„Leicht zu entdecken, wenn man vorgewarnt ist“
Viele Symptome der Polycythaemia vera ähneln neurologischen Krankheitsbildern, daher wird meist lange nicht an eine Erkrankung des blutbildenden Systems gedacht. So dauerte es auch bei Dr. Elena Zagorulko zwei Jahre, bis ihre Erkrankung richtig diagnostiziert und wirksam behandelt wurde. Die von ihr gegründete Selbsthilfegruppe für Patienten mit myeloproliferativen Erkrankungen setzt auf Informationsarbeit und kooperiert eng mit Experten.
Erste Symptome wie starken Schwindel oder Schlafstörungen bemerkte die Eventmanagerin Dr. Elena Zagorulko 2014. „Ich habe im Verlauf zweier Jahre mehrere Ärzte konsultiert, erhielt Zuweisungen zu Fachärzten für Neurologie oder Kardiologie und auch zu einer klinisch-psychologischen Untersuchung.“ Ein Blutbefund wurde während des ersten Jahres nicht angefordert. „Später bestand dann der Verdacht auf Essenzielle Thrombozytopenie, auch eine Knochenmarkbiopsie wurde gemacht.
Auf die erste medikamentöse Einstellung bekam ich jedoch starke Nebenwirkungen, sodass ich schließlich zu Herrn Prof. Gisslinger überwiesen wurde“, berichtet Zagorulko. Mit der endgültigen Diagnose Polycythaemia vera konnte sie schließlich eine wirksame und gut verträgliche Behandlung bekommen (siehe Fakten-Check).
„Es ist durchaus nicht ungewöhnlich, dass Patienten mit Polycythaemia vera zwei Jahre bis zur Diagnose benötigen, mitunter dauert es auch sieben Jahre oder mehr“, weiß Univ.-Prof. Dr. Heinz Gisslinger von der Wiener Universitätsklinik für Innere Medizin I. Myeloproliferative Erkrankungen wie die Polycythaemia vera zählen zu seinen Forschungsschwerpunkten.
Die Diagnose sei vor allem deshalb eine Herausforderung, weil die Symptome – so wie bei Zagorulko – vor allem zu Beginn der Erkrankung sehr diskret sein können. „Typisch sind auch Kribbeln in Fingern und Zehen, mitunter Blauverfärbungen, ebenso migräneartige Kopfschmerzen, die sich sogar mit einer Art Aura präsentieren können“, berichtet Gisslinger. Auffallend sind bei Polycythaemia vera zudem eine extreme Müdigkeit sowie Juckreiz nach Bad oder Dusche oder Nahrungsmittel-Intoleranz mit entsprechenden Darmbeschwerden.
Patienten unterstützen und Wissenslücken schließen
Für Zagorulko bedeutete die Diagnose einerseits eine Erleichterung – „Ich wusste endlich, woran ich tatsächlich leide“ –, andererseits war sie nicht leicht zu verarbeiten. Heute bemüht sie sich als Vorsitzende der Patientenorganisation MPN-Austria, Patienten in ähnlichen Situationen tatkräftig zu unterstützen: „Viele wissen zunächst gar nicht, wie sie damit umgehen sollen, und fühlen sich psychisch sehr belastet“, weiß Zagorulko. Zudem möchte Zagorulko mit der Selbsthilfeorganisation in Zusammenarbeit mit medizinischen Experten über myeloproliferative Erkrankungen informieren. Nach ihrer Erfahrung aus der Selbsthilfe kann auch die Umwandlung einer Polycythaemia vera in eine Myelofibrose abseits von spezialisierten Zentren leicht übersehen werden.
Den Impuls zur Gründung einer Selbsthilfegruppe gab übrigens Gisslinger: Im Sinne des „Empowerments“ sei es zu begrüßen, wenn Patienten gut informiert sind – „es lässt sich dann viel leichter über Diagnose und Therapie sprechen und die Patienten unterstützen sich sehr gut gegenseitig“, weiß der Wiener Hämatologe.
Insgesamt 700 Patienten mit Polyzythämie dürfte es aktuell in Österreich geben, derzeit sind auch Bestrebungen im Gange, die Register der Spezialzentren zu vernetzen. MPN-Austria zählt allerdings bislang „nur“ 150 Mitglieder. „Unser Problem ist es, dass die Ärzte aus Gründen des Datenschutzes die Patienten nicht aktiv über die Organisation informieren dürfen. Flyer in den Praxen aufzulegen hat in Pandemie-Zeiten allerdings nur eine begrenzte Reichweite“, betont Zagorulko. In Zusammenarbeit mit Experten bietet MPN-Austria zudem regelmäßig Informationsveranstaltungen an, kürzlich wurde zudem der Podcast „MPN-Zug“ online gestellt. „Der Zug steht für die Reise mit der Krankheit, die uns unser ganzes Leben begleitet“, sagt Zagorulko.
Fakten-Check: Polycythaemia vera
Polycythaemia vera (PV) gehört so wie Essenzielle Thrombozytose (ET) und Primäre Myelofibrose zu den Myeloproliferativen Neoplasien (MPN): Charakteristisch ist eine gesteigerte Produktion der Erythrozyten, zu Beginn kann jedoch eine alleinige Thrombozytose bestehen. „Die Erkrankung ist im peripheren Blutbild schnell diagnostiziert, allerdings muss man darauf vorbereitet sein“, betont Hämatologe Univ.-Prof. Dr. Heinz Gisslinger. Eine persistierende Thrombozytose ohne erkennbare Ursache wie eine chronische Entzündung sollte jedenfalls immer genauer untersucht werden. Symptome wie migräneartige Kopfschmerzen oder Kribbeln in Fingern und Zehen sind Ausdruck von Mikrozirkulationsstörungen.
Bei einer Inzidenz von 4/100.000/Jahr für alle MPN werden sie Seltenen Erkrankungen hinzugerechnet (PV 1,5–2/100.000; ET 1–1,5/100.000; PMF 0,5/100.000), es könnten aber etwa 20 bis 30 Prozent der Betroffenen noch nicht diagnostiziert worden sein, vermutet Gisslinger.
Therapeutische Möglichkeiten
Die Standardtherapie bei PV ist die Phlebotomie, der „Aderlass“, um den Hämatokrit unter einem Wert von 45 zu halten. Damit lässt sich die Rate an thromboembolischen Komplikationen verringern. Auch niedrig dosierte Acetylsalicylsäure wird eingesetzt, wodurch sich auch etwa Konzentrationsstörungen infolge einer besseren Durchblutung im Gehirn bessern. „In einzelnen Fällen kann eine zytoreduktive Therapie mit Hydroyurea nötig sein, die sehr gut verträglich ist“, sagt Gisslinger.
In jüngster Zeit wurde pegyliertes Interferon alpha (subkutan, alle drei Wochen oder 1x/Monat) in der Indikation PV zugelassen, wobei von Österreich aus initiierte Studien unter der Leitung von Gisslinger wesentlich dazu beigetragen haben: Sie zeigen, dass es Hydroxyurea in der Langzeitanwendung überlegen ist (Gisslinger et al., Lancet Haematol., 2020). Aus einer PV oder ET kann sich bei längerem Bestehen in eine sekundäre Myelofibrose entwickeln: „Die Plus-Variante geht dann gewissermaßen in die Minus-Variante über“, erklärt Gisslinger. Die Therapie einer MF besteht nach Möglichkeit einer allogenen Stammzelltransplantation. „Bei allen drei Erkrankungen besteht allerdings großes Entwicklungspotenzial: Wir kennen immer mehr Angriffspunkte, um die Pathophysiologie zu stoppen, und ähnlich wie etwa beim Multiplen Myeolom werden in den nächsten Jahren viele neue Substanzen erwartet“, resümiert Gisslinger.
Serie: Die Gesichter Seltener Erkrankungen
Seltene Erkrankungen frühzeitig zu erkennen und bestmöglich zu behandeln bzw. zu managen gehört zu den größten Herausforderungen der Medizin im dritten Jahrtausend. Mitunter sind es vielleicht nur zehn, zwölf Menschen in Österreich mit derselben Diagnose, die oft erst nach jahrelangen Wegen durch Ordinationen und Ambulanzen wissen, woran sie tatsächlich leiden. Die Diagnose erhielten sie meist von engagierten Ärztinnen und Ärzten, die auf den richtigen Pfad kamen und sich um Therapie und Management bemühen.
In der neuen medonline-Serie in Kooperation mit dem Referat für Seltene Erkrankungen der Ärztekammer Wien wollen wir die Gesichter Seltener Erkrankungen vorstellen mit dem Ziel, das Bewusstsein dafür zu stärken: Seltene Erkrankungen sind zwar selten, aber es gibt sie! Mitunter sind sie aber viel zu wenig bekannt. Wir stellen Ihnen daher engagierte Ärztinnen und Ärzte und ihre Patientinnen und Patienten bzw. deren Eltern vor. Ihre Erfahrungen sollen dazu beitragen, Seltene Krankheiten besser bekannt zu machen und vielleicht rascher zur richtigen Diagnose und zur bestmöglichen Behandlung zu kommen.
Mag. Christina Lechner (Koordinierende Redakteurin) & Mag. Ulrike Krestel (Redaktionsleitung medonline) mit Dr. Christoph Buchta (Ärztekammer Wien/Referat für Seltene Erkrankungen)
In Kooperation mit der Ärztekammer Wien
Referat für Seltene Erkrankungen