Sjögren-Syndrom – „Die Patientin bleibt die Chefin“
Gezieltes Krankheitsmanagement ermöglicht Ursula trotz Mehrfachtherapie ihrer seltenen Autoimmunerkrankung eine gute Lebensqualität. Maximale Unterstützung bekommt sie von ihrer Hausärztin Dr. Stephanie Poggenburg und dem Rheumatologen OA Dr. Raimund Lunzer.
Im Alter von acht Jahren begann bei der heute 52-jährigen Ursula eine deutliche Alopezie, zunächst mit kreisrundem und später mit großflächigem Haarausfall. „Da sich ungefähr zur selben Zeit meine Eltern getrennt hatten, wurde es als psychisches Symptom interpretiert. Rückblickend besteht die Vermutung, dass die Alopezie schon mit dem Sjögren-Syndrom zusammenhängen könnte. Zudem hatte ich in der Kindheit sehr viele Infektionen im HNO-Bereich und später während meines Studiums öfter Fieberanfälle, die sogar stationär behandelt werden mussten“, schildert die in der Steiermark beheimatete Patientin.
Als Ursula während ihres Studiums als Ordinationshilfe arbeitete, wollte ihre damalige Chefin, eine Internistin, den wiederholten Infekten und Fieberanfällen auf den Grund gehen und entdeckte schließlich das damals noch weitgehend unbekannte Sjögren-Syndrom. „Über Jahre konnte ich es mit entzündungshemmenden Medikamenten gut behandeln, aber irgendwann war dann ein Punkt erreicht, wo das allein nicht mehr ausreichte“, führt Ursula aus.
Im Zuge mehrerer Kinderwunsch-Behandlungen wurde dem Sjögren-Syndrom ärztlicherseits aber auch keine weitere Aufmerksamkeit geschenkt. Die Mutter von vier Kindern erlitt allerdings vor bzw. zwischen den Schwangerschaften auch Fehlgeburten. „Vor rund sieben Jahren nahmen die Beschwerden dann zu, wobei sich neben ständigen Schmerzen die Mundtrockenheit und Sehkraftbeeinträchtigungen als größtes Problem erwiesen, da ich beruflich bedingt sehr viel sprechen und lesen muss. Von meinem betreuenden Rheumatologen OA Dr. Lunzer bei den Barmherzigen Brüdern Graz bekam ich den Tipp, Frau Dr. Poggenburg als Hausärztin aufzusuchen, die mich seither sehr kompetent unterstützt.“
Komplexe Grunderkrankung
Tatsächlich kannte die Grazer Allgemeinmedizinerin Dr. Stephanie Poggenburg das Sjögren-Syndrom zwar vom Medizinstudium, Ursula ist bislang jedoch ihre einzige Patientin mit dieser Diagnose. „Gerade bei dieser Patientin wird deutlich, wie sehr die Erkrankung den gesamten Organismus betrifft. Sie hat immer wieder Infekte, muss ihre Augen sehr gut schützen und leidet oft an Schmerzen. Da besteht häufig die Herausforderung zu unterscheiden, welche Symptome auf die Grunderkrankung zurückzuführen sind oder vielleicht doch Komplikationen eines aktuellen Infekts sind“, sagt Poggenburg.
Nach ihrer Ansicht ist bei allen schweren Krankheitsbildern die Kommunikation zwischen Ärztin und Patientin in gutem und raschem Austausch mit einem Spezialzentrum entscheidend, um rasch und adäquat reagieren zu können. „Es muss neben Fragen zu Krankheit und Therapie allerdings auch die Zeit gegeben sein, allgemeine Lebensfragen zu besprechen“, ist die Allgemeinmedizinerin überzeugt. Sie selbst nimmt sich bewusst diese Zeit, selbst wenn ihr diese als Kassenärztin kaum abgegolten wird.
„Wir sprechen dabei ganz offen an, dass die Erkrankung bis heute nicht heilbar ist, durch entsprechendes Management aber gut kontrolliert werden kann. Der Patientin sollte aber zur bestmöglichen Lebensqualität verholfen werden, sodass sie ihr Leben genießen kann. Mitunter muss ich sie dann davon überzeugen, dass sie eine Auszeit benötigt.“
Poggenburg gibt offen zu, dass die komplexe medikamentöse Therapie ein entsprechendes Nebenwirkungsmanagement erfordert. So erhält Ursula aktuell eine entzündungshemmende Kortisontherapie, Rituximab und das Malaria-Medikament Hydroxychloroquin, das als Standard bei dieser Autoimmunerkrankung gilt. „Kortison als Dauertherapie ist immer eine Herausforderung, vor allem, da es etwa psychische Nebenwirkungen hervorrufen kann. Als kurzfristige Akuttherapie sehe ich es dagegen relativ unproblematisch“, sagt Poggenburg. Für ein optimales Nebenwirkungsmanagement der Dreifachtherapie sind zudem Magenschutz und Kalzium erforderlich. „Dabei ist hervorzuheben, dass die Patientin über ihre Erkrankung sehr gut informiert ist und ein außergewöhnlich gutes Selbstmanagement hat“, ergänzt Poggenburg.
Die Patientin selbst zeigt sich froh über die optimale Unterstützung durch ihre Hausärztin und den Rheuma-Spezialisten: „Ich war zur richtigen Zeit bei den richtigen Ärzten, das gibt mir sehr viel Sicherheit“, meint Ursula.
Frühere Diagnose durch Aufmerksamkeit
Patientin und Ärztin plädieren gemeinsam dafür, bei komplexen bzw. länger andauernden Beschwerden wie auffälliger Karies trotz Zahnhygiene und guter Ernährung, Mund- und Augentrockenheit an eine seltene Erkrankung wie das Sjögren-Syndrom zu denken. „Wir als Ärzte und Ärztinnen sollten jedenfalls bei auffällig verlaufenden Infekten oder Symptomen dem Impuls nachgeben, der uns sagt: Hier verläuft etwas nicht alltäglich“, sagt Poggenburg. „Mitunter erinnere ich mich selbst daran, mich gewissermaßen um 180 Grad zu drehen und die Perspektive zu wechseln, um Auffälliges weiter zu verfolgen. Ich muss mir auch eingestehen, wenn ich selbst nicht weiter weiß und an Fachkolleg:innen überweisen.“ Auch wenn Ursula bislang ihre einzige Patientin mit Sjögren-Syndrom ist, so ist die Grazer Allgemeinmedizinerin überzeugt davon, dass die Erkrankung noch unterdiagnostiziert ist.
Fakten-Check: Sjögren-Syndrom
Das Sjögren-Syndrom ist eine Autoimmunerkrankung und gehört zur Gruppe der Kollagenosen. Nach der rheumatoiden Arthritis gilt es als zweithäufigste entzündlich-rheumatische Erkrankung. Von 1.000 Menschen leiden vier an einem Sjögren-Syndrom, wobei Frauen zehnmal häufiger betroffen sind als Männer (Quelle: Deutsche Rheumaliga).
Entzündungen der Tränen- und Speicheldrüsen mit verminderter Flüssigkeitsproduktion sind charakteristisch, ebenso können die Schleimhäute der Atemwege oder im Genitalbereich austrocknen (Sicca-Syndrom). Auch Organbeteiligungen etwa im Magen-Darm-Trakt sind möglich, zudem ist das Risiko für Lymphome erhöht. Weiters gehören Fatigue, Gelenk- und Muskelbeschwerden sowie vorübergehend geschwollene Speicheldrüsen und Halslymphknoten oder trockene Haut zu den Symptomen des Sjögren-Syndroms.
Die Diagnose erfolgt unter anderem durch Funktionstests der Speichel- und Tränendrüsen, bildgebende Verfahren oder eine Lippenbiopsie zur Analyse kleiner Speicheldrüsen.
Wie bei den meisten Kollagenosen sind bei einem Sjögren-Syndrom Anti-Nukleäre Antikörper (ANA) nachweisbar, speziell Anti-Ro- und Anti-La-Antikörper. Durch verschiedene medikamentöse und nicht-medikamentöse Maßnahmen können die Symptome kontrolliert werden.
Patient:innen wird auch empfohlen, sich Unterstützung in der Aussprache über Belastungen mit der chronischen Erkrankung zu holen – sowohl mit Expert:innen als auch durch den Austausch mit anderen Betroffenen. Im Raum Steiermark/Kärnten gibt es eine Selbsthilfegruppe Sjögren-Syndrom:
https://selbsthilfe-stmk.at/selbsthilfegruppe-sjoegren-syndrom-steiermark/
Serie: Die Gesichter Seltener Erkrankungen
Seltene Erkrankungen frühzeitig zu erkennen und bestmöglich zu behandeln bzw. zu managen gehört zu den größten Herausforderungen der Medizin im dritten Jahrtausend. Mitunter sind es vielleicht nur zehn, zwölf Menschen in Österreich mit derselben Diagnose, die oft erst nach jahrelangen Wegen durch Ordinationen und Ambulanzen wissen, woran sie tatsächlich leiden. Die Diagnose erhielten sie meist von engagierten Ärztinnen und Ärzten, die auf den richtigen Pfad kamen und sich um Therapie und Management bemühen.
In der medonline-Serie in Kooperation mit dem Referat für Seltene Erkrankungen der Ärztekammer Wien wollen wir die Gesichter Seltener Erkrankungen vorstellen mit dem Ziel, das Bewusstsein dafür zu stärken: Seltene Erkrankungen sind zwar selten, aber es gibt sie! Mitunter sind sie aber viel zu wenig bekannt. Wir stellen Ihnen daher engagierte Ärztinnen und Ärzte und ihre Patientinnen und Patienten bzw. deren Eltern vor. Ihre Erfahrungen sollen dazu beitragen, Seltene Krankheiten besser bekannt zu machen und vielleicht rascher zur richtigen Diagnose und zur bestmöglichen Behandlung zu kommen.
Mag. Christina Lechner (Koordinierende Redakteurin) und Mag. Patricia Herzberger (Redakteurin medonline, CR Medical Tribune) mit Dr. Christoph Buchta (Ärztekammer Wien/Referat für Seltene Erkrankungen)
In Kooperation mit der Ärztekammer Wien
Referat für Seltene Erkrankungen