Folgen des demografischen Wandels
Noch vor 30 Jahren waren junge Männer, die mit ihrem Motorrad verunglückt sind, die größte Patientengruppe mit Schädel-Hirn-Trauma (SHT). Heute führen Stürze älterer Menschen die Statistiken an.
1990 gab es in der Altersgruppe der 20- bis 25-Jährigen in Deutschland noch 939 tödliche Kopfverletzungen, im Jahr 2017 nur noch 116. Drei Jahrzehnte, in denen offensichtlich nicht nur die Verkehrssicherheit zugenommen hat, sondern die Bevölkerung auch deutlich älter geworden ist. Dieser demografische Wandel hatte auch erhebliche Auswirkungen auf das SHT: In der Gruppe der 80- bis 85-Jährigen stieg die Zahl der tödliche Kopfverletzungen im gleichen Zeitraum von 569 auf 1.458. Oder wie es Dr. Alexander Younsi, Neurochirurg im Universitätsklinikum Heidelberg, ausdrückt: „Was vor 30 Jahren die 15- bis 30-Jährigen waren, sind heute die über 75-Jährigen.“ Mit der Altersverteilung haben sich auch die Ursachen für das SHT verändert: Heute stehen nicht mehr Verkehrsunfälle, sondern Stürze in der eigenen Wohnung an erster Stelle.
Die gute Nachricht: Seit der Einführung der Helmpflicht für Motorräder im Jahr 1976 hat sich die Gesamtzahl der SHT-Verletzungen mit Todesfolge in Deutschland fast halbiert. Die schlechte Nachricht: Insgesamt ist die Zahl der SHT-Patienten zwischen 2000 und 2020 deutlich gestiegen. Es gibt also mehr Schädel-Hirn-Traumata, aber weniger dadurch bedingte Todesfälle.
Die prognostizierte demografische Entwicklung lässt befürchten, dass sich an diesem Trend in absehbarer Zeit nicht viel ändern wird. Gewandelt hat sich dadurch auch das Aufgabenfeld der Neurochirurgen: Statt mit offenen Schädelverletzungen haben sie es immer häufiger mit subduralen Hämatomen zu tun, die einer Intervention bedürfen.
Neue Herausforderungen
Zu den großen Herausforderungen bei der Behandlung älterer SHT-Patienten gehört, dass diese häufig eine große Anzahl von Vorerkrankungen haben und blutverdünnende Medikamente einnehmen. „Unter oraler Antikoagulation ist die Inzidenz für traumatische intrazerebrale Blutungen um etwa 20 Prozent erhöht“, berichtet Younsi. „Das Risiko, an einer Blutung zu versterben, verdoppelt sich sogar. Selbst bei leichtem SHT ist das Langzeit-Behandlungsergebnis schlechter, wenn die Patienten orale Antikoagulantien einnehmen.“ Hier lassen sich jedoch durch eine Anpassung der Therapie Verbesserungen erzielen: Deutsche Forscher kamen in einer retrospektiven Analyse der Ergebnisse von 186 SHT-Patienten über 60 Jahren zum Schluss, dass in dieser Altersgruppe direkte orale Antikoagulantien sicherer sind und zu weniger intrakraniellen Blutungen führen als Vitamin-K-Antagonisten.
Wie sehr Vorerkrankungen das Behandlungsergebnis negativ beeinflussen, zeigen Daten aus dem eigenen Haus, die Younsi präsentierte: „Wir haben uns die Ergebnisse von 623 Patienten angeschaut, die wegen eines chronischen subduralen Hämatoms chirurgisch behandelt werden mussten.“ Hatten die Patienten einen Hypertonus, eine Niereninsuffizienz oder eine KHK, war in 28 Prozent der Fälle ein zweiter chirurgischer Eingriff erforderlich. Ohne Vorerkrankungen lag die Reoperationsrate nur bei 15 Prozent. Patienten mit Vorerkrankungen hatten in der multivariaten Analyse auch ein signifikant schlechteres Behandlungsergebnis.
Große Fortschritte gab es auch bei der intensivmedizinischen Betreuung. „Patienten über 60 Jahren, die auf einer neurologischen Intensivstation versorgt werden, haben selbst nach schwerem SHT heute eine ein reelle Chance, ein gutes Behandlungsergebnis ohne Folgeschäden zu erreichen“, so Younsi.
Repetitives leichtes SHT
Natürlich sind Verkehrsunfälle nach wie vor eine ganz wichtige Ursache für akute Schädel-Hirn-Traumata bei jungen Menschen. Daneben ist in den letzten Jahren aber verstärkt das Krankheitsbild des repetitiven leichten SHT in den Fokus gerückt. Laut Definition ist ein SHT dann leicht, wenn der Glasgow-Coma-Scale (GCS)-Wert 30 Minuten nach dem Trauma zwischen 13 und 15 liegt. Das repetitive leichte SHT ist meist Folge von Sport und Freizeitaktivitäten (Kopfbälle, American Football, Boxen) und erhöht das Risiko für ein postkommotionelles Syndrom, also längere neuropsychologische Folgeerscheinungen. Langfristig können wiederholte Traumata auch zu chronisch degenerativen Erkrankungen (Demenz, chronisch traumatische Enzephalopathie, Parkinson-Krankheit) führen. Das gilt insbesondere für komplizierte leichte Schädel-Hirn-Traumata, bei denen trotz eines hohen GCS-Wertes im CT Blutungen oder andere pathologische Veränderungen gefunden werden können.
„Traumatic brain injury (TBI) – a disease under demographic change“, 38. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für NeuroIntensiv- und Notfallmedizin (DGNI) und der Deutschen Schlaganfall-Gesellschaft (DSG), 22.1.21