16. Sep. 2021Alpha-1-Antitrypsin-Mangel

Die „genetische COPD“

Eine COPD kann, insbesondere wenn sie früh im Leben auftritt, einen genetischen Hintergrund haben und auf einen Mangel des Enzyms Alpha-1-Antitrypsin zurückzuführen sein. Die Erkrankung ist selten, mit einer Prävalenz von 0,01 bis 0,02 Prozent jedoch so häufig, dass im klinischen Alltag an sie gedacht werden muss. Auch die klinisch nicht manifesten, heterozygoten Formen sollten erkannt werden. Wir sprachen mit Univ.-Prof. Dr. Dr. Marco Idzko, dem Leiter der Klinischen Abteilung für Pulmologie im Wiener AKH.
Das Gespräch führte Reno Barth

DNA-Sequenz, DNA-Codestruktur – Medizinische 3D-Illustration
iStock/peterschreiber.media

Clinicum pneumo: Herr Prof. Idzko, welche Bedeutung hat Alpha-1-Antitrypsin-Mangel im pulmologischen Alltag?

Idzko: Große Bedeutung. Jeder Patient mit COPD und/oder Lungenemphysem muss laut Leitlinien einmal im Leben auf Alpha-1-Antitrypsin-Mangel abgeklärt werden. Wir haben in Europa in der Gesamtbevölkerung eine Prävalenz in der Größenordnung von 0,01 bis 0,02 Prozent. Die meisten Betroffenen werden aber nicht erkannt. Wir gehen davon aus, dass wir aktuell rund fünf bis zehn Prozent der Menschen mit AAT-Mangel auch diagnostizieren. An unserem Zentrum testen wir auch Patienten mit schwerem und nur teilweise reversiblem Asthma auf AAT-Mangel. Das sollte aber auch bei Bronchiektasien, Asthma und verschiedenen Systemerkrankungen, z.B. Vaskulitiden und anderen Autoimmunerkrankungen oder Lebererkankung unklarer Genese, geschehen. Wichtig ist auch die Familienanamnese bzw. die Testung Angehöriger.

Welche physiologischen Funktionen hat Alpha-1-Antitrypsin?

Alpha-1-Antitrypsin ist ein Akutphase-Protein, das in den Hepatozyten produziert wird und aus der Leber über das Blut in die Lunge gelangt. Die Hauptaufgabe ist die Anti-Protease-Aktivität, die sich in der Lunge vor allem gegen die Neutrophilen-Elastase richtet. Diese wird von neutrophilen Granulozyten freigesetzt und spielt eine wichtige Rolle in der Abwehr gegen eingeatmete Partikel wie z.B. Krankheitserreger. Das ist eine der wichtigsten Funktionen des angeborenen Immunsystems in der Lunge, wo ja viel Erstkontakt zwischen in der Atemluft befindlichen Organismen wie z.B. Bakterien, Viren und der Immunabwehr stattfindet. Das Problem ist nun, dass zu viel dieser Elastase auch die Alveolen verdauen kann und daher durch Alpha-1-Antitrypsin unschädlich gemacht werden muss.

Was geschieht bei Mangel?

Wenn nicht genügend Alpha-1-Antitrypsin vorhanden ist, verbleibt die Neutrophilen-Elastase in der Lunge und es kommt zur Verdauung von Alveolen und zu einer entsprechenden Schädigung der Lunge.

Welche Mutationen sind ausschlaggebend?

Ein Mangel an Alpha-1-Antitrypsin entsteht infolge einer Mutation im SERPINA1-Gen. Die codierende Gensequenz für Alpha-1-Antitrypsin liegt auf dem langen Arm von Chromosom 14 in der auch als „Proteinase Inhibitor Locus“ (Pi) bezeichneten Region 14q32.1. Das normale Allel heißt M-Allel (PiM), die häufigsten AAT-Mangelallele heißen PiZ und PiS, darüber hinaus sind zahlreiche seltenere Mutationen bekannt, die zu AAT-Mangel führen. Ein 0-Allel bedeutet, dass der Locus fehlt und kein AAT produziert wird, es sind jedoch auch eingeschränkt funktionsfähige Variationen des M-Allels bekannt.

Welche Verlaufsform ist mit homozygotem AAT-Mangel assoziiert?

Liegt das Z-Allel homozygot vor, so führt das zu stark reduzierten AAT-Spiegeln von 30 bis 35 Prozent der physiologischen Werte mit entsprechend hohem Erkrankungsrisiko. Die meisten Patienten mit schwerem AAT-Mangel weisen diese Mutation auf. Bei diesen Patienten muss man sofort nach einer beginnenden Lungenschädigung suchen, um eine Substitutionstherapie starten zu können. Homozygote PiZZ-Träger haben auch ein signifikant erhöhtes Risiko, v.a. ab dem 50. Lebensjahr eine Leberfibrose und in der Folge ein Leberkarzinom zu entwickeln. Das S-Allel wirkt sich weniger gravierend aus. Bei diesen Patienten muss man individuell anhand der Genetik und des AAT-Spiegels das weitere Vorgehen entscheiden.

Wie wirkt sich ein heterozygoter AAT-Mangel aus?

Die heterozygoten Mangel-Allel-Träger PiMZ und PiSZ sind klinisch meist unauffällig – vorausgesetzt, dass sie nicht rauchen. Denn Rauchen führt per se bereits zu einem Alpha-1-Antitrypsin-Mangel, weil durch die Belastung der Lunge durch Schadstoffe diverse Proteasen in großer Menge freigesetzt werden und das AAT verbrauchen, was generell nicht gesund ist, in diesen Personengruppen aber zu einem manifesten AAT-Mangel führt. Daher sind Personen mit jeder Art von AAT-Mangel auch besonders anfällig für Raucherschäden und haben ein erhöhtes Risiko für COPD und Lungenemphysem. Es ist also von höchster Wichtigkeit, diesen Menschen zu vermitteln, dass sie nicht rauchen dürfen. Patienten beispielsweise mit einem PiMS-Genotyp, die rauchen, haben unter Umständen sehr niedrige AAT-Spiegel und wenn sie aufhören zu rauchen, kann sich der Spiegel auf physiologische Werte normalisieren und man benötigt keine Substitutionstherapie. Auch bei Personen mit heterozygoter Mutation ist ein Familienscreening indiziert, um das Risiko der nächsten Generation abschätzen zu können.

Bei Verdacht: Wie ist das weitere Vorgehen?

Im ersten Schritt wird der AAT-Spiegel bestimmt. Dabei ist zu beachten, dass es sich bei AAT um ein Akutphase-Protein handelt. Das heißt, ein Test ist nur aussagekräftig, wenn keine akute Infektion vorhanden ist. Sonst sind die Spiegel zu hoch. Um einen akuten Infekt ausschließen zu können, bestimmt man gemeinsam mit dem AAT auch ein zweites Akutphase-Protein, wie zum Beispiel CRP. Hat man einen AAT-Mangel festgestellt, folgt die Genotypisierung und Phänotypisierung. Ist der AAT-Spiegel bei zwei M-Allelen zu niedrig, sind weitere Sequenzierungen erforderlich, um beispielsweise Defekte im M-Allel zu identifizieren. Zusätzlich wird natürlich die Lungenfunktion überprüft, um etwaige bereits bestehende Defekte diagnostizieren zu können bzw. um einen Ausgangswert für die Verlaufskontrolle zu bekommen. Bei bereits symptomatischen Patienten ist auch die Durchführung eines CT-Thorax sinnvoll. Auch eine Bestimmung der Leberwerte und ein Leberultraschall sollten v.a. bei PiZZ-Genotyp erfolgen. Die Therapie erfolgt – falls indiziert – mittels Substitution von Alpha-1-Antitrypsin.

Welche Patienten sind Kandidaten für eine Substitutionstherapie?

Wie zuvor erwähnt, sind Patienten mit PiZZ-Mutation in der Regel Kandidaten für eine Substitutionstherapie. Das Gleiche gilt für die seltene Pi00-Mutation, bei der überhaupt kein AAT produziert wird, sowie für diverse seltene Genotypen, bei denen anhand der gemessenen AAT-Spiegel entschieden wird. Leider kann aufgrund der Erstattungssituation die teure Substitutionstherapie erst eingesetzt werden, wenn bereits eine Schädigung der Lunge feststellbar ist. Konkret muss das FEV1 entweder kleiner/gleich 65 Prozent vom Soll bei gleichzeitigem Nachweis einer peripheren obstruktiven Ventilationsstörung (Tiffeneau-Wert <70%) liegen oder es muss ein deutlicher Abfall des FEV1 um mindestens 50ml im Jahr vorhanden sein. Deshalb sind jährliche Kontrollen wichtig. Auch ein ausgeprägtes Emphysem rechtfertigt die Substitution. Werden also z.B. im Rahmen des Familienscreenings Mutationsträger gefunden, so müssen wir warten, bis wir an der Lunge einen Schaden sehen. Sinnvoll wäre es natürlich, zu behandeln, bevor es zu einer Schädigung der Lunge kommt. Das scheitert aber aktuell auch an der Studienlage, weil die vorhandenen Substitutionsstudien nur bei Patienten mit eingeschränkter Lungenfunktion und nur über relativ kurze Zeit durchgeführt wurden. Eigentlich bräuchten wir Studien mit noch nicht manifest erkrankten Patienten und Laufzeiten von 10 bis 20 Jahren. Die gibt es aber nicht. Also müssen wir uns mit Registern behelfen. Das bisher größte und am längsten geführte Register ist das Alpha-Net aus den USA, aber auch in Österreich führen wir zusammen mit Deutschland ein Alpha-1-Register und ein gesamteuropäisches ist im Aufbau.

Und wie ist die Prognose?

Das hängt von vielen Faktoren ab. Wenn der Patient raucht, ist die Prognose sehr schlecht. Andererseits habe ich auch Patienten gesehen, die trotz PiZZ-Genotyp auch jenseits der 50 bei Erstdiagnose eine gute Lungenfunktion haben. Wobei wir häufig keine Ausgangswerte z.B. im Alter von 20 Lebensjahren haben und daher nicht wissen, ob diese Patienten früher nicht eine noch bessere Lungenfunktion – über dem „Normwert“ – hatten. Deshalb sind ja regelmäßige Kontrollen so wichtig. Nur haben wir in der Praxis diese Informationen eben nicht bei allen Patienten. In den meisten Fällen kommt es jedoch zu einem Abfallen der Lungenfunktion, was die Indikation für die Substitutionstherapie bedeutet. Wir gehen davon aus, dass die Patienten unter Substitution eine normale Lebenserwartung haben – zumindest, was die Lunge betrifft. Beim PiZZ-Phänotyp kommt es allerdings bei 20 bis 36 Prozent der Betroffenen zu einer Leberfibrose. Männer haben dabei ein höheres Risiko als Frauen. Daher muss auch eine jährliche Kontrolle der Leberfunktion erfolgen. Eine Fibrose der Leber ist generell nicht selten und alleine noch keine Katastrophe, bedeutet aber, dass zusätzliche Lebernoxen vermieden werden müssen. Die Betroffenen sollten also nicht nur nicht rauchen, sondern auch nicht übermäßig Alkohol trinken.

Welche Begleittherapien werden empfohlen?

Zum einen gelten alle Empfehlungen, die wir auch bei der klassischen COPD geben. Das bedeutet bei entsprechender Einschränkung der Lungenfunktion eine antiobstruktive Therapie mit inhalativen Bronchodilatatoren. Bei fortgeschrittener Schädigung der Lunge kann auch eine Langzeit-Sauerstofftherapie oder sogar nicht-invasive Beatmung indiziert sein. Bei Patienten mit AAT-Mangel sind in der Regel zunächst die Unterlappen betroffen. Das kann dazu führen, dass auf der rechten Seite der Mittellappen oder auf der linken Seite der Oberlappen durch das Lungenemphysem des Unterlappen „zusammengedrückt“ wird und daher nicht mehr so gut am Gasaustausch teilnehmen kann. Bei diesen Patienten kann dann eine endoskopische und in seltenen Fällen auch eine chirurgische Lungen-Volumenreduktion zur Verbesserung der Lungenfunktion sinnvoll sein. Patienten mit sehr schweren Verläufen können von einer Lungentransplantation profitieren. Von hoher Bedeutung ist aber nicht zuletzt die pulmonale Rehabilitation. Körperliche Leistungsfähigkeit beeinflusst den Verlauf eines AAT-Mangels günstig und hat sich als unabhängiger Prädiktor für das Überleben erwiesen. Das gilt bei allen Lungenerkrankungen und beim Alpha-1-Antitrypsin-Mangel in besonderem Maße.

Vielen Dank für das Gespräch!

Univ.-Prof. Dr. Marco Idzko

Leiter der Klinischen Abteilung für Pulmologie MedUni Wien/AKH
Foto: Privat

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin CliniCum pneumo