14. Nov. 2024medonline Medizingeschichte #36

Virginia und der APGAR-Score

Virginia Apgar wird am 7. Juni 1909 in New Jersey in den USA geboren. Schon in der Highschool beschließt sie, Ärztin zu werden.

Virginia Apgar bei der Untersuchung eines Neugeborenen.
Foto: Public Domain/Library of Congress Prints and Photographs division

Inspiriert dazu wird sie von den wissenschaftlichen Projekten ihres Vaters, der beispielsweise Teleskope baut. Auch das Schicksal ihres älteren Bruders spielt eine Rolle, der an Tuberkulose erkrankt und daran stirbt. Nach der Highschool besucht Virginia das Mount Holyoke College in Massachusetts, wo sie 1929 einen Abschluss in Zoologie erwirbt.

Die Anästhesie, ein neues Fachgebiet

Kurz bevor die Große Depression über die USA hereinbricht, beginnt sie 1923 ein Medizinstudium am College of Physicians and Surgeons der Columbia University in New York. Sie schließt mit Auszeichnung ab und belegt den vierten Platz in ihrer Klasse. Von 1933 bis 1936 absolviert sie ein chirurgisches Praktikum und eine Assistenzzeit am Columbia Presbyterian Hospital in New York unter dem berühmten Dr. Allen Whipple, der ihr vorschlägt, in das neue Gebiet der Anästhesiologie einzusteigen. Zu dieser Zeit wird die Anästhesie im Operationssaal überwiegend von speziell ausgebildeten Krankenschwestern durchgeführt, da Ärzte in diesem Bereich keine formale Ausbildung erhalten. Apgar lässt sich von diesen in die praktischen Grundlagen einführen und absolviert anschließend eine Ausbildung bei zwei der einflussreichsten Anästhesisten dieser Zeit. Sie arbeitet sechs Monate lang mit Dr. Ralph Waters an der University of Wisconsin in Madison, der die erste Abteilung für Anästhesiologie in den USA gründet. Weitere sechs Monate verbringt sie bei Dr. Emery Rovenstine im Bellevue Hospital in New York City, der bis in die 1960er-Jahre bedeutende Beiträge zur Regionalanästhesie leisten wird.

1938 kehrt Apgar in der Hoffnung an die Columbia University zurück, die geplante Abteilung für Anästhesiologie leiten zu können. Die Position wird aber mit ihrem Freund Dr. Emanuel Papper vom Bellevue Hospital besetzt. Es ist schwierig, Mediziner für das Fach zu gewinnen, da es noch nicht als vollwertige Fachrichtung gilt. Ungeachtet dessen entwickelt Apgar Studienprogramme, um das Interesse und die Fähigkeiten in diesem Bereich zu fördern. Sie selbst erhält 1939 als zweite Frau die Zertifizierung der American Society of Anesthesiologists. 1949 richtet das College of Physicians and Surgeons der Columbia University offiziell eine akademische Abteilung für Anästhesieforschung ein und ernennt Virginia Apgar zur ersten Professorin.

Der (Virginia) APGAR-Score

Apgars Forschungsinteresse liegt im Bereich der Geburtshilfe und gipfelt 1953 in der Einführung des APGAR-Scores zur Beurteilung der Gesundheit von Neugeborenen. Virginia Apgar weiß: Die Säuglingssterblichkeit ist zwar in den vergangenen Jahrzehnten zurückgegangen, Todesfälle von Neugeborenen in den ersten 24 Stunden nach der Geburt aber nicht. So gut wie alle im Kreißsaal tätigen Personen können zwischen im Wesentlichen gesunden und akut in Not befindlichen Neugeborenen unterscheiden. Was Apgar jedoch von der Masse ihrer Kolleginnen und Kollegen unterscheidet, ist ihre Fähigkeit, systematisch relevante objektivierbare Beobachtungen zu treffen und ihrer Bedeutung gemäß einzuordnen. Das führt schließlich zum berühmten APGAR-Score.

Der Score ist ein einfach anzuwendender Test, der jedes Neugeborene in eine von drei Kategorien einteilt: 0 für Notfall, 1 für Beeinträchtigung und 2 für optimalen Zustand. Er bewertet den Zustand eines Neugeborenen in fünf Bereichen (Farbe, Herzfrequenz, Reflexreaktion, Muskeltonus und Atemanstrengung) mit einem Akronym: „Appearance“ (Aussehen), „Pulse“ (Puls), „Grimace“ (Gesichtsausdruck), „Activity“ (Aktivität) und „Respiration“ (Atmung). Jeder Punkt wird mit 0, 1 oder 2 bewertet. Ein Gesamtwert von 10, der selten erreicht wird, gilt als perfektes, ideales Ergebnis. Dass sie ein ihrem Nachnamen entsprechendes Akronym kreiert, lässt vermuten, dass Virginia Apgar im Zweifelsfall auch eine gute Marketing-Managerin gewesen wäre.

1952 stellt sie ihre Ergebnisse der medizinischen Gemeinschaft vor, 1953 publiziert sie sie. Anfangs stößt die Verwendung des fünfteiligen Bewertungssystems auf Widerstand, doch zwischen 1952 und 1958 wird der Score an Tausenden von Neugeborenen getestet. Ab den 1960er Jahren verwenden es viele Krankenhäuser weltweit. Ursprünglich ist vorgesehen, dass der Score nach einer Minute angewendet wird, was bis heute auch so gemacht wird. Inzwischen ist eine weitere Bewertung nach fünf Minuten ebenfalls zum Standard geworden. 1959 untersucht das National Collaborative Perinatal Project den Zusammenhang zwischen APGAR-Werten und langfristigen Behinderungen und beobachtet mehr als 17.000 Kinder bis zum Alter von sieben Jahren. Die Studie, die 1966 abgeschlossen wird, bestätigt, dass der APGAR-Score ein wichtiges Instrument zur Identifikation von Babys ist, die ein besonders hohes Risiko zu sterben oder für eine schwere Behinderung aufweisen, was eine unmittelbare Intervention erfordert.

Darüber hinaus interessiert sich Apgar auch für die Auswirkungen von Anästhetika auf den Übergang des Neugeborenen vom Leben im Mutterleib zum Leben außerhalb davon. Mit Hilfe ihrer Kollegen Dr. Duncan Holaday und Dr. Stanley James erlernt sie neue Methoden zur Messung der Blutgase und der Konzentration von Anästhetika im Blut von Neugeborenen. Sie stellt fest, dass niedrige APGAR-Werte oft mit einem niedrigen Sauerstoffgehalt im Blut und einer Azidose in Verbindung stehen. Weitere Untersuchungen zeigen einen Zusammenhang mit der Konzentration von Anästhetika bei der Mutter, besonders bei Müttern, die Cyclopropan ausgesetzt sind. Diese Ergebnisse führen zur Einstellung des Einsatzes dieses Mittels in der Geburtshilfe. 1959, nachdem sie einen Master in Public Health an der Johns Hopkins University erworben hat, engagiert sich Apgar bei der National Foundation for Infantile Paralysis (heute March of Dimes). Sie wird Direktorin der Abteilung für angeborene Fehlbildungen. Als unermüdliche Spendensammlerin und Aufklärerin wird sie dort für ihr Engagement und ihre bedeutenden finanziellen Erfolge gewürdigt. Dr. Julius Richmond, ehemaliger Surgeon General der Vereinigten Staaten, erklärt, Apgar habe „mehr für die Gesundheit von Müttern, Babys und Ungeborenen getan als jeder andere im 20. Jahrhundert“.

Virginia Apgar: multitalentierte, virtuose Exzentrikerin

Virginia Apgar bleibt unverheiratet und ist begeisterte Anglerin, Philatelistin und Musikerin; sie spielt in mehreren Orchestern Cello und Geige. Ein Patient bringt ihr bei, wie man Musikinstrumente baut, und sie stellt sofort ein Cello, eine Geige, eine Mezzovioline und eine Bratsche her. Als sie und eine Freundin ein besonderes Stück Riegelahornholz für ihren Instrumentenbau begehren, das Teil eines Regals einer Telefonzelle an der Columbia University ist, versuchen sie, es legal von der Universität zu erwerben. Als ihrem Kaufansuchen nicht nachgekommen wird, stehlen sie es kurzerhand. Das mitgebrachte Ersatzteil stellt sich als zu lang heraus, weswegen es in der Damentoilette der Universität mit einer Säge gekürzt werden muss. Die Erzählung besagt, dass Apgar in ihrer Krankenhausuniform vor dem Eingang Wache hielt, um Dritte vom Betreten der Toilette abzuhalten.

Virginia Apgar mit einer Violine.
Foro: Public Domain/Library of Congress Prints and Photographs division

Virginia Apgar mit der Violine, die sie aus dem aus einem Regal einer Telefonzelle der Columbia University gestohlenen Stück Riegelahornholz gefertigt hat.

Noch wenige Jahre vor ihrem Tod beginnt sie Flugunterricht zu nehmen und plant, unter der George Washington Bridge in New Jersey durchzufliegen. Ihre unstillbare Neugierde – und ihre Fähigkeit, sich ohne Rücksicht auf Konventionen und Traditionen in die Richtung weiterzuentwickeln, die ihr lohnend erscheint – machen sie letzten Endes zu der bedeutenden Ärztin und Wissenschaftlerin, die sie ist.

Apgar erhält zu Lebzeiten und auch posthum zahlreiche Auszeichnungen. 1973 veröffentlicht sie gemeinsam mit Joan Beck das Elternbuch Is My Baby Alright?. Sie wird vom Ladies’ Home Journal zur Wissenschaftlerin und Forscherin des Jahres 1973 gewählt und publiziert über 60 wissenschaftliche Artikel sowie zahlreiche Kolumnen in Magazinen. Virginia Apgar stirbt am 7. August 1974 an Leberzirrhose. 1995 wird sie für ihre Leistungen in der Wissenschaft in die amerikanische National Women’s Hall of Fame aufgenommen. Ihr APGAR-Score wird bis heute verwendet.