25. Sep. 2024medonline Medizingeschichte #32

Alice Ball und die erste wirksame Lepra-Therapie

Alice Augusta Ball wird am 24. Juli 1892 in Seattle im US-Bundesstaat Washington als drittes von vier Kindern geboren. Ihr Vater, James Presley Ball Jr., ist Anwalt und Zeitungsherausgeber, ihre Mutter, Laura Louise (Howard) Ball, Studiofotografin. Bei ihrem Großvater, James Presley Ball Sr., einem im 19. Jahrhundert bekannten Fotografen und Abolitionisten, beginnt sie über die Arbeit im Fotolabor Interesse an der Chemie zu entwickeln.

Die pharmazeutische Chemikerin Alice Ball.
Foto: Public Domain/via wikimedia

Auf ihrer Geburtsurkunde und auf ihrem Totenschein wird Alice als weiß aufgeführt, obwohl ihre Eltern sich auf ihrer Heiratsurkunde und in den US-Volkszählungsunterlagen als schwarz beschreiben. Laut Quintard Taylor, einem emeritierten Professor für amerikanische Geschichte an der University of Washington in Seattle, hat das wohl weniger mit ihrem tatsächlichen Phänotyp zu tun als damit, wo sich die Balls kulturell verorten.

1902 übersiedelt die Familie in der Hoffnung nach Honolulu, dass das milde Klima dort dem fragilen Gesundheitszustand des Großvaters zuträglich ist. Diese Hoffnung erfüllt sich aber nicht und der Großvater stirbt nach kurzer Zeit, worauf die Balls nach Washington State zurückkehren. Ab 1905 besucht Alice dort die Broadway High School, wo sie sich in der Theatergruppe engagiert und einen Ruf für ihr ambitioniertes Wesen und ihre hervorstechende Intelligenz erwirbt. Sie ist eines der wenigen Mädchen in ihrer Abschlussklasse von 1909, das sich auf das naturwissenschaftliche Programm konzentriert und dort mit Bestnoten reüssiert.

Alice Ball – Wunderkind der pharmazeutischen Chemie

In der Folge erwirbt sie zwei Bachelor of Science-Abschlüsse an der University of Washington: 1912 einen in pharmazeutischer Chemie und 1914 einen weiteren in Pharmazie. Noch als Studentin schreibt sie gemeinsam mit dem Chemiker William Dehn, einem Professor an der University of Washington, ein Papier, das auf ihrer Forschung zu einer Art von Reaktion namens Benzoylierung basiert. Die Arbeit wird im renommierten „Journal of the American Chemical Society“ veröffentlicht.

Nach ihrem Abschluss zieht Alice Ball erneut nach Hawaii, wo sie an der University of Hawaii ein Masterstudium beginnt. Sie setzt ihre Forschung im Bereich der Chemie fort und spezialisiert sich auf die medizinischen Eigenschaften von Pflanzen. Für ihre Masterarbeit analysiert sie die chemische Zusammensetzung der Kava-Pflanze (Piper methysticum), die im pazifischen Raum traditionell für ihre beruhigenden und medizinischen Eigenschaften genutzt wird. Sie ist in der Folge erste Frau und die erste Afroamerikanerin, die an der University of Hawaii einen Master-Abschluss in Chemie erwirbt.

Lepra, oder die Hansen-Krankheit, ist zu dieser Zeit eine nicht heilbare und hoch stigmatisierte Krankheit. Während auf Hawaii lebende Kontinentalamerikaner im Fall einer Diagnose zur Behandlung auf das US-Festland fahren dürfen, werden die Eingeborenen in der Regel ins Exil auf die Insel Molokai geschickt – letzten Endes, um dort zu sterben. Die einzige bekannte Therapie ist Chaulmoogra-Öl, ein Volksheilmittel mit Ursprüngen in Indien und China. Das Öl des Chaulmoogra-Baumes ist seit Jahrhunderten als Medikament bekannt und beinahe unerträglich – übelschmeckend und Übelkeit bis zum Erbrechen verursachend. So abscheulich, dass Patienten sich mitunter weigern, es oral einzunehmen. Für eine theoretisch mögliche topische Anwendung ist die Substanz aber zu klebrig. Wird sie injiziert, dann verklumpt sie und führt zu Blasenbildung, anstatt dass der Wirkstoff absorbiert wird.

Alice Ball, Chaulmoogra-Öl und die Hansen-Krankheit

Wegen ihrer Forschung im Rahmen des Master-Studiengangs und ihrem Wissen um die chemische Zusammensetzung von Pflanzen wird Alice von Harry T. Hollmann von der Leprosy Investigation Station des U.S. Public Health Service auf Hawaii zur Mitarbeit eingeladen. Sie soll das Chaulmoogra-Öl und dessen chemische Eigenschaften untersuchen, um alternative Anwendungen zu erforschen. Kurz darauf, im Alter von nur 23 Jahren, entwickelt sie eine Technik, um das Öl wasserlöslich und damit injizierbar zu machen. Diese besteht darin die Fettsäuren zu verseifen, um Chaulmoogra-Säure zu bilden, und diese Säure in ihr Ethylester umzuwandeln. Dadurch entsteht eine Substanz, die die therapeutischen Eigenschaften des Öls beibehält und gleichzeitig in wässriger Lösung stabiler ist. Diese komplexe, aber sehr elegante Methode, den Wirkstoff des Öls gegen Lepra anwendbar zu machen, wird bis zur Entwicklung der Antibiotika die wirksamste Lepra-Therapie bleiben.

Der tragische Tod der Alice Ball

Alice Ball kann diesen Durchbruch aber nicht mehr publizieren. Sie erkrankt noch während ihrer Forschungsarbeit und geht nach Seattle, um sich behandeln zu lassen, wo sie aber am 31. Dezember 1916 stirbt. Als Todesursache wird eine Chlorgasvergiftung vermutet, die sie sich im Rahmen einer Gasmasken-Demonstration im Labor zugezogen hat. Letzten Endes bleibt das aber Spekulation, da ihre Sterbeurkunde manipuliert wird und Tuberkulose als Todesursache angibt.

Arthur Dean, der Präsident des College of Hawaii, und der Chemieprofessor Richard Wrenshall machen sich daraufhin Balls Arbeit zueigen und verkaufen Alice‘s Durchbruch als den ihren. Sie publizieren 1920 und 1922 Papers im „Journal of the American Chemical Society“, in denen sie Balls Ergebnisse bekannt machen, deren wahre Urheberin aber mit keinem Wort erwähnen. Ihr Kollege Harry Hollmann publiziert aber noch im selben Jahr einen Beitrag, der die Methode zur Nutzbarmachung des Chaulmoogra-Öls nach deren wahren Urheberin als Ball-Methode benennt.

Letzten Endes sollte es aber noch beinahe 50 Jahre dauern, bis Alice Ball die ihr zustehende Anerkennung zuteilwird. In den 1970er Jahren recherchieren Kathryn Takara, eine Professorin an der University of Hawaii, und Stanley Ali, der ein persönliches Interesse an Balls Arbeit hat, in den Archiven der Universität, wo sie tatsächlich Belege für Balls Urheberschaft der Chaulmoogra-Behandlung finden. 2019 ehrt die London School of Hygiene and Tropical Medicine Ball, indem sie ihren Namen in das Fries ihres Hauptgebäudes aufnimmt. Im Februar 2022 erklärt der Gouverneur von Hawaii den 28. Februar zum Alice Augusta Ball Day.