“Der einzig sichere Schutz vor Long Covid ist: kein Covid”
Die Corona-Infektionszahlen steigen nun in der kalten Jahreszeit, wie erwartet, wieder dramatisch an. Was uns und vor allem Hausärztinnen und Hausärzte in den kommenden Wochen erwartet und wie der „Corona-Herbst“ für Österreich wird, ist noch ungewiss. Wir fragten ÖGAM-Präsidentin Dr. Susanne Rabady, wie sie die derzeitige Lage in den allgemeinmedizinischen Ordinationen sieht.
Frau Dr. Rabady, wie ist die Lage derzeit in den allgemeinmedizinischen Ordinationen hinsichtlich Covid-19? Wie läuft der Alltag ab und wie unterscheidet er sich, nach wie vor, von der Zeit vor Corona?
Rabady: Der Alltag in den hausärztlichen Ordinationen unterscheidet sich schon sehr von der Zeit vor Corona. Die Kolleg:innen berichten auch schon wieder von einem massiven Anstieg der Covid-Kranken in den Ordinationen – die müssen ja jetzt krankgeschrieben werden und daher Kontakt aufnehmen, auch wenn sie schon positiv getestet sind.
Dazu kommt, dass die Selbsttests äußerst unzuverlässig sind und daher bei Symptomen und negativem Selbsttest der Arztbesuch zum korrekten Antigentest nötig wird. PCR-Tests sind ja nicht in allen Bundesländern niederschwellig verfügbar.
Jede Art von Infektionssymptom braucht die Differenzialdiagnostik. Bedauerlicherweise gibt es derzeit einen sehr schlechten Überblick über das Infektionsgeschehen, von daher ist es enorm wichtig, dass man Bescheid weiß, wer nun tatsächlich an einer Corona-Infektion erkrankt ist, auch weil diese Menschen andere schützen müssen.
Hinsichtlich der Schwere wurde von den Kolleg:innen rückgemeldet, dass derzeit so gut wie keine schweren Verläufe in den hausärztlichen Praxen gesehen werden. Natürlich gibt es derzeit noch Hospitalisierungen mit der Diagnose Covid – die nehmen auch kräftig zu, aber kaum wegen schwerer Verläufe, sondern einerseits als Zufallsdiagnosen bei anderen Hospitalisierungsanlässen, andererseits aus betreuerischen Gründen.
Man hat derzeit mit Monitoring und Intensivbetreuungen weniger zu tun, als dies zuvor der Fall war. Seit der Durchimpfung ist dies in aller Deutlichkeit anders. Die meisten Allgemeinmediziner:innen haben sehr viel selbst geimpft und darauf geachtet, dass zumindest Risikopatient:innen durchgeimpft sind. Ungeimpfte Personen in der hausärztlichen Praxis sind selten. Das heißt, dass wir da hauptsächlich jene Patient:innen sehen, die bereits einen Schutz haben.
Hat sich, Ihrer Meinung nach, die Rolle der Hausärzt:innen während der Corona-Pandemie verändert?
Ja und nein. Nein insofern, als wir jeweils für all das zuständig waren, was im Zuge der Pandemie aktuell war. Anfangs war hier der Fokus sehr stark auf Schutz vor Verbreitung und schwerer Erkrankung. Auch die Überwachung und vor allem das Erkennen und Einleiten des Schutzes der anderen sowie das Aufrechterhalten der Regelversorgung waren ganz zentral.
Und ja insofern, dass viele Kolleg:innen von einem Mangel an Pflegekräften in den Heimen und einem Ärzt:innen- und Pflegekräftemangel in den Spitälern berichten. Das nehmen wir auch verstärkt wahr. Diesen Mangel empfinden viele Allgemeinmediziner:innen als sehr bedrohlich und diese Sorge ist sicherlich nach den ersten Corona-Wellen nun verstärkt.
Was ist in Zukunft noch zu erwarten?
Die Rolle der Hausärzt:innen wandelt sich ständig, aber man passt sich an. Nun kommen natürlich Long Covid und die oralen antiviralen Therapien dazu. Das gehört nun zu unserem Alltag.
Erkrankte Personen zu behandeln ist natürlich nichts Neues, aber derzeit sind wir schon mit einer enormen Informationsflut bei weiterhin bestehenden zahlreichen Ungewissheiten konfrontiert – kombiniert mit hohem Arbeitsaufkommen und Entscheidungsdruck.
Seit August wird eine Covid- Infektion wie jede andere Erkrankung behandelt. Es gibt auch keinen Absonderungsbescheid mehr, der als Krankmeldung gilt. Patient:innen müssen sich also wieder bei Allgemeinmediziner:innen krankschreiben lassen. Inwiefern haben die allgemeinmedizinischen Praxen ausreichend Ressourcen dafür, auch hinsichtlich einer möglichen Grippewelle im Herbst?
Es kommen nun ja auch andere Infektionskrankheiten hinzu, wie die Affenpocken und natürlich die diversen Erkältungsviren. Im Grunde genommen hat das Krankschreiben hinsichtlich der Betreuungsqualität einen Vorteil, denn man trifft Patient:innen wieder in der Ordination an.
Wir haben zuvor sehr oft erlebt, dass Patient:innen nach Quarantäne-Ende wieder in die Arbeit gegangen sind, obwohl sie noch nicht gesund waren. Aus unserer letzten Studie wissen wir, dass rund 50 Prozent der Menschen nach den 14 Tagen nicht gesund sind. Diese Patient:innen sollen nicht arbeiten gehen, denn so wird auch Long Covid begünstigt.
Der persönliche Patientenkontakt bietet auch die Möglichkeit, Patienten anzuweisen, bei anhaltenden Symptomen oder neu auftretenden Beschwerden wieder vorstellig zu werden. Der durch die Krankschreibung erreichte Arztkontakt hat also auch Vorteile.
Wie wird der Corona-Herbst? Wie schätzen Sie die aktuelle Situation ein? Die Gefahr könnte eine neue Variante sein, vor der manche bereits warnen.
Die Inzidenz steigt ja schon wieder massiv an. Ein schwerer Verlauf wird nicht unser Problem werden, da der Prozentsatz dafür zum Glück sehr niedrig ist. Sehr hohe Infektionszahlen sind das Hauptproblem, denn diese hohen Zahlen bedingen Krankenstände.
Zusatzkrankenstände sind nicht mehr verkraftbar, aber wir können auch nicht verkraften, dass Patient:innen nicht in den Krankenstand gehen, obwohl sie ihn eigentlich brauchen, weil die Zahlen dann noch höher werden und zweitens die Gefahr einer Long-Covid-Erkrankung einfach zu groß ist.
Was bedeutet das konkret für die allgemeinmedizinischen Ordinationen? Was wird im Herbst Neues auf Kolleg:innen zukommen?
Natürlich muss weiterhin geimpft werden. Patient:innen müssen auf den Schutz der Impfung hingewiesen werden.
Ich sehe nach wie vor viele ältere Personen in öffentlichen Verkehrsmitteln ohne FFP2-Maske. Das ist auch mit Vierfach-Impfung leichtsinnig. Hausärzt:innen können natürlich im Sinne einer umfassenden Patientenedukation darauf hinwirken, aber das ist auch eine Aufgabe der Politik. Es muss weiterhin für eine Kontaktreduktion gesorgt werden, auf halbwegs verträgliche Art und Weise. An der Maske im öffentlichen Raum führt kein Weg vorbei.
Was beschäftigt Kolleg:innen aktuell? Wo gibt es Fragen bzw. Unsicherheiten im Hinblick auf den Corona-Herbst?
Ich glaube, im Großen und Ganzen sind die Kolleg:innen schon gut eingespielt. In der Allgemeinpraxis ist der Umgang mit Ungewissheiten, begrenzter Evidenz und der Umgang mit sehr komplexen Situationen normal. Das ist nicht nur bei Corona der Fall. Von daher denke ich, dass nicht viele Unsicherheiten gegeben sind.
Eine große Sorge sind, wie gesagt, die Krankenstände, die auch die Ordinationen betreffen. Dann droht vorübergehende Praxisschließung. In den Ordinationsräumen wird natürlich nach wie vor mit FFP2-Maske gearbeitet und auf die Händehygiene geachtet; die Ansteckung erfolgt durch Privatkontakte, wo diese Maßnahmen nicht getroffen werden.
Wie kann hinsichtlich einer neuen Welle im Herbst die Unterstützung durch die Behörden bewertet werden?
Es sollte eine Planung für den Herbst geben, denn wir erhalten erst im Nachhinein eine objektive Einschätzung. Ohne umfassende Testungen (abgesehen von den Abwassertests) gibt es auch kein „Frühwarnsystem“. Ein mögliches Warnsystem sind die Krankenstände – aber nicht wirklich früh. Hier ist rasche und frühzeitige Kommunikation wichtig.
Telemedizin hat sich in der Pandemie auch gut etabliert. Wie sehen die Relevanz der Telemedizin (auch abseits von Covid-19)?
Telemedizin funktioniert so lange gut, solange man die Patient:innen nicht untersuchen muss. Man muss Patient:innen aber sehr oft untersuchen. Ich kann über einen Computerbildschirm die Situation nur schwer beurteilen. Wir haben auch abseits von Covid-19 gelernt, wo Telemedizin funktioniert und wo nicht. Wir kennen die Grenzen nun besser. Telemedizin geht bei bekannten Patient:innen und niedriger Komplexität.
Long Covid spielt in der hausärztlichen Versorgung eine große Rolle und wird auch zukünftig eine große Rolle spielen. Wie sollten Kolleg:innen damit umgehen?
Wir haben in Wirklichkeit schon ein großes Problem mit Long Covid. Ungefähr fünf Prozent der mit Omikron-Infizierten bekommen Long Covid. Dies ist zwar weniger als bei den anderen Varianten, aber die Inzidenzen waren und sind bei Omikron dafür um einiges höher. Die durchgemachte Infektion mit Omikron schützt nicht lange – nur die Durchimpfung entsprechend Empfehlung verzögert die Dynamik und dürfte auch Long Covid reduzieren. Der einzige sichere Schutz ist: kein Covid.
Für die Diagnosestellung gibt es keine harten Kriterien. Ein Hinweis auf Long Covid ist natürlich das Auftreten mehrerer sogenannter „typischer“ Symptome im Gefolge einer Erkrankung. Aber es muss natürlich immer eine Abklärung hinsichtlich anderer Ursachen geben. Long Covid ist eine Ausschlussdiagnose. Dafür wurde ein webbasiertes Point-of-Care Tool für Allgemeinmediziner:innen entwickelt. (Siehe Kasten.)
Long Covid – Das Webtool
Patient:innen mit anhaltenden Symptomen nach Covid-19 bzw. Verdacht auf Long Covid müssen sorgfältig abgeklärt werden. Das Point-of-Care Tool soll Information und Entscheidungsunterstützung bieten. Das Tool eignet sich am Ort des Bedarfs und auch zum Nachlesen und Recherchieren. Das Webtool basiert auf der Leitlinie S1 «Long Covid: Differenzialdiagnostik und Behandlungsstrategien» der Österreichischen Gesellschaft für Allgemein-und Familienmedizin und wird durch das Kompetenzzentrum Allgemeinmedizin an der Karl-Landsteiner Privatuniversität mit Unterstützung des Bundesministers für Gesundheit betrieben.
Weitere Informationen: https://www.kl.ac.at/allgemeine-gesundheitsstudien/long-covid-leitlinie