27. Dez. 2024medonline Medizingeschichte #39

Polly Matzinger: Von der Barkeeperin zur Wissenschaftlerin

Polly Celine Eveline Matzinger wird am 21. Juli 1947 als Tochter eines niederländischen Widerstandskämpfers gegen das NS-Regime und Holocaust-Überlebenden sowie einer ehemaligen französischen Nonne in La Seyne-sur-Mer in Frankreich geboren. 1954 wandert sie im Alter von sieben Jahren mit ihrer Familie in die USA aus.

moMG Sujet Polly Matzinger.
Foto: Public Domain/Polly Matzinger

Nach Aufenthalten an verschiedenen Orten (New York, Kalifornien, Colorado) macht Matzinger ihren Abschluss an der University of California, Irvine. In ihren späten Zwanzigern arbeitet sie als Barkeeperin in Davis, Kalifornien. Angeblich bemerkt ein lokaler Professor in dieser Zeit ihr intellektuelles Potenzial und überredet sie, eine wissenschaftliche Laufbahn einzuschlagen. 1976 tritt sie dem Labor des T-Zell-Forschers Dick Dutton an der University of California in San Diego bei, um dort eine Promotion in Immunologie zu verfolgen.

Matzinger und die Hoch-Zeit der Immunologie

Zu dieser Zeit ist San Diego ein beliebter Ort für Immunologen, der etwa historische Größen wie Mel Cohn, Mike Bevan, Susan Swain, John Kappler, Pippa Marrack und Rolf Zinkernagel versammelt.

Matzingers Promotionsschrift liefert die heute noch zitierte Hypothese der Alloreaktivität. Demnach erkennen alloreaktive T-Zellen viele verschiedene zelluläre Antigene, z.B. Peptide, zusammen mit einem MHC-Komplex. Dies spielt etwa bei der Organtransplantation eine Rolle, bei der T-Zellen auf fremde MHC-Komplexe reagieren. Gemeinsam mit Mike Bevan beschreibt sie das Konzept des Cross-Primings, das die Fähigkeit bestimmter antigenpräsentierender Zellen (APCs), wie z.B. dendritischer Zellen, beschreibt, exogene Antigene (z.B. von abgestorbenen oder infizierten Zellen stammend) aufzunehmen und diese im Kontext von MHC-Klasse-I-Molekülen zu präsentieren, wodurch eine CD8⁺-T-Zellantwort (zytotoxische T-Zellen) ausgelöst wird.

Polly Matzingers Entdeckung der professionellen APC und T-Zell-Toleranz

Drei Jahre später wechselt Matzinger in das Labor von Herman Waldmann an der Universität Cambridge in England, wo sie erstmals nachweist, dass die T-Zell-Toleranz MHC-abhängig ist. 1983 tritt sie an das Institut für Immunologie (BII) in Basel in der Schweiz über. Dort hat jedes Mitglied ein kleines Budget und einen Techniker zur Verfügung, und Matzinger veröffentlicht sechs Arbeiten in sechs Jahren, darunter drei im prestigeträchtigen Magazin Nature. Hier prägt sie erstmals den Begriff der „professionellen“ antigenpräsentierenden Zelle, wie dendritische Zellen und Makrophagen, die naive CD4-T-Zellen aktivieren können, und zeigt, dass B-Zellen „Semi-Profis“ sind, da sie Gedächtnis- aber keine naiven T-Zellen aktivieren können. Mit diesen Errungenschaften an einem so frühen Punkt in ihrer Karriere wird Matzinger zu einer Legende in der Immunologie.

Matzingers Ghost Lab und die Entdeckung des Gefahren-Modells

1989 wird sie von Ronald Schwartz als „Special Investigator“ an das Laboratory of Cellular and Molecular Immunology (LCMI) der National Institutes of Health (NIH) in Bethesda, Maryland, USA, berufen. Dort leitet sie 24 Jahre lang die Abteilung für Immunologische Toleranz und Gedächtnis, besser bekannt als das Ghost Lab – ein Name, den das Labor während der neun Monate erhielt, in denen es unbesetzt bleibt, während Matzinger sich intensiv mit der Chaos-Theorie befasst, um deren Potenzial zur Vorhersage von Immunreaktionen zu erforschen. Im Ghost Lab setzt sie ihre Arbeit zur Rolle von B-Zellen als APCs fort und zeigt, dass diese entweder Toleranz oder Aktivierung von CD4-T-Zellen induzieren können, je nachdem, ob die CD4-T-Zellen naiv oder bereits aktiviert sind. Sie ist sowohl eine Theoretikerin, die bestehende Dogmen zugunsten zukünftiger Entdeckungen infrage stellt, als auch eine Experimentatorin, die wesentlich zum Verständnis des „Funktionierens“ des Immunsystems beigetragen hat.

Ihre revolutionärste Arbeit leistet sie in Zusammenarbeit mit dem berühmten Immunologen Ephraim Fuchs: Sie postuliert das Danger-Modell der Immunologie. In radikalem Gegensatz zum damals vorherrschenden Dogma weist sie darauf hin, dass Schäden – und nicht die „Fremdartigkeit“ eines Antigens – eine Immunantwort auslösen. Für sie ergibt es etwa laut eigenen Aussagen keinen Sinn, dass das Immunsystem einer jungen Mutter nicht auf Bestandteile der eigenen Milch reagiert, obwohl diese dem Körper zuvor noch nicht bekannt waren. Dies widerspricht der Vorstellung, dass „Fremdartigkeit“ allein die Grundlage für eine Immunantwort ist.

Eine Karriere, die alte Dogmen zerstört

Das Danger-Modell bringt eine neue Perspektive, die zahlreiche immunologische Phänomene erklären kann. Im Hinblick auf Allergien erkennen McFadden und Basketter, dass das „jüngst vorgeschlagene Danger-Modell eine vielversprechende Alternative für die Untersuchung der allergischen Kontaktdermatitis sein könnte“. Matzinger weist darauf hin, dass toxische Chemikalien und allergene Proteasen Allergien auslösen können, indem sie dendritische oder andere Zellen direkt schädigen. Sie erweitert diese Idee und definiert drei Kategorien von Allergenen:

  1. solche, die selbst Schaden verursachen,
  2. solche, die mit etwas Schadensverursachendem einhergehen, und
  3. solche, die endogene Alarmsignale nachahmen.

Im Zuge ihrer Entdeckungen besetzt sie das Ghost Lab mit Postdocs, die unterschiedliche Interessen und Hintergründe haben. Diese Diversität zeigt sich an den vielfältigen Fragestellungen, denen im Labor nachgegangen wird (beispielsweise orale Toleranz, parasitäre Infektionen, Aktivierung dendritischer Zellen, Transplantationstoleranz, Tumorabstoßung, Immunisierung von Neugeborenen, Darmhomöostase). Die jungen Forschenden werden dabei von ihr angehalten, ihre eigenen Wege zu gehen, selbst wenn sich diese nicht direkt auf das Danger-Modell beziehen. Die spezifische Gemengelage aus individuellen Persönlichkeiten und laufenden Projekten sorgt dafür, dass es in Sitzungen oder Kaffeepausen niemals langweilig wird. Matzinger publiziert in diesem Biotop herausragende Arbeiten in sehr unterschiedlichen Bereichen der Immunologie, die meist das aktuelle Dogma in dem jeweiligen Forschungsgebiet infrage stellen.

Co-Autorin Galadriel Mirkwood

Polly Matzinger sorgte für Aufsehen, als sie ihren Hund, einen Afghanischen Windhund namens Galadriel Mirkwood, als Co-Autorin eines ihrer wissenschaftlichen Artikel angab. Diese Entscheidung entstand aus der pragmatischen Notwendigkeit, da das betreffende Journal keine Publikationen akzeptierte, die nur einen einzigen Autor aufführten. Matzinger, bekannt für ihre unorthodoxe und kreative Herangehensweise, erklärt später, dass ihr Hund ihr zumindest Gesellschaft geleistet habe, während sie an der Arbeit schrieb.

Polly Matzingers herausragende, humorvolle Persönlichkeit

In der Diskussion wissenschaftlicher Fragestellungen pflegt Matzinger die Redensart, dass „Gott im Detail stecke“. In intellektuellen Sackgassen vertieft sie sich in die Details eines Sachverhalts, bis sich entweder eine schlüssige Lösung präsentiert oder der Prozess dazu führt, dass Annahmen überdacht werden müssen. Im wissenschaftlichen Diskurs konzentriert sie sich auf Klarheit und Präzision, auch wenn das manchmal zulasten höflicher Floskeln geht. Gerade bei prominenten Persönlichkeiten aus der Wissenschaft kommt das nicht immer gut an. Ihr Ziel ist aber stets, den Diskurs anzuregen und relevante Fragen zu beleuchten.

Matzingers Leben außerhalb des Labors ist genauso faszinierend wie ihre Forschung. Neben ihrer frühen Arbeit als Bartenderin betätigt sie sich im Lauf ihres Lebens noch als Tischlerin, Jazz-Musikerin, Hundetrainerin und als Playboy-Bunny. Ihre intellektuelle Kreativität wird nicht zuletzt durch Beobachtung und Interaktion mit ihren Border Collies gefördert, was in direkter Konsequenz zur Entwicklung einer der Hauptsäulen des Danger-Modells führt. Sie ist eine erfahrene Hundetrainerin, die für das US-Team bei den Weltmeisterschaften im Schafhüten antritt und etabliert eine neue Schafrasse, sogenannte Gotlands, in den USA.

Obwohl das Ghost Lab 2013 geschlossen wird, bleibt sie ein wertvolles Mitglied der NIH-Community und arbeitet durch Kollaborationen an einer Studie, warum der Masernimpfstoff bei jungen Babys nicht wirkt. Heute ist Polly Matzinger im Ruhestand und lebt auf ihrer Farm, wo sie ihrer langjährigen Leidenschaft für die Schafzucht nachgeht.