4H-Syndrom: „Haben Sie den Mut weiterzufragen“
Geht es um die Diagnostik weitgehend unbekannter Seltener Erkrankungen oder darum, Unterstützungen für eine Familie mit einem mehrfach beeinträchtigen Kind zu bekommen: Neuropädiater Dr. Christian Rauscher und Sabine Pessenteiner, die Mutter des heute zehnjährigen Niclas, unterstreichen den noch immer großen Informationsbedarf über Seltene Erkrankungen und deren Auswirkungen im Alltag.
Auffällig bei Niclas Geburt war, dass er schon als Neugeborenes sechs Zähne hatte, ansonsten verliefen die ersten Monate ihres Sohnes ganz unauffällig, berichtet die im Land Salzburg beheimatete Sozialpädagogin Sabine Pessenteiner. „Im Alter von zehn Monaten hat sich Niclas aufgestellt, allerdings hat er nie gelernt frei zu gehen und kann bis heute nur krabbeln bzw. ist er auf einen Rollstuhl angewiesen.“
Als Niclas im Alter von etwa einem Jahr bei fieberhaften Infekten außergewöhnlich stark zitterte und auch eine Ataxie auftrat, suchte die Familie kinderärztlichen Rat. Zunächst hieß es jedoch: „Bei Niclas ist alles ok, er zittert eben.“ Eine gründliche Durchuntersuchung im Alter von zwei Jahren an der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde Salzburg zeigte unter anderem Auffälligkeiten im MRT.
Neuropädiater Dr. Christian Rauscher sandte daraufhin Niclas' Befunde und MR-Bilder an seinen Kollegen Prof. Dr. Eugen Boltshauser am Universitätsspital in Zürich, von dem er wusste, dass er sich mit seltenen neurologischen Erkrankungen befasste. Genetische Untersuchungen auch der Eltern bestätigten schließlich die Diagnose „4H-Syndrom“. „Für Niclas' Vater und für mich war damit klar, dass wir keine Kinder mehr wollten“, sagt Pessenteiner. Auch mehrere Verwandte haben sich bereits untersuchen lassen, ob sie Träger eines der Erbmerkmale sind (siehe Fakten-Check). Bis zum Beginn der Corona-Pandemie war Niclas zudem einmal jährlich zur Untersuchung bei Prof. Dr. Nicole Wolf, die sich am Universitätszentrum in Amsterdam unter anderem auf die Erforschung des 4H-Syndroms spezialisiert hat.
1/200 trägt das Merkmal
„Wir nehmen an, dass jeder 200. Träger des Gendefekts ist“, erklärt Rauscher. Neben Niclas sind aktuell nach dem Wissen von Pessenteiner noch weitere drei Kinder in Österreich mit 4H-Syndrom bekannt, es könnten allerdings mehr sein. Die Diagnostik ist jedoch aufgrund der sehr unterschiedlichen klinischen Symptome nicht einfach.
Kinderärzte, so meint Rauscher, sollten sich daher durchaus offen austauschen, wenn sie ungewöhnliche Symptome nicht kennen, was angesichts der vielen unterschiedlichen Seltenen Erkrankungen durchaus vorkommen kann. „Manchmal bekommen wir eine Erkrankung gar nicht oder höchstens einmal in der ärztlichen Laufbahn zu Gesicht und natürlich hoffen wir stets, eine Krankheit rechtzeitig zu diagnostizieren, für die es eine Behandlung gibt.
Doch die medizinische Entwicklung geht laufend weiter“, sagt Rauscher. Auch wenn es wie beim 4H-Syndrom aktuell keine Behandlung gibt, so sei es trotzdem wichtig für die Eltern, die Diagnose zu kennen. Niclas wird heute unter anderem am Zentrum für Entwicklungsdiagnostik symptomatisch behandelt: Ergo-, Physio- und auch Hippotherapie sollen beim Erhalt seiner Fähigkeiten unterstützen. „Niclas' Pflegebedarf entspricht dem eines zehn Monate alten Babys“, erklärt Pessenteiner. „Er kann sich nicht selbstständig ankleiden und nur schwer sprachlich äußern, wobei wir in der Familie ihn recht gut verstehen.“ Ein Tablet mit einer Kommunikations-Software kann jedoch eine wichtige Hilfe sein, wie Pessenteiner von anderen 4H-Patienten weiß.
Durch den Pflegebedarf oder etwa behindertengerechte Wohnraum-Anpassungen entstehen damit für die Familie hohe finanzielle Belastungen, zudem kann Niclas Mutter nur in Teilzeit arbeiten und ist auf Hilfe in der Familie angewiesen. „Zum Glück gibt es in Österreich gute Möglichkeiten für Unterstützungen, mitunter müssen wir uns aber sehr dafür engagieren. Es ist auch erstaunlich, dass heute manche Eltern behinderter Kinder noch gar nicht wissen, dass sie etwa Anspruch auf Pflegegeld haben“, sagt Pessenteiner.
Neuropädiater Rauscher kennt wiederum die Seite der ärztlichen Gutachter: „Ich selbst erkundige mich bei Gutachten etwa bei Kindergartenpädagogen oder Lehrern nach dem Verhalten der Kinder im Alltag, da sie sich während der kurzen ärztlichen Begutachtung oft anders zeigen.“ Zudem sollte seiner Ansicht nach das Thema Unterstützungsmöglichkeiten bei ärztlichen Untersuchungen immer wieder thematisiert werden. Es brauche zudem bei Kindern wie Niclas eine intensive Zusammenarbeit mit Therapeuten, um den Kindern die bestmögliche Förderung zukommen zu lassen.
Ein großer Wunsch von Sabine Pessenteiner wäre es übrigens, selbst einmal eine „Auszeit“ zu bekommen, bei der sie selbst etwas für ihre Gesundheit tun kann. „Da möchte ich aber meine Kinder, Niclas und seinen 15-jährigen Bruder, dabeihaben. Sie sollen auch die Möglichkeit eines Urlaubes bekommen.“
Fakten-Check: 4H-Syndrom
4H-Syndrom steht für „Hypomyelinisierung, hypogonadotroper Hypogonadismus und Hypodontie“. Das Krankheitsbild, von dem heute gerade wenige hundert Patienten weltweit bekannt sind, wird zu den Leukodystrophien hinzugerechnet. Die Ursache sind autosomal rezessive Mutationen in einem der drei Gene POLR3A, POLR3B und POLR1C. Gemäß den Grundsätzen der Genetik bedeutet es, dass Kinder mit einer Wahrscheinlichkeit von 1:4 erkrankt sind, wenn beide Eltern Merkmalsträger sind.
Die Diagnose basiert auf den klinischen Symptomen, vorrangig Ataxie und verzögerter Zahndurchbruch (Dentition) und/oder Hypodontie, zusammen mit einer im MRT nachgewiesenen Hypomyelinisierung im Gehirn und einer Kleinhirnatrophie. So wie bei Niclas können jedoch schon bei der Geburt Zähne vorhanden sein, die weitere Zahnentwicklung ist wiederum auffällig.
Ansonsten wirkt ein Kind mit 4H-Syndrom bei der Geburt und während des ersten Lebensjahres meist unauffällig; die Symptome werden in der Regel während des zweiten Lebensjahres offensichtlich. Es gibt auch einige Patienten mit ersten Symptomen nach dem Alter von zehn Jahren. Die Ausprägungen der Erkrankung sind sehr unterschiedlich: Manche Kinder erlernen etwa mit Verzögerungen das Laufen, andere wiederum nicht.
Quelle: https://elaev.de/leukodystrophien/arten/4h-syndrom-2/
Serie: Die Gesichter Seltener Erkrankungen
Seltene Erkrankungen frühzeitig zu erkennen und bestmöglich zu behandeln bzw. zu managen gehört zu den größten Herausforderungen der Medizin im dritten Jahrtausend. Mitunter sind es vielleicht nur zehn, zwölf Menschen in Österreich mit derselben Diagnose, die oft erst nach jahrelangen Wegen durch Ordinationen und Ambulanzen wissen, woran sie tatsächlich leiden. Die Diagnose erhielten sie meist von engagierten Ärztinnen und Ärzten, die auf den richtigen Pfad kamen und sich um Therapie und Management bemühen.
In der neuen medonline-Serie in Kooperation mit dem Referat für Seltene Erkrankungen der Ärztekammer Wien wollen wir die Gesichter Seltener Erkrankungen vorstellen mit dem Ziel, das Bewusstsein dafür zu stärken: Seltene Erkrankungen sind zwar selten, aber es gibt sie! Mitunter sind sie aber viel zu wenig bekannt. Wir stellen Ihnen daher engagierte Ärztinnen und Ärzte und ihre Patientinnen und Patienten bzw. deren Eltern vor. Ihre Erfahrungen sollen dazu beitragen, Seltene Krankheiten besser bekannt zu machen und vielleicht rascher zur richtigen Diagnose und zur bestmöglichen Behandlung zu kommen.
Mag. Christina Lechner (Koordinierende Redakteurin) & Mag. Ulrike Krestel (Redaktionsleitung medonline) mit Dr. Christoph Buchta (Ärztekammer Wien/Referat für Seltene Erkrankungen)
In Kooperation mit der Ärztekammer Wien
Referat für Seltene Erkrankungen