Ziel Zero Covid? „Gerade für die Kinder sollten wir das tun“
Die Zeit unmittelbar vor der ersten Welle sei die schwierigste seines Berufslebens gewesen. So schlecht habe er noch nie geschlafen, erzählt OA Dr. Wolfgang Hagen, Internist in Wien, im Interview. Was ihm damals durch den Kopf ging, warum die zweite Welle „zermürbender“ war und weshalb er mit Gleichgesinnten aus dem Gesundheitsbereich die Petition „Offener Brief an die Bundesregierung #ZEROCOVID“ als Erstunterzeichner unterstützt, hat auch damit zu tun, dass er es als Vater „furchtbar“ findet, was die Gesellschaft von den Kindern und Jugendlichen verlangt.
Sieben Ärzte und eine Chemikerin aus dem Gesundheitsbereich haben einen Offenen Brief an die Bundesregierung verfasst, der #ZeroCovid bzw. eine NoCovid-Strategie mit „Impfung und gleichzeitig starker Eindämmung“ fordert. In Kooperation mit dem Journalisten Sebastian Reinfeldt hat die Redaktion zwei der Initiatoren, Dr. Daniela Litzlbauer (Link siehe unten) und Dr. Wolfgang Hagen, interviewt und danach die Gesundheitssprecher der Parlamentsparteien befragt, was sie von der Initiative halten.
medonline: Herr Dr. Hagen, wann haben Sie das erste Mal von dieser Petition und was war der Impuls für Sie, diese öffentlich als Erstunterzeichner zu unterstützen?
Wolfgang Hagen: Am 1. Jänner. Es gab international schon zahlreiche, teils sehr prominente VirologInnen und klinisch tätige MedizinerInnen, die wussten, dass „Flatten The Curve“ zum Schutz der basalen Krankenversorgung zwar am Anfang wichtig war, jetzt aber eine andere Strategie notwendig ist, um aus der zermürbenden und wenig wirksamen Abfolge von Lockerungen, Verschärfungen, Lockerungen herauszukommen.
Daniela Litzlbauer kannte ich schon seit Längerem via Twitter. Sie griff die internationalen Initiativen auf, schrieb den offenen Brief und suchte Gleichgesinnte. Da waren ich und ein paar andere gleich dabei, da wir diese Überlegungen ja schon kannten und unterstützten. Der Brief wurde dann – wenn ich mich richtig erinnere – im Wesentlichen unverändert ins Netz gestellt.
Zum Interview mit Dr. Daniela Litzlbauer, HNO-Ärztin in St. Valentin, Niederösterreich, über die Themen harte Lockdowns, Inzidenzen, neue Varianten und wirtschaftliche Aspekte:
Wie haben Sie die erste und zweite Welle in Ihrer Arbeit als Kliniker erlebt, hat sich etwas in Ihrem Berufsverständnis verändert?
Als Kliniker war die Zeit unmittelbar VOR der ersten Welle die schwierigste meines Berufslebens. Wir wussten noch nicht, was auf uns zukommen würde, kannten aber schon die erschütternden Berichte aus Bergamo, wo Kranke in improvisierten Militärzelten auf Spitalsparkplätzen erstickten. Und auch die ersten Berichte aus Madrid, London, New York, wo es kaum weniger schlimm war. So schlecht wie damals, als die erste Welle auch auf uns zurollte, habe ich noch nie geschlafen. Weil wir in Österreich in der ersten Welle die Zeit und den Willen zur schnellen Reaktion hatten, kam es dann bei uns zum Glück anders, die Krankenversorgung konnte aufrecht erhalten werden.
Trotzdem merkten wir schnell, dass wir es hier mit etwas zu tun hatten, das wir in dieser Heftigkeit nicht kannten. Ich habe schon einige teils ziemlich heftige, herausfordernde Grippewellen im Spital miterlebt. Aber Covid-19 ist eine komplett andere Kategorie.
In der zweiten Welle war es irgendwie zermürbender. Wir sahen, wie die Infektionszahlen langsam, aber stetig zunahmen, die Spitäler immer voller wurden, aber die Politik wochenlang beschwichtigte. Die Warnung vor der zweiten Welle wurde oft noch als Panikmache bezeichnet, als sie bereits da war. Das fand und finde ich schon belastend.
Von den zweifellos belastenden Maßnahmen durch die Lockdowns ist viel die Rede. Andererseits: Können wir das Gesundheitspersonal, aber auch die Gesellschaft – Stichwort Übersterblichkeit, Absage/Verschieben elektiver Operationen, auch bei Kindern – weiteren Wellen aussetzen?
Keiner von uns wird das ewig durchhalten. Man merkt eine gewisse psychische Ermüdung, sowohl bei der Ärzteschaft als auch beim Pflegepersonal. Die Schutzmaßnahmen sind mühsam, die Arbeit in der Schutzkleidung ist vor allem für das Pflegepersonal sehr anstrengend. Und wir sind mit mehr Todesfällen – auch bei 50-, 60-Jährigen – konfrontiert, als wir es gewohnt sind, und mit vielen Menschen, denen es wirklich sehr schlecht geht und die ihren kritischen Zustand oft im vollen Bewusstsein mitbekommen.
Die Kollateralschäden der verschobenen oder abgesagten Untersuchungen und Operationen sind ein weiterer Grund, die Infektionszahlen möglichst weit herunter zu bekommen. Auch der Nicht-Covid-Betrieb in den Spitälern ist derzeit aufgrund der vielen notwendigen Vorsichtsmaßnahmen um einiges aufwendiger als früher.
Die Übersterblichkeit scheint in der Gesellschaft noch nicht so ins Bewusstsein gekommen zu sein. Die Zahlen sind abstrakt und können leicht verdrängt werden. Dass bereits knapp 1 von 1.000 Personen in Österreich an Covid-19 gestorben ist, ist nicht bewusst. Die Covid-Toten haben bei uns kein Gesicht, sie sind anonym, wenn man nicht gerade selbst jemanden kennt.
Dazu kommen noch die vielen Menschen mit monate-, vielleicht jahrelang anhaltenden Folgeerscheineungen – Stichwort Long Covid. Was das alles auch für die Gesellschaft bedeutet, wird uns wohl erst in Jahren klar werden.
Sie sind selber Vater von Schulkindern. Was würden Sie sich in der gesellschaftlichen Debatte um Schulöffnungen – Angst vor Bildungsverlust, sozialer Isolation versus Angst vor Ansteckung, Krankheit und Tod, Long Covid – für Kinder allgemein und ihre Freunde wünschen?
Das ist meiner Meinung nach das schwierigste Thema. Die Schulen zu schließen ist aus pädagogischer, sozialer und gesellschaftlicher Sicht eine absolute Katastrophe. Und trotzdem bin ich überzeugt, dass Schulschließungen in der jetzigen Situation alternativlos sind.
Wie schwierig die Situation gerade für die Kinder und damit auch für die Eltern ist, merke ich auch zuhause. Meine 15-jährige Tochter sagt, dass ihr die Pandemie ihre Jugend stiehlt. Ein Freund, der Kinderarzt ist, hat mir erzählt, dass er merkt, wie Aggressionen bei den Kindern zunehmen. Was wir von den Kindern und Jugendlichen verlangen, ist furchtbar.
Dass von Politik und Gesellschaft nicht alles unternommen wird, um gerade den Kindern und Jugendlichen möglichst bald wieder soziale Kontakte zu ermöglichen, finde ich bezeichnend. Es wird mehr über Seilbahnen als über Kinder gesprochen.
Aber bedeutet das Ziel Zero Covid bzw. No Covid immer auch Schulschließungen – bis auf streng geregelte Notbetreuung – ab einer gewissen Inzidenz?
Ja, leider. Auch wenn Teile der Politik und auch manche Berater in Österreich immer noch anderes behaupten, besteht international inzwischen kein Zweifel mehr, dass Kinder – auch die kleineren – und damit Schulen Teil des Infektionsgeschehens sind. Und weil es in Österreich über eine Million Schülerinnen und Schüler gibt, sind sie sogar ein bedeutender Teil.
Das muss endlich anerkannt werden. Dann kann man ernsthafte Maßnahmen zu sicheren Schulöffnungen bei niedrigen Infektionszahlen planen. Denn aus den vorher genannten Gründen müssen wir alles daran setzen, dass die Schulen dann, wenn es das Infektionsgeschehen zulässt, als Allererstes wieder aufsperren, vor den Büros, Bars und Fitnessstudios. Und natürlich mit allen notwendigen Begleitmaßnahmen.
ZeroCovid bedeutet, durch eine Kraftanstrengung jetzt, die uns allen noch einmal einiges abverlangen wird, endlich aus den zermürbenden Dauerteillockdown herauszukommen. Gerade für die Kinder sollten wir das tun.
Herzlichen Dank für das Interview!
Was will #ZEROCOVID?
Aus dem Offenen Brief, der auf Open Petition unterstützt werden kann:
Wir ersuchen Sie, die Bevölkerung und die Gesundheitsmitarbeiter*Innen aufgrund dieser Gefahr effektiv zu schützen. Lassen Sie uns gemeinsam an einer Nocovid-Strategie arbeiten, damit wir gemeinsam mit Impfung, Physical-Distancing, Masken-Tragen, Hygieneregeln und funktionierendem Contacttracing diese Pandemie beenden können. Die gesamte Bevölkerung sehnt sich nach einer Normalisierung der Situation – mit der Impfung und gleichzeitiger starker Eindämmung können wir das Beste für unser aller Gesundheit und die wirtschaftliche Situation in unserem Land herausholen.
Statements der Gesundheitssprecher
Wir stellten den Gesundheitssprechern der Parlamentsparteien zur Petition zwei Fragen. Nur drei Parteien haben geantwortet (eine nachträglich).
- Wie stehen Sie zu dieser Initiative?
- Können Sie sich vorstellen, diese zu unterschreiben bzw. haben Sie das bereits getan? Falls ja, warum? Falls nein, warum nicht?
NR-Abg. Mag. Gerald Loacker, Gesundheitssprecher der NEOS
- Wir strengen uns alle an, Kontakte zu beschränken und die Pandemie einzudämmen. Eine Null-Covid-Strategie ist meiner Ansicht nach nicht umsetzbar. Viele Menschen müssen einfach weiterarbeiten, um das Leben aufrecht zu erhalten: Gesundheitswesen, Energieversorgung – und damit auch die Verkehrsinfrastruktur, weil die Leute aus Gesundheitswesen und Energieversorgung ja auch zum Arbeitsplatz müssen, weil die Bürger zu den Gesundheitsdienstleistern müssen usw. usf.
Vielmehr erscheint es mir problematisch, dass wir nach 11 Monaten immer noch nicht überlegen, wie wir mit dem Virus leben, arbeiten und lernen können. Das Virus wird nicht verschwinden. Es wird weiter existieren, weiter mutieren und uns weiter begleiten, auch wenn uns das nicht freut.
Die Impfung ist eine Chance auf Normalisierung. Wenn zumindest schwere Verläufe verhindert werden können, ist das Hauptziel erreicht, nämlich dass das Gesundheitssystem nicht überlastet wird. - Nein. Begründung wie oben ausgeführt.
NR-Abg. Ralph Schallmeiner, Gesundheitssprecher der Grünen:
- Ich kenne die „Zero-Covid-Idee", ich finde sie einen spannenden Ansatz, der in der Theorie sehr gut und durchdacht wirkt, in der Praxis aber – aus meiner Sicht – einige Unwägbarkeiten aufweist. Zum einen ist aus meiner Sicht der Zeitpunkt für eine Zero-Covid-Strategie überschritten, sowohl in der Bevölkerung gibt es angesichts von weit über 150 Lockdown-Tagen in Österreich kaum noch Rückhalt für eine harte Maßnahme. Viele Menschen sind bereits am Limit, auch das muss anerkannt werden. Zum anderen wäre ein damit einhergehender sehr harter Lockdown nochmals mit extremen Kosten und Aufwänden verbunden, was auch angesichts der Auswirkungen der bisherigen Maßnahmen nochmals erschwerend dazu kommt. Ich bin zudem der Meinung, dass „Zero Covid“ nur im europäischen Gleichklang funktionieren könnte und würde. Auch diese Dimension gilt es zu beachten, und auch hier sehe ich Stolpersteine, die eine Umsetzung unrealistisch erscheinen lassen.
- Nein, ich habe nicht unterschrieben, und ich werde den Aufruf Stand heute nicht unterschreiben. Ich bin aber gerne zu einer weiteren Debatte dazu bereit, und lasse mich gerne auch von der Idee und der Realisierung mit guten Argumenten überzeugen.
NR-Abg. Philip Kucher, Gesundheitssprecher der SPÖ (nachgebracht):
- Für die SPÖ stehen stabile, niedrige Infektionszahlen im Vordergrund. Dazu gehören eine klare Kommunikation und konsequente Linie. Denn die ständige "Auf-Zu"-Politik der Regierung hat zur Corona-Müdigkeit der Menschen beigetragen. Es braucht aus unserer Sicht ein Bündel aus Maßnahmen von der raschen Impfung, über kostenlose und einfach zugängliche Testmöglichkeiten, bis zu FFP2-Masken und Hygiene. Nur so können wir den Kampf gegen das Virus gewinnen. Aber es muss immer ein Mix aus Maßnahmen sein, der die Gesundheit sowie die Wirtschaft und das soziale Leben der Menschen im Auge hat.