6. Sep. 2024medonline Medizingeschichte #31

Ärzte im Widerstand gegen die Besetzung Frankreichs 1940-1944

Nach dem deutschen Überfall auf Frankreich im Mai 1940 und dem schier unaufhaltsamen Vormarsch der Wehrmacht in Richtung Paris, geht ein Schock durch die französische Gesellschaft, der auch vor der medizinischen Profession nicht haltmacht.

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Wikimedia Commons

Viele Ärzte versuchen verzweifelt, verwundete Soldaten in überfüllten Feldlazaretten zu versorgen, während andere sich dem Strom von Flüchtlingen anschließen, die nach Süden fliehen. Nach nur 6 Wochen kapituliert die Regierung vor dem deutschen Ansturm und hinterlässt die Nation in einem Zustand der Ratlosigkeit. Dass Frankreich, die auf dem Papier stärkste Militärmacht Europas, Hitlers Wehrmacht rein gar nichts entgegenzusetzen hat, ist kaum zu fassen.

Während die deutsche Besatzung mehrere der modernen Krankenhäuser der Hauptstadt für ihre eigenen Zwecke requiriert, arbeiten Ärzte weiterhin in den verbleibenden Einrichtungen der Stadt, um die öffentliche Gesundheitsversorgung aufrechtzuerhalten. Sie sehen sich dabei mit erheblichen Herausforderungen konfrontiert, insbesondere wenn sie jüdischer Abstammung oder ausländischer Herkunft sind.

Antisemitische Tendenzen in Europa

In den 1930er Jahren fanden Tausende Juden, die vor Verfolgung in Nazideutschland und Osteuropa geflohen waren, in Frankreich ein Zuhause. Unter ihnen viele Ärzte. Aber auch die französische Gesellschaft war nicht von den antisemitischen und nationalistischen Strömungen dieser Zeit gefeit, und so forderten französische Ärztevereinigungen Quoten für ausländische (de facto jüdische) Ärzte. Das führte zu Gesetzen, die von praktizierenden Ärzten verlangten, sowohl ein französisches medizinisches Diplom als auch die Staatsbürgerschaft zu besitzen.

Im besetzten Frankreich richtet sich eine stetige antisemitische Propaganda – sowohl von den Deutschen als auch vom kollaborierenden Vichy-Regime orchestriert – gegen jüdische Ärzte, darunter auch der renommierte Kinderarzt und Bakteriologe Dr. Robert Debré. Im Oktober 1940 befiehlt Vichy die Entlassung von jüdischem medizinischem Personal aus öffentlichen Krankenhäusern. Tausende verlieren ihre Existenzgrundlage, viele schließen sich den Forces françaises de l’intérieur (FFI) an.

Widerstand jenseits der Medizin

Nachdem Debré seine Arbeit verloren hat, schließt er sich einer der ersten organisierten Gruppen der Résistance an. Im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen aus der Elite der Pariser Ärzteschaft ist er in der Folge aber nicht in seinem erlernten Beruf tätig. Debré verfasst Traktate, mit welchen die Bevölkerung abseits der Propaganda der deutschen Besatzung und des Vichy-Regimes informiert werden soll. Seine Gruppe wird wie viele andere von der Gestapo infiltriert, was zur Verhaftung und Hinrichtung von 7 ihrer Mitglieder als „Terroristen“ führt.

Robert Debré
Foto: Public Domain/Université Paris Cité

Robert Debré

Debré überlebt die deutsche Besatzung. Nach dem Krieg trägt er dazu bei, Frankreichs öffentliches Gesundheitssystem durch die Demokratisierung des Zugangs zur medizinischen Versorgung und die Schaffung des noch heute bestehenden Systems von Universitätskliniken zu transformieren.

Résistance Santé Service – Der Gesundheitsdienst der Résistance

Louis Pasteur Vallery-Radot
Foto: Public Domain/Université Paris Cité

Louis Pasteur Vallery-Radot

Ein Bekannter Debrés ist Louis Pasteur Vallery-Radot, der Enkel des berühmten Wissenschaftlers. Er ist der wohl berühmteste Arzt in Paris, der seine beruflichen und persönlichen Netzwerke für die Ziele der Résistance nutzt. Vallery-Radots wissenschaftlicher Assistent, Dr. Paul Milliez, ist der Neffe von Paul Rivet, dem Direktor des Musée de l'Homme (Ethnografisches Museum in Paris). Rivet und einige seiner Kollegen veröffentlichen Untergrundzeitungen, sammeln Informationen für die Alliierten und helfen abgeschossenen alliierten Fliegern, sich in Sicherheit zu bringen.

Vallery-Radot, Debré und Debrés Partnerin, die Gräfin Elisabeth de la Bourdonnaye, schließen sich alle dem Netzwerk des Musée de l'Homme an. Im Frühjahr 1942 gründen Debré, Vallery-Radot und Milliez einen separaten Résistance Santé Service (RSS – Gesundheitsdienst der Résistance) und rekrutieren weitere Ärzte.

Entsprechend der patriarchalen Prädisposition der Zeit spielen im Rahmen dieser Geschichte nur wenige Frauen eine Rolle. Eine Ausnahme ist die Ärztin und Forscherin Thérèse Bertrand-Fontaine, die im Leitungsgremium des RSS dient und nach dem Krieg mit dem Widerstandsorden und dem Ordre national de la Légion d'honneur ausgezeichnet wird.

Thérèse Bertrand-Fontaine 1930
Foto: Public Domain/Bibliothèque nationale de France

Thérèse Bertrand-Fontaine 1930

Gemeinsam entwickeln sie ein System, um Medikamente (einschließlich eines Teils des Impfstoffvorrats des Institut Pasteur) zu verstecken, falsche Identitätspapiere und ärztliche Atteste zu erstellen und abgestürzte alliierte Piloten und Widerstandskämpfer zu behandeln. 1943 wird die Gruppe in den Untergrund gedrängt, aber sie können dennoch Verbindungen zu den Forces Françaises Libres, den freien französischen Kräften in London unter Charles de Gaulle, herstellen und Pläne für medizinische Dienste während der bevorstehenden Befreiung Frankreichs akkordieren.

Französische Ärzte unter den Zehntausenden „politischen“ Gefangenen im KZ Buchenwald ermöglichen Gefangenen, die Haft zu überleben, indem sie die Gesundheitsversorgung der Insassen organisieren. Der Ernährungswissenschaftler Dr. Charles Richet, der die durch Vichy und die deutschen Besatzer verursachten Hungersnöte in Frankreich beschrieben hat, hilft unterernährten Patienten des Lagerlazaretts, am Leben zu bleiben. Dr. Victor Dupont, Gründer des 20.000 Mitglieder starken Résistance-Netzwerks Vengeance, dokumentiert in seinen Memoiren die Auswirkungen des harten Arbeitsregimes in Buchenwald und die unmenschlichen Experimente, die an den Häftlingen durchgeführt werden.

Als die alliierte Invasion Frankreichs näherrückt, versorgen Ärzte Résistants, die in bewaffnete Kämpfe verwickelt sind, einschließlich der Maquisards, der ländlichen Guerilla im Rahmen der FFI. Dr. Alec Prochiantz etabliert im Burgund klandestine Feldlazarette für die Maquis sowie für Zivilisten, die zunehmend in das Kreuzfeuer zwischen Befreiern und Besatzern Frankreichs geraten.

Kollaborateure, Anisemiten, Opportunisten

Louis-Ferdinand Céline
Foto: Gallica Digital Library via Wikimedia

Louis-Ferdinand Céline

Freilich gibt es auch andere Beispiele für ärztliches Verhalten im besetzten Frankreich. Der Arzt und Schriftsteller Louis Ferdinand Auguste Destouches (nom de plume Celine) ist Antisemit und aktiver Kollaborateur. Er schreibt Pamphlete, in denen er anprangert, dass das Vichy-Regime zu wenig hart mit Juden verfährt. Der Arzt, Anthropologe und Ethnologe Georges Montandon ist ein ethnorassistischer Antisemit und Verfechter der Eugenik, aber auch so korrupt, dass er Juden gegen Bezahlung bescheinigt, keine zu sein.

Im Großen und Ganzen ordnen sich die Ärztinnen und Ärzte Frankreichs aber in den nationalen Widerstand gegen die deutsche Besatzung ein und erfüllen eine Funktion bei der Befreiung ihrer Heimat. Einige der Mitglieder des Pariser Zirkels um Louis Pasteur Vallery-Radot spielen eine entscheidende Rolle in der Wiedergeburt Frankreichs nach dem Krieg und der Gestaltung des Gesundheitssystems der provisorischen Nachkriegsregierung und der IV. Republik.