Diagnose Klimawandel
Der diesjährige, virtuelle Kongress der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) ließ sich thematisch nicht gänzlich von der Pandemie fesseln, sondern stand zu einem guten Teil auch im Zeichen des Klimawandels und der damit verbundenen Folgen für die Gesundheit und die Medizin.
Der Klimawandel wirkt auf die gesamte Erde – und auf das gesamte System Mensch, erklärt Prof. Dr. Claudia Traidl-Hoffmann von der Technischen Universität München. Eine zentrale Bedeutung haben hierbei Umweltschadstoffe. Diese wirken auf zweifache Weise: Auf der einen Seite beeinflussen sie den menschlichen Organismus direkt, auf der anderen Seite befeuern sie den Klimawandel, der sich wiederum auf die Gesundheit niederschlägt.
Im Hinblick auf Patienten sind hier drei Dinge wichtig, erläutert Prof. Dr. Christian Witt, Leiter des Forschungsbereichs Pneumologie an der Charité, Universitätsmedizin Berlin:
- das Ausmaß der Belastung
- die individuelle Suszeptibilität
- die adaptive Kapazität
Letztere ist limitiert – vor allem bei Menschen aus Regionen, die sich bislang durch ein gemäßigtes Klima auszeichneten. Inzwischen bilden sich in heißen Sommern in den Städten regelrechte Hitzeinseln. „Da kann man fast eine fünfte Jahreszeit sehen“, so der Pneumologe. Als direkte Folge schnellen die Todeszahlen nach oben. In Berlin hat es in den vergangenen Jahren in besonders heißen Sommern bis zu 2.000 zusätzliche Tote gegeben, berichtet Witt.
Temperaturanstieg: Last für Herz und Lunge
Studien zeigen, dass Temperaturerhöhungen dem Körper insgesamt schaden und die kardiovaskuläre Mortalität steigen lassen. Die höchsten Zahlen hinsichtlich des Sterberisikos finden sich aber in Bezug auf die Lunge. Dass die respiratorische Komponente eine so große Bedeutung hat, hätte er nicht erwartet, gab der Referent zu. In einer Studie zu Hitzestress fand er gemeinsam mit Kollegen heraus, dass die Anwendung inhalativer Beta-2-Mimetika zusätzlich zur Vulnerabilität der Patienten beitragen kann. Abmildern wiederum lassen sich die Negativwirkungen der Hitze effektiv durch klimatisierte Zimmer. Kranke, die in einem temperaturregulierten Raum untergebracht waren, konnten in einer Studie früher mobilisiert und eher entlassen werden als diejenigen in Standardzimmern.
Es gilt: Wer sich schnell anpassen kann, hat gewonnen. Jene, die nur langsam adaptieren oder die Umgewöhnung gar nicht schaffen, landen in den Praxen und Kliniken „und werden vielleicht unsere Patienten“, sagt Witt.
Luftverschmutzung: mehr Tote als durch Rauchen
Neben der Hitze ist die Luftverschmutzung ein weiterer wichtiger Punkt. Und obwohl seit Jahrzehnten klar ist, dass u.a. Feinstaub einer der Hauptrisikofaktoren für Krankheiten ist, findet die Luftverschmutzung in den kardiologischen Leitlinien keine Erwähnung. „Als Kardiologe bin ich extrem enttäuscht“, sagte Prof. Dr. Thomas Münzel von der Universitätsmedizin Mainz. Pro Jahr sterben in Europa etwa 790.000 Menschen mehr durch Luftverschmutzung und weltweit fordert sie mehr Todesopfer als das Rauchen.1 Noch ein aktuelles Beispiel: In Regionen mit vermehrter Feinstaubbelastung ist die COVID-19-Mortalität deutlich höher als in anderen Gegenden. Auch der Kostenfaktor ist nicht zu vernachlässigen: Bereits 2016 hat die EU in einem Schreiben festgestellt, dass Lärm und Luftverschmutzung und damit assoziierte Todes- und Erkrankungsfälle sozioökonomische Kosten in der Höhe von einer Trillion (1018) Euro verursachen könnten – im Vergleich dazu lägen die durch Alkohol bedingten Kosten bei 50 bis 120 Milliarden Euro.2
Lärm: Stress für Psyche und Endothel
Abseits des Klimawandels ist Lärm ein Faktor, der den Körper stark belastet, erinnerte Münzel. Nach Berechnungen der WHO verringert Verkehrslärm allein in Westeuropa die Zahl gesunder Lebensjahre um 1,6 Millionen jährlich. Dabei spielt vor allem die subjektive Belastung der Exponierten eine Rolle: Verkehrslärm führt zu Stress und Ärger – und das wiederum wirkt sich langfristig negativ auf den Körper aus. Insbesondere kardiovaskuläre Schäden wie Bluthochdruck, KHK und Schlaganfall sind hier zu erwarten. In einer eigenen Studie3 konnten Münzel und Kollegen belegen, dass bereits eine einzige Nacht unter Fluglärm genügt, um die Endothelfunktion durch Erhöhung von Stresshormonen wie Adrenalin zu beeinträchtigen. Die endotheliale Dysfunktion besserte sich durch die Gabe von Vitamin C. Im Mausmodell hat man festgestellt, dass Lärm zur Bildung freier Radikale führt – und zwar sowohl in den Gefäßen als auch im Gehirn, wie der Kardiologe unterstrich.
Pollenflug: Allergien, Gewitterasthma und SARS-CoV-2
Einen indirekten Effekt des Klimawandels auf den Menschen kann man im Hinblick auf Allergien gut beobachten, erklärte Traidl-Hoffmann. Mindestens drei Faktoren haben daran Anteil:
- Durch die wärmeren Temperaturen gibt es mehr Pollen.
- Die Pollen fliegen länger als früher: Die Saison dauert mitunter von Januar bis weit in den Herbst hinein.
- Es gibt neue allergieauslösende Pflanzen, allen voran Ambrosia.
„Wir haben es mit einer richtigen Allergieepidemie zu tun“, betonte die Umweltmedizinerin. Etwa 40 Prozent der europäischen Bevölkerung leide bereits an Allergien, Tendenz steigend. „Es ist wie ein Tsunami.“ Apropos Unwetter: Auch das sogenannte Gewitterasthma dürfte künftig häufiger zu beobachten sein. Dabei wirken Pollenflug und Gewitter gemeinsam auf den Körper – und zwar sogar bei Menschen, die gar nicht unter Heuschnupfen leiden, betonte die Kollegin. Die genauen Mechanismen dahinter seien allerdings bislang nicht geklärt.
Es besteht auch ein Zusammenhang zwischen Pollen und SARS-CoV-2: Bei vermehrtem Flug verzeichnet man eine erhöhte Infektionsrate. Das konnte die Münchner Arbeitsgruppe zusammen mit einem internationalen Forscherteam in einer Korrelationsstudie zeigen. Bei gleichzeitigem Auftreten von Pollen und Viren hemmt der Blütenstaub die antivirale Antwort, das Virus kann sich stärker replizieren.
Bewusstsein schaffen und vulnerable Patienten schützen
Eines muss in Bezug auf das Klima laut Traidl-Hoffmann jedem klar sein: „Wir sägen an dem Ast, auf dem wir sitzen.“ Natürlich könne man durch Maßnahmen, die den Klimawandel abmildern, Menschen schützen. Doch vor allem sei es wichtig, bei Ärzten und Patienten ein Bewusstsein zu schaffen für die Zusammenhänge zwischen Klima und Gesundheit. „Wir brauchen auf alle Fälle eine Klimasprechstunde, wir brauchen dieses Bewusstsein.“ Das unterstrich auch der in Hemmingen niedergelassene Internist Dr. Robin Maitra. Er rät dazu, eine Klima- oder Hitzesprechstunde anzubieten sowie besonders vulnerable Patienten zu identifizieren und gesondert zu beraten, z.B. im Hinblick auf ihre persönliche Klimagefährdung oder eine gegebenenfalls notwendige Anpassung der Medikation. Und er erinnerte daran, dass niedergelassene Internisten und Hausärzte in ihrem Alltag erheblich zur Verbesserung des Klimas beitragen können – beispielsweise durch eine entsprechende Praxiseinrichtung.
Der Klimawandel ist ein Problem, das alle betrifft, darin waren sich die Referenten einig. „Wir müssen enorm dagegen angehen“, forderte Witt. „Das bleibt, glaube ich, die Botschaft aller.“
Klima und Krankheitserreger
Prof. Dr. Lothar Heinz Wieler, der Präsident des deutschen Robert-Koch-Instituts, sprach in einem
weiteren Vortrag zum Thema Klimawandel und Gesundheit über potenzielle Infektionsquellen, die durch die Umweltveränderungen in wachsenden Teilen der Erde an Bedeutung gewinnen können.
Zu berücksichtigen sind laut dem aus der Veterinärmedizin stammenden Experten für Mikrobiologie u.a. die zunehmenden Überschwemmungen, die zum einen das Überleben und die Vermehrung von potenziell krankheitsübertragenden Mücken begünstigen, zum anderen aber auch die direkte Verbreitung von Erregern, wie Spirochäten (Leptospirose) oder Sporen von Bacillus anthracis (Milzbrand) über das verunreinigte Wasser. Durch die konstant höheren Temperaturen und den geringeren Sauerstoffgehalt im Wasser, verändert sich auch das Mikrobiom in den Meeren. In den letzten Jahren wurden in diesem Zusammenhang bereits Einzelfälle von Wundinfektionen in Ost- und Nordsee mit Non-Cholera-Vibrionen beobachtet, so Wieler. Noch ein Punkt zum Thema Wasser: Die in Tier- und Humanmedizin eingesetzten Mengen an Antibiotika gelangen über die Ausscheidungen in Grundwasser und Boden. Das Problem der Antibiotikaresistenzen ist somit auch ein Umweltproblem. „Es gibt erschütternde Daten darüber, wie die Abwässer von Krankenhäusern mit einer Zunahme antibiotikaresistenter Bakterien in der Umwelt einhergehen“, gibt der Experte zu bedenken.
Auch an Land verändert sich die Biozönose. Dies betrifft u.a. das Zeckenvorkommen in Deutschland: So wurde etwa die südländische Hyalomma-Zecke bereits mehrfach angetroffen. Diese räuberhafte Zecke, die ihren Wirt verfolgt, ist in der Lage, neben FSME, Borreliose, Rickettsiose, Tularämie etc. auch das Krim-Kongo-Fieber-Virus (CCHFV) zu übertragen. Bisher wurde Letzteres erst in südlichen Ländern Europas beobachtet. Auch unter den in Deutschland heimischen Stechmücken finden sich potenzielle Überträger tropischer Krankheiten, so etwa die asiatische Tigermücke, Aedes albopictus (Zika-Virus, Dengue-Virus, Chikungunya-Virus). Das West-Nil-Fieber ist seit zwei Jahren in Deutschland anzutreffen, so der Experte. Dieses von der heimischen Stechmücke, Culex, übertragene Virus habe jedoch weniger mit dem Klimawandel, als mit der Mobilität einer globalisierten Welt zu tun.
Referenzen:
- Lelieveld J et al, Eur Heart J 2019: 40(20):1590–1596
- Science Communication Unit: Science for Environment Policy (2016), In-depth Report 13; Abrufbar unter: http://ec.europa.eu/science-environmentpolicy
- Schmidt FP et al, Eur Heart J 2013; 34(45):3508–3514
Kongress der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin, virtuell, 21.4.21