Gendermedizin und Ernährung: „Riesen-Unterschied zwischen Frauen und Männern“
Was den Umgang mit Gewicht und Körpergefühl betrifft, sollten sich Frauen ein Beispiel an den Männern nehmen, so Univ.-Prof. Dr. Margarethe Hochleitner im Vorfeld des Ernährungskongresses.
medonline: Hat es für Sie als Kardiologin ein Schlüsselerlebnis gegeben, warum Sie sich in der Gendermedizin engagieren?
Univ.-Prof. Dr. Margarethe Hochleitner: Einerseits war ich immer Feministin, von der Schule her schon. In der Kardiologie ist mir dann aufgefallen, dass auf der Intensivstation fast nur Männer waren, obwohl in der Statistik Austria jedes Jahr etwa gleich viele Frauen und Männer als Herz-Todesfälle ausgewiesen waren.
Auch in der Schrittmacher-Ambulanz waren auch deutlich mehr Männer. Da fragt man sich als junge Ärztin: Wo sind denn die Frauen? Andererseits ist uns aufgefallen, dass wir als Ärztinnen sehr diskriminiert wurden, es hat wenig Gleichbehandlung gegeben.
Auf dem 41. Ernährungskongress des Verbandes der Diaetolog*innen Österreichs Mitte März sprechen Sie über „Gendermedizin/Diversity: Warum brauchen wir das? Ist Umgang mit Gewicht der größte Geschlechtsunterschied?“ Zuerst, was ist die Idee hinter einer gendergerechten Medizin und betrifft das alle Fächer?
Man hat immer gewusst, dass bei vielen Krankheiten ein Geschlecht häufiger oder schwerer erkrankt, schwerer behandelbar ist, früher oder häufiger stirbt usw. Die Idee war dann, die Unterschiede zu untersuchen, um der benachteiligten Gruppe zu helfen und ihnen klinische Angebote zu machen. Gendermedizin ist natürlich eine Querschnittsmaterie. Das heißt, jedes medizinische Angebot, das wir in der Schulmedizin machen, muss zumindest einmal auf die einzelnen Geschlechter und inzwischen auch diversen Gruppen hin untersucht werden. Man kann nicht sagen, in meinem Fach wird schon kein Unterschied sein. Bei der Ernährung war immer schon ein sehr großer Unterschied zwischen Frauen und Männern, gerade auch beim Körpergefühl und Gewicht. Ästhetische, operative Prozeduren werden nach wie vor sehr viel von Frauen in Anspruch genommen. Vegan ernähren sich sehr viel mehr Frauen als Männer und auch die gesunde Ernährung – kein rotes Fleisch, Mischkost, nur zweimal in der Woche Fleisch, Fisch, Gemüse und Obst dazu – beherzigen die Frauen mehr. Bei den Männern, wenn ich jetzt böse bin, ist es eher so, dass die Partnerin sagt: Ab morgen koche ich vegetarisch oder vegan, du kannst mittun, würde mich sehr freuen, oder du musst dir selbst kochen. Das sind dann Spontanbekehrungen. In Lokalen oder wenn man sie einlädt, essen sie dann wieder Cordon bleu. Aus der Klinik weiß ich, Dialysepatientinnen und -patienten haben die allerstrengsten Diäten, aber in die Schulung sind nicht die Männer selbst gegangen, sondern ihre Frauen, Töchter oder Mütter. Wenn eine Frau eine Dialyse hat, ist kein Mann zur Schulung gegangen, da hat sie selbst gehen können. Die Diätberatung für die Dialysepatienten war ein weibliches Unternehmen. Auch in der Diätberatung kannte ich praktisch nur Frauen. Da fragt man sich warum. Inzwischen ist die Ausbildung in den Fachhochschulen auch akademisiert. Also, es ist schon eher unsere Kultur, nicht „sex“-Unterschiede, dass sich mit Essen Frauen mehr auseinandersetzen müssen und deshalb auch mehr damit zu tun haben.
Sie haben die Dialyse genannt. Was sind weitere Erkrankungen, bei denen eine gendergerechte Diätberatung wichtig ist?
Prinzipiell ist es für uns alle günstig, sich gesund zu ernähren. Aber wie gesagt, Nierenpatientinnen und -patienten haben ganz massive Diätvorschriften, nicht nur bei Dialyse, sondern auch bei Nierenfunktionsstörungen. Auch Menschen mit Diabetes haben schon seit Jahrzehnten Essensvorschriften. Dann natürlich Hypertoniepatientinnen und -patienten, die Hauptrisikogruppe für Herzinfarkt und Schlaganfall – da war Gewicht immer schon ein Thema, weil eine Gewichtszunahme den Blutdruck noch mehr verschlimmert. Was fast alle Patientinnen und Patienten im Kopf haben, ist Cholesterin. Sie haben ein bisschen Angst davor, wegen Herzerkrankungen, Verkalkung der Gefäße und Fettstoffwechselstörungen. Cholesterin lassen sie auch bei der Hausärztin bzw. beim Hausarzt messen, sie gehen zu Kontrollen, nehmen auch Tabletten. Aber in vielen Fällen wäre auch eine Diät günstig. Wenn wir bei einer völlig „unschuldigen“ Patientin, die sich nach ihren Angaben praktisch nur von Wasser und Knäckebrot ernährt, ein hohes Cholesterin messen, sagen wir, es gibt 2 Möglichkeiten: Lifestyle-Change oder Tabletten. Dann sind natürlich 90% für Lifestyle-Change. Wenn wir sie in 3 Monaten bestellen, kommen praktisch alle mit einem höheren Wert wieder, weil der Lifestyle-Change nicht stattgefunden hat. Nicht, dass er nicht nutzen würde, aber er findet nicht statt. Dann müssen wir es doch mit Tabletten probieren.
Das heißt, es gibt keine unterschiedlichen Diäten für Männer und Frauen, der Unterschied besteht in der Herangehensweise, Diäten zu machen?
Unterschiedliche Diäten haben wir keine, sondern der große Unterschied ist, dass Frauen viel mehr ihr Gewicht kontrollieren. Fast alle Frauen haben schon mehrere Abnehmkuren hinter sich oder zumindest in Planung. Wie viele Männer machen denn Abmagerungskuren? Wie gesagt, ein paar sind Opfer (lacht), die müssen, und ein paar sind nach einem Herzinfarkt geschockt und beginnen ein neues Leben. Aber sonst sind Männer in der Regel doch mit sich und ihrem Aussehen relativ zufrieden. Diese Unzufriedenheit dem Körper ist schon weiblich. Natürlich gibt es das Fettabsaugen, Laserbehandlungen usw. auch bei Männern. Aber die schlimmen Fälle, wo dann eine 19-Jährige wegen einer Fettembolie tot ist, sind immer Mädchen. Und was wir Essstörungen nennen, ist traurigerweise nur Untergewicht und betrifft hauptsächlich Mädchen. Das ist auch ein Unterschied. Ich habe aber bei meinen Patientinnen praktisch nur Übergewicht.
Weil Sie vorhin das Alter angesprochen haben, wenn die Frauen in der Menopause sind, gleicht sich das dann an?
Nein, beim Wechsel ist eher das Problem, dass die Frauen, die vorher eine körperliche Betätigung gemacht haben, plötzlich mit dem Wechsel nichts mehr tun. Niemand kann mir erklären, warum. Natürlich begünstigt auch die Hormonumstellung eine Gewichtszunahme. Aber wir können nicht sagen, macht nichts, ist eh normal und nicht so schlimm. Natürlich ist das nicht gesund, weil das Risiko für Herzrisiko usw. steigt. Da muss man etwas tun. Wir haben ein zweites Phänomen: Viele Frauen gehen auch nicht mehr zum Gynäkologen bzw. zur Gynäkologin. Sie glauben, dass das nicht mehr notwendig ist. Ich kläre dann auch, dass es dabei um die Krebsvorsorge geht – das Risiko für verschiedene Krebsarten steigt im Wechsel bzw. mit dem Alter.
Welche Rolle spielen speziell Hausärztinnen und Hausärzte bei der gendergerechten Ernährungsmedizin?
Sie sind die, die damit am meisten zu tun haben. Erstens sehen sie die Patientinnen und Patienten in der Praxis und erkennen, wenn sie zugenommen haben. Und sie hören von ihnen, dass die Orthopädin bzw. der Orthopäde sagt, dass sie nicht zu kommen brauchen, bevor sie nicht abgenommen haben. Oder die Internistin bzw. der Internist sagt: Nur so weiter, der Herztod wartet da hinten schon…
Zweitens haben die Hausärztinnen und Hausärzte durch die Gesundenuntersuchungen einmal im Jahr die Daten. Bei den Nephrologen kriegen die Patientinnen und Patienten den Nierendiätzettel mit, bei Diabetes gibt es die Schulungen – das ist alles genormt, das ist Routine. Wenn Diäten überhaupt greifen sollen, muss das kontinuierlich sein – das ist eine lebenslängliche Sache. Also, das geht eigentlich nur über die Allgemeinmedizin!
Aber wie soll man konkret an das Thema herangehen?
Man soll konkrete Angebote machen, die Patientinnen und Patienten wissen ja, dass sie weniger essen und sich mehr bewegen sollen. Man kann z.B. Kochkurse bei Diätassistentinnen und -assistenten anbieten, wo man lernt, Kalorien zu sparen – auch unsichtbare Kalorien, die man gar nicht merkt. Oder Selbsthilfegruppen empfehlen oder Gruppen, wo nur Frauen oder nur Männer hingehen können. Angebote, die langfristig wirken sollen, nutzen eher, wenn es möglichst homogene Gruppen sind, die sich da vernetzen, sich treffen, gemeinsam etwas tun. Das ist das Geheimnis der Prävention oder Rehabilitation. Akut etwas im Krankenhaus zu tun, schaffen wir fast bei allen Patientinnen und Patienten. Aber dann scheitert es beim Langfristigen, gerade beim Essen oder auch beim Gewicht. Es geht nur mit Diätassistenz und der Allgemeinmedizin.
Ist dann die zweite Frage in Ihrem Vortrag, ob der Umgang mit dem Gewicht der größte Geschlechtsunterschied ist, mit Ja zu beantworten?
Ja. Ich sage meinen Studierenden in Tirol als Beispiel immer: Wenn Sie im Tourismus beim Kellnern aushelfen und ein Mann und eine Frau sitzen an einem Tisch im Lokal und bestellen ein Cordon bleu mit Pommes frites und Ketchup, einen grünen Salat mit gegrilltem Putenfleisch, ein Bier und ein Mineralwasser mit Zitronenscheibe, fragen Sie jetzt, wer was bekommt oder wo stellen Sie das hin? Da gibt es keinerlei Zweifel…
Und auch das Beispiel, dass Frauen immer unzufrieden mit ihrem Körper sind. Ich habe lange eine Männerstation geleitet, die waren mit sich sehr zufrieden. Kennen Sie eine Frau, die wirklich sagt, mein Körper ist genauso, wie ich ihn haben will, ich bin absolut glücklich und zufrieden? Immer ist etwas, die Nase, die Haare, der Bauch, die Oberschenkel – bis hin zur plastischen Chirurgie, und wenn das Erste gerichtet ist, kommt das Nächste… Da soll man nicht lachen über die Männer, die auch nicht alle junge Adonisse sind, sondern sich eher ein Beispiel nehmen! Sie kommen offensichtlich viel besser mit ihrem Körper, ihrem Aussehen zurecht, was natürlich für die Lebensqualität ganz wichtig ist. Wenn ich finde, mein Körper ist nicht in Ordnung, ich kann mich nicht zeigen, kann nicht in die Sauna gehen, ins Schwimmbad, an den Strand – das ist eine Einschränkung des Lebensgefühls, des Körpergefühls.
Was sind Ihre Take Home Messages auf dem Ernährungskongress?
Dass es ganz massive Geschlechtsunterschiede sind, auf die man, wenn man sich mit den Menschen beschäftigt, eingehen sollte. Wir haben ja auch kaum Kenntnisse. Ich weiß natürlich, dass Knäckebrot oder Salat ohne Dressing gesünder ist, aber sonst bin ich keine Expertin in Diäten. Ernährungswissenschaft ist bei uns in Österreich eher stiefmütterlich behandelt worden. Wir sind sehr angewiesen auf die Diätologinnen und Diätologen, die sich da auskennen. Man soll sie viel mehr einbeziehen. Zu sagen: „Essen Sie weniger!“, hat bis jetzt nichts genutzt, also wird es auch in Zukunft nichts nutzen! Wir müssen uns viel mehr damit beschäftigen und den Patientinnen und Patienten Angebote machen. Das ist hauptsächlich in der Allgemeinmedizin verortet und in den Präventions- und Rehabilitationsangeboten. Da haben wir sicher einen großen Aufholbedarf. Wie gesagt, Ernährungsberatung gibt es bei uns auf der Uniklinik für die Menschen mit Diabetes und Nierenpatientinnen und -patienten und sonst eigentlich nicht. Bis vor Kurzem hat es auch keine akademische Ausbildung für Pflegepersonal und Assistenzberufe gegeben. Sie waren im Betrieb weniger angesehen – oft als „Hilfspersonal“. Ich glaube, dass die Akademisierung in den Fachhochschulen für die Diätologinnen und Diätologen, Hebammen, Röntgenassistentinnen und -assistenten, physikalische Therapie usw. das Selbstwertgefühl dieser Gruppen und vor allem die Akzeptanz durch die anderen Gruppen wesentlich erhöht und dass man sie wesentlich mehr einbauen muss. Es heißt immer, man soll in die Prävention investieren. Prävention wäre, wenn man Ernährung, Schulungen, Tipps anbieten würde. Das wäre geschickter als eine neue Hüfte, billiger, weniger riskant und ginge schneller.
Was würden Sie sich für den ärztlichen Alltag wünschen?
Dass ich den Patientinnen und Patienten, die sich umstellen sollen, sagen kann, es gibt dieses Angebot, diese Praxis, diese Ernährungsberatung oder diesen Kurs, wo andere Patientinnen und Patienten schon waren, die profitiert haben und gerne hingehen. Ich glaube, das ist schon eine Bringschuld von der Schulmedizin oder von der organisierten Medizin, dass man viel mehr Angebote macht und betont, wie wichtig das ist und wie viele teure und massive Eingriffe das reduziert – und damit auch den Pflegenotstand verringern würde. Mein Wunsch wäre, dass man die Diätberatung wesentlich ernster nimmt, mehr einbaut in das Gesundheitssystem und sie für die Patientinnen und Patienten ein selbstverständliches Tool wird. So wie ein Rezept für Medikamente oder eine Zuweisung zur Mammografie könnte es auch eine Zuweisung zur Diätberatung geben. Und da wäre sicherlich die Allgemeinmedizin am besten für die Zuweisung, weil sie die Leute häufiger und früher sehen. Das wäre meine Hoffnung!
Danke für das Gespräch!