit erschwert dabei den Weg in die Behandlung, Zugangswege gilt es also zu finden.

Der Kongress findet von 3. bis 5. Mai 2023 in Berlin statt. Weitere Informationen:
https://deutscher-psychosomatik-kongress.de/