Tabuthema Stuhlinkontinenz ansprechen

INTERVIEW – Stuhlinkontinenz ist nach wie vor ein großes Tabu, dem sich auch die Ärzteschaft nur langsam öffnet. Univ.-Prof. Dr. Max Wunderlich beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem Thema. Sein Rat an die Kollegen: Fragen Sie danach! Damit ist den Betroffenen schon sehr geholfen.

Wie könnten Ärzte dazu beitragen, dass das Thema Inkontinenz weniger schambehaftet ist?

Wunderlich: Leider fragen die Ärzte zu wenig danach. Dass sich ein Patient von selbst outet, ist sehr unwahrscheinlich – da muss es ihm schon sehr schlecht gehen! Das Allereinfachste wäre, das Thema von sich aus anzusprechen. Geeignet sind zunächst Fragen wie: „Ist mit Harn und Stuhl alles in Ordnung?“ oder „Haben Sie irgendein Problem mit Harn oder Stuhl, das Sie zu Hause festhält?“ Weitere Fragen können sein, ob Einlagen getragen werden müssen oder ob der Schließmuskel gut funktioniert bzw. ob der Patient gut zusammenzwicken kann.

Wen sollte man danach fragen?

Wunderlich: Wichtigste Zielgruppe sind Frauen jenseits des 50. Lebensjahres. Denn während der Geburt kommt es bei vielen Frauen zu subkutanen Dammrissen, die nicht gleich bemerkt werden und die Jahre später Probleme machen, nämlich dann, wenn altersbedingt überall im Körper eine Muskelatrophie einsetzt. Oft wird die Stuhlinkontinenz von den Betroffenen nicht mit den Geburten in Zusammenhang gebracht, und viele glauben, sie sind in irgendeiner Form selbst schuld. Umso größer ist das Schamgefühl. Aber natürlich können auch Männer, die zum Beispiel nach einer tiefen vorderen Rektumresektion weniger Reservoir haben, von einer Stuhlinkontinenz betroffen sein.

Welche diagnostischen Methoden stehen zur Verfügung, um der Ursache der Stuhlinkontinenz auf die Spur zu kommen und was kann der Hausarzt zur Abklärung beitragen?

Wunderlich: Der Hausarzt kann mit zwei Dingen zur Diagnose beitragen: Erstens durch das Gespräch: In mehr als 90 Prozent der Fälle ergeben sich die Ursachen aus der Anamnese. Zu fragen ist nach der Anzahl bzw. Schwere der Geburten, nach neurologischen Problemen wie MS, Wirbelsäulenproblemen, die die Innervation der Beckenbodenmuskulatur beeinträchtigen könnten, z.B. spondylogene Beschwerden oder Lumbago, aber auch nach Operationen am Mastdarm, v.a. Resektionen, die das Reservoir einschränken. Die zweite Säule der Diagnostik ist die klinische Untersuchung, die digitale Palpation des Analkanals, die der Hausarzt ebenfalls durchführen kann. Beurteilt wird zunächst der Druck im Analkanal. Dann lässt man den Patienten „zusammenzwicken“, um zu schauen, ob und wie gut der Patient das kann.

Ein guter Trick ist, die Patienten husten zu lassen, denn dann kommt es zu einer reflektorischen Kontraktion des Beckenbodens, die man ebenfalls wahrnehmen kann. Das ist wichtig bei Patienten, die gar nicht wissen, wie man kontrahiert. Weiters kann der Hausarzt beurteilen, ob ein Prolaps vorliegt oder ob jemand beim Pressen einen Prolaps produziert. Das wäre ein untrügliches Zeichen für das Vorliegen einer Inkontinenz. Der nächste Schritt ist die Überweisung an den Facharzt, in erster Linie an einen Chirurgen, am besten mit proktologischer Spezialisierung!

Wie sieht es mit apparativen Diagnosemöglichkeiten aus?

Wunderlich: Die apparativen Möglichkeiten sind den Fachärzten vorbehalten. Die wichtigste Untersuchung ist sicher der anale Ultraschall. Damit lässt sich beurteilen, ob der anale Schließmuskel einen Defekt hat bzw. ob er atroph ist. Die Sphinktermanometrie ist die zweite Untersuchung, die man durchführen kann. Diese ist eher den schwierigen Fällen vorbehalten. Ganz wichtig ist auch noch, bei Patienten jenseits des 40. oder 50. Lebensjahrs mit Stuhlinkontinenz einen Dickdarmtumor mittels Koloskopie auszuschließen!

Welche konservativen und chirurgischen Therapien stehen zur Verfügung?

Wunderlich: Es sollte immer zuerst die konservative Therapie versucht werden. Diese hat drei Eckpfeiler: Erstens das Beckenbodentraining, möglichst unter Anleitung einer Physiotherapeutin, eventuell unterstützt durch Elektrostimulation, kontrolliert mittels Biofeedback. Zweitens Stuhleindickung mit diätetischen Maßnahmen oder Medikamenten, v.a. bei Patienten, die nur den weichen Stuhl verlieren. Und drittens regelmäßige Enddarmentleerung, vorzugsweise mittels milder Abführzäpfchen. Wenn die Zäpfchen nicht ausreichen, kann man auch die transanale Irrigation in Erwägung ziehen. Dafür gibt es ein eigenes Gerät, mit dem man auf der Toilette den Darm spülen kann. Das dauert zwar 30 bis 45 Minuten, dann ist der Darm aber wirklich leer und man kann das Haus verlassen.

In zwei Drittel der Fälle ist die Therapie der Stuhlinkontinenz mit konservativen Methoden erfolgreich. Ist das nicht der Fall, stehen zwei etablierte nicht-konservative Verfahren zur Verfügung: Bei Frauen mit Sphinkterdefekt steht an erster Stelle der „Sphinkter- Repair“, eine schonende Schließmuskelrekonstruktion vom Damm aus, die wir bei Frauen bis zum 90. Lebensjahr durchführen. Der Nachteil ist, dass die Probleme nach fünf bis zehn Jahren wieder auftreten können. Deshalb ist die sakrale Neuromodulation – das konkurrierende Verfahren – als gleichwertig anzusehen. Es ist etwas nachhaltiger als der Sphinkter-Repair.

Die Stuhlinkontinenz ist ein Thema, bei dem Interdisziplinarität gefragt ist. Wie funktioniert die Zusammenarbeit mit den Kollegen?

Wunderlich: Die Zusammenarbeit, v.a. zwischen Ärzten und Pflege bzw. Physiotherapie, funktioniert ausgezeichnet. Wir haben speziell ausgebildetes Pflegepersonal – Kontinenz- und Stomaberaterinnen – und Physiotherapeutinnen, die auf den Beckenboden spezialisiert sind. Dorthin kann man die Patienten auch zur Nachsorge schicken, wenn sie operiert wurden.

Hat die Aufklärungsarbeit der MKÖ in Hinblick auf die Enttabuisierung des Themas schon Früchte getragen?

Wunderlich: Die Bemühungen, das Thema Inkontinenz zu enttabuisieren, fruchten nur langsam. Nun wurde allerdings in Linz eine Selbsthilfegruppe ins Leben gerufen. Außerdem wurden in den letzten Jahren etliche Beckenbodenzentren aufgebaut. In Oberösterreich haben wir Kontinenzstammtische für die Ärzteschaft etabliert, die sich großer Beliebtheit erfreuen. In Kärnten fanden bereits zwei Fachtreffen von Physiotherapeuten statt.

Links:

Medizinische Kontinenzgesellschaft Österreich: www.kontinenzgesellschaft.at

MKÖ-zertifizierte Kontinenz- und Beckenbodenzentren: http://www.inkontinenz.at/bsz_zentren.htm

Kontinenz- und Stomaberater : www.kontinenz-stoma.at

Arbeitsgemeinschaft Coloproktologie (ACP): www.coloproctology.info

Österreichische Arbeitsgemeinschaft für Urogynäkologie & Rekonstruktive Beckenbodenchirurgie (AUB): www.urogyn.at