Die Tuskegee-Studie: tödliche Experimente
Die offizielle Bezeichnung des Tuskegee-Experiments ist „The Tuskegee Study of Untreated Syphilis in the Negro Male“.
Es beginnt 1932, als es noch keine bekannte Heilung für die ansteckende Geschlechtskrankheit gibt. 600 Afroamerikaner, hauptsächlich sharecroppers – grundbesitzlose Kleinbauern, die einen Teil der Ernte als Pacht an den Grundbesitzer abgeben – werden mit dem Versprechen kostenloser medizinischer Versorgung zur Teilnahme an dem Experiment verleitet. Untersucht werden soll der vollständige Krankheitsverlauf der Syphilis.
Von den 399 Männern mit latenter Syphilis und den 201 gesunden Männern der Kontrollgruppe waren viele zuvor noch nie bei einem Arzt vorstellig geworden. Ihnen wird von den Ärzten des die Studie durchführenden U.S. Public Health Service (PHS) mitgeteilt, dass sie wegen „schlechten Blutes“ (bad blood) behandelt werden. Der Begriff wird in den verarmten Gebieten des amerikanischen Südens verwendet, um eine Vielzahl von Krankheiten zu beschreiben.
Um den gesamten Verlauf der Krankheit zu dokumentieren, bieten Forscher den afroamerikanischen Teilnehmern der Studie keine wirksame Behandlung an, während diese unter schweren gesundheitlichen Problemen leiden. Sie werden von Mitarbeitern des PHS nur überwacht und erhalten Placebos wie Aspirin und Mineralstoffe. 1947, 15 Jahre nach Beginn der Studie, wird Penicillin als Standardbehandlung für Syphilis empfohlen. Am Modus Operandi der Studie ändert das aber nichts. Die Forscher des PHS überzeugen vielmehr örtliche Ärzte in Macon County, Teilnehmer der Studie nicht zu behandeln, sollten sie in ihren Ordinationen vorstellig werden. Stattdessen führen sie ihre eigenen Untersuchungen am Tuskegee Institute, der heutigen Tuskegee University, durch.
In Abwesenheit einer wirksamen Behandlung seitens der Forscher, die das Tuskegee-Experiment durchführen, müssen die teilnehmenden Männer und ihre Familien schweres Leid ertragen. Wenn sie nicht an ihrer unbehandelten Syphilis sterben, dann erblinden sie, verlieren den Verstand oder erleiden eine Vielzahl anderer schwerer gesundheitlicher Probleme. Zu dieser Zeit ist bereits bekannt, dass eine unbehandelte Syphilis zu Herzkrankheiten, Schlaganfällen und Demenz führen kann. In Tuskegee besteht aber so gut wie kein Wissen darüber. Sex und noch vielmehr Geschlechtskrankheiten sind in der wenig formal gebildeten, armen und konservativen Bevölkerung tabu, über beides wird in der Regel nicht gesprochen. Neben den ahnungslosen Teilnehmern gefährdet das Experiment natürlich auch deren Familien, Ehefrauen erkranken ebenfalls und übertragen die Krankheit auf ungeborene Kinder.
Peter Buxton und die Tuskegee Syphilis-Studie
Mitte der 1960er Jahre erfährt der PHS-Forscher Peter Buxton, der sich im Auftrag des Service mit Geschlechtskrankheiten beschäftigt, von der Tuskegee-Studie. Er hört Kollegen über eine Syphilis-Studie reden, die in Alabama durchgeführt wird. Als er sich mit der Bitte um Daten an das Communicable Disease Center (heute Centers for Disease Control and Prevention) wendet, wird ihm ein Aktenordner mit 10 Reports zu dem Experiment übermittelt. Buxton erkennt sofort, dass es sich dabei um ein zutiefst unethisches Experiment handelt.
Als er seine Vorgesetzten unterrichtet und seine schweren ethischen Bedenken deponiert, wird ihm in der Essenz mitgeteilt, dass er sich um seine eigenen Projekte kümmern und das Tuskegee-Experiment vergessen soll. Später bildet das PHS doch noch ein Komitee zur Überprüfung der Studie, welches aber letzten Endes dafür optiert, sie fortzusetzen – mit dem Ziel, die Teilnehmer noch bis zu ihrem Tod zu beobachten, um dann Autopsien durchzuführen und die dann vollständigen Daten auszuwerten.
Buxton verlässt später das PHS, aber die Geschichte des Tuskegee-Experiments geht ihm nicht aus dem Kopf. Schließlich erzählt er einer befreundeten Lokalreporterin davon, was er in den Archiven des PHS entdeckt hat. Diese leitet die Geschichte an Jean Heller von der Associated Press weiter, welche schließlich am 9. Juli 1972 einen Bericht dazu veröffentlicht, der es unter anderem auf die Titelseite der New York Times schafft. Die darauffolgende öffentliche Empörung führt dazu, dass die Studie schließlich beendet wird.
Zu diesem Zeitpunkt sind bereits 28 Teilnehmer an Syphilis gestorben und 100 weitere an Folgeerscheinungen der Krankheit. Mindestens 40 Ehepartner haben sich infiziert und die Krankheit war schon an 19 Kinder von Teilnehmern bei der Geburt übertragen worden.
1973 hält der Kongress Anhörungen zum Tuskegee-Experiment ab. Im folgenden Jahr erhalten die überlebenden Teilnehmer und die Erben der Verstorbenen eine Entschädigung in Höhe von 10 Millionen Dollar, und neue Richtlinien zum Schutz von Menschen in staatlich finanzierten Forschungsprojekten werden eingeführt.
Späte Anerkennung
Als Folge des Tuskegee-Experiments entwickelt sich bei vielen Afroamerikanern ein tiefes Misstrauen gegenüber Gesundheitsbehörden und Impfstoffen. Um diese Wunden des US-Rassismus zu heilen, entschuldigt sich Präsident Bill Clinton 1997 und sagt:
„The United States government did something that was wrong—deeply, profoundly, morally wrong … It is not only in remembering that shameful past that we can make amends and repair our nation, but it is in remembering that past that we can build a better present and a better future.”
Gleichzeitig kündigt Clinton die Gründung eines National Center for Bioethics in Research and Health Care an der Tuskegee University an. Der letzte Teilnehmer der Studie stirbt 2004.
Tuskegee ist nicht das einzige unethische Syphilis-Experiment. 2010 bitten Präsident Barack Obama und andere Regierungsvertreter im Namen der USA für ein anderes menschenverachtendes Experiment um Verzeihung, das Jahrzehnte zuvor in Guatemala durchgeführt worden war. In dieser Studie wurden zwischen 1946 und 1948 fast 700 Männer und Frauen – Gefangene, Soldaten und psychisch Kranke – ohne ihr Wissen oder ihre Zustimmung absichtlich mit Syphilis infiziert (Hunderte weitere werden anderen Geschlechtskrankheiten ausgesetzt). Das Ziel war herauszufinden, ob Penicillin Syphilis nicht nur heilen, sondern auch verhindern kann. Einige der Infizierten erhielten niemals eine Behandlung. Die Ergebnisse dieser Studie wurden nie veröffentlicht.
Der verantwortliche Forscher, Dr. John Cutler, beteiligt sich später auch am Tuskegee-Experiment. Nach Cutlers Tod im Jahr 2003 entdeckt die Historikerin Susan Reverby Aufzeichnungen über die Experimente in Guatemala. Sie teilt ihre Erkenntnisse 2010 der US-Regierung mit. Kurz darauf treten Außenministerin Hillary Clinton und Gesundheitsministerin Kathleen Sebelius an die Öffentlichkeit und Präsident Obama ruft den guatemaltekischen Präsidenten an, um sich zu entschuldigen.
- https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC9872801/
- https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC6258045/
- https://www.nytimes.com/2024/07/18/us/peter-buxtun-dead.html
- https://www.nytimes.com/2011/08/31/world/americas/31syphilis.html
- https://www.rockefellerfoundation.org/guatemala-statement/
- https://apnews.com/article/tuskegee-study-experiment-syphilis-7743bd8c7d51fe0ef9a855b4bec69b1f
- https://www.ap.org/news-highlights/best-of-the-week/2022/tuskegee-syphilis-investigation-anniversary/