9. Aug. 2024medonline Medizingeschichte #29

(Ein) Vater der Pille – Carl Djerassi

Carl Djerassi wird am 29. Oktober 1923 als Sohn des Ärzteehepaares Samuel und Alice (geborene Friedmann) Djerassi in Wien geboren. Sein Vater stammt aus Bulgarien, während seine Mutter Wienerin ist.

Carl Djerassi am 17. Juni 2004, nach der Verleihung der 2004 Goldmedaille des American Institute of Chemists an ihn in Philadelphia, Pennsylvania, USA.
Wikimedia/Science History Institute
Carl Djerassi am 17. Juni 2004, nach der Verleihung der 2004 Goldmedaille des American Institute of Chemists an ihn in Philadelphia, Pennsylvania, USA.

Jugendjahre und Flucht nach Amerika

Aufgrund dieser Konstellation lebt die Familie bis zum fünften Lebensjahr Carls in Sofia. Als sich seine Eltern scheiden lassen, zieht er mit seiner Mutter nach Wien. Dort besucht er bis 1938 das Erzherzog-Rainer-Realgymnasium in der Taborstraße, in dem vor ihm schon Sigmund Freud zur Schule ging. Die Sommer verbringt der Junge bei seinem Vater in Bulgarien. Die österreichische Staatsbürgerschaft wird ihm aber verwehrt. Nach dem Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland heiratet Samuel Alice erneut, um ihr und dem Kind die Ausreise nach Bulgarien zu ermöglichen. In Sofia besucht Carl für eineinhalb Jahre das American College of Sofia, lernt dort fließend Englisch zu sprechen und emigriert 1939 mit seiner Mutter in die USA, wo sie sich in Upstate New York niederlassen.

Der spätere Spitzenforscher zeigt schon in jungen Jahren gleichermaßen Wissensdurst wie Engagement. Er schreibt einen Brief an First Lady Eleanor Roosevelt und bittet sie um Unterstützung in seinem Bestreben, einen Platz an einem College zu erlangen, und kommt in der Folge mit Roosevelts Hilfe in den Genuss eines Stipendiums. Seine Studien in organischer Chemie schließt er 1942 summa cum laude mit einem B.A. am Kenyon College in Ohio und 1945 mit einem PhD an der University of Wisconsin – Madison ab.

Carl Djerassi – Forscher, Lehrer, „Vater der Pille“

Nebenbei arbeitet er und reicht 1943, in Diensten von CIBA Pharmaceuticals, sein erstes Patent für Tripelennamin (Pyribenzamin) ein, das erste kommerziell produzierte Antihistamin. 1949, mit nur 26 Jahren, wird Carl Djerassi zum Associate Director of Research von Syntex in Mexico City. Dort arbeitet er an einer neuen Synthese von Cortison auf der Basis von Diosgenin, einem Steroid mit Seifeneigenschaften, das aus einer mexikanischen Yamswurzel gewonnen wird.

1951 gelingt ihm gemeinsam mit seinem Kollegen Jorge Rosenkranz und dem Studienassistenten Luis E. Miramontes die erste künstliche Synthese des Sexualhormons Norethisteron, das wenig später zu einem Schlüsselbestandteil der Antibaby-Pille werden wird. Dessen prohibitive Auswirkung auf den Eisprung war bereits bekannt, jedoch nicht, wie es effektiv und ökonomisch für die orale Einnahme synthetisiert werden konnte. Djerassis, Rosenkranz’ und Miramontes’ Entwicklung erfüllt diese Kriterien. Alle drei Namen landen auf dem Patent, auch der des Studienassistenten. 1952 wird Djerassi als Professor für Chemie an die Wayne State University, Detroit, Michigan, und 1959 an die Stanford University in Kalifornien berufen.

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Public Domain/Wikimedia

Djerassis, Rosenkranz' und Miramontes' US-Patent für Norethisteron, welches in die USA Inventors Hall of Fame gewählt wurde.

Nach jahrelangen Tests, welche die Effektivität und Sicherheit von Norethisteron belegen sollten, sowie nach weiterer Pionierarbeit der Biologen Gregory Pincus, Min Chueh Chang und dem Mediziner John Rock, erscheint 1960 Envoid, das erste oral einzunehmende, hormonelle Verhütungsmittel in den USA. Aus Angst vor einem Boykott religiöser oder anderweitig konservativer Gruppen in Opposition gegen Geburtenkontrolle, wird das Produkt als Medikament gegen Regelschmerzen vermarktet. Erst weit hinten, im Kleingedruckten des Beipackzettels, findet sich ein Hinweis auf die eigentliche Wirkung des Präparats.

Die Anwendung der Pille verbreitet sich wie ein Lauffeuer und zieht epochemachende wirtschaftliche und soziale Konsequenzen nach sich. Frauen erlangen noch nie dagewesene Kontrolle über ihre Fruchtbarkeit, indem der Zusammenhang von Sexualakt und Fortpflanzung aufgelöst wird. Erst unter diesen Voraussetzungen kann wenig später die sexuelle Revolution Fuß fassen. Paare können Schwangerschaften planen und die Größe ihrer Familie regulieren, Frauen Ausbildungen und Karrieren planen. Debatten über Promiskuität und den moralischen Aspekt der Familienplanung sind dabei unvermeidlich. Oft an vorderster Front: die katholische Kirche.

Die Bezeichnung Antibaby-Pille lehnt Carl Djerassi ab. Er versteht den primären Zweck seiner Erfindung nicht darin, Leben zu verhindern, sondern Frauen zu befreien. Weil er die Pille in Vorträgen verteidigt und promotet, wird er von der Öffentlichkeit als der alleinige Vater der Pille verstanden. Das ist ein Claim, den er selbst nicht befördert.

Als Wissenschaftler bringt es Djerassi im Lauf seines Lebens auf beeindruckende 1.200 Fachbeiträge und 7 Monographien. Ihm werden zahlreiche renommierte Preise, Auszeichnungen und Mitgliedschaften, wie 34 Ehrendoktorate, verliehen. Das American College of Sofia verleiht dem greisen Schulabbrecher noch in den 2010er-Jahren ein Ehren-High-School-Diplom. Allein das Nobelpreiskomitee kann sich nicht für ihn erwärmen, was vielerorts als eine der größeren Verfehlungen dieser Körperschaft angesehen wird.

Carl Djerassi der Renaissance Mann

Seine Aktivitäten beschränken sich aber bei Weitem nicht nur auf das Gebiet der Wissenschaft. Mit über 150 Werken besitzt er eine der größten Paul-Klee-Privatsammlungen der Welt. In den 1960er-Jahren gründet er ein Unternehmen, das Pestizide herstellt. Er betätigt sich als Schriftsteller und veröffentlicht zahlreiche Romane und autobiografische Werke, Lyrik, Kurzgeschichten und Bühnenstücke. In Kalifornien kauft er nahezu 500 ha Land und startet eine Rinderfarm. Später etabliert er dort auch eine Künstlerkolonie, mit Unterkünften und Studios für Bildende- und Performancekünstlerinnen, Schriftstellerinnen, Theaterautorinnen, Tänzerinnen und Komponistinnen sowie deren männlichen Widerparts.

Im Jahr 2004 erhält Djerassi im Interesse der Republik Österreich deren Staatsbürgerschaft und unterhält später dort einen Wohnsitz, neben seinen weiteren in San Francisco und London. Am 30. Jänner 2015 stirbt der Renaissance-Mann in seinem Heim an der amerikanischen Westküste an den Folgen von Leber- und Knochenkrebs.