16. Nov. 2022Interview

Gendermedizin: Diabetes raubt Frauen Schutz vor Covid

Die Pandemie zeigt, wie wichtig ein geschlechtersensibler Blick in der Medizin ist. Wer hinschaut, findet viele, teilweise erstaunliche und klinisch hochrelevante Unterschiede. Die Vorsitzende der Österreichischen Gesellschaft für geschlechtersensible Medizin (ÖGGSM, www.gendermedizin.at) Univ.-Prof. Dr. Alexandra Kautzky-Willer hat im Interview mit medonline.at viele Beispiele für Unterschiede parat, über die sie auch am Kongress der Österreichischen Gesellschaft für Geschlechtsspezifische Medizin sprach.

medonline: Die 13. Jahrestagung der Gesellschaft für Geschlechtsspezifische Medizin fand pandemiebedingt 1,5 Jahre später statt als geplant. Was war das große Thema?

Alexandra Kautzky-Willer: Bei unserem Jahreskongress drehte sich diesmal thematisch sehr vieles um die Covid-19-Pandemie und ihre Folgen. Denn die Pandemie ist ein Paradebeispiel, was die Gendermedizin angeht. Hier zeigt sich, wie wichtig die Beachtung der beiden Geschlechter ist. Natürlich gibt es noch mehr Variationen, mehr Diversität, aber dazu haben wir nur sehr wenige Daten. Allerdings ändert sich das gerade, wie unser Preis für das beste Poster zeigt (s. Kasten).

Vorsitzende der Österreichischen Gesellschaft für geschlechtersensible Medizin Univ.-Prof. Dr. Alexandra Kautzky-Willer
MedUni Wien/Matern

Univ.-Prof. Dr. Alexandra Kautzky-Willer

Bleiben wir zunächst beim binären Mann und Frau und der Pandemie, was sind wichtige Erkenntnisse dazu?

Wir haben erstmalig 2021 von der Statistik Austria Mortalitäts-Daten zu Covid-19 in Österreich, die auch nach Geschlecht ausgewertet sind. Hier sieht man klar, dass Männer stärker betroffen sind. Covid-19 hat mit neun Prozent einen höheren Anteil an den Todesursachen bei Männern als bei den Frauen mit acht Prozent.

Wir wissen auch, dass Männer wesentlich häufiger schwer erkranken als Frauen, wesentlich häufiger eine Intensivbetreuung brauchen und auch häufiger sterben. Dabei sind die Infektionsraten bzw. die positiven Tests bei beiden Geschlechtern gleich. Dies ist auch unter dem Aspekt interessant, dass Frauen eine höhere Prädisposition haben, sich mit SARS-CoV-2- zu infizieren, weil viel mehr Frauen als Männer in den Care-Berufen mit vielen Sozialkontakten arbeiten. Im Gesundheitssystem beispielsweise sind 80 Prozent Frauen beschäftigt. Auch zuhause, sei es bei der Versorgung von Kindern oder der Pflege von alten Menschen, haben sie viel mehr Sozialkontakte.

Eine andere Erklärung, warum sich Frauen bei höherer Disposition seltener infizieren, ist, dass sie Hygiene-Empfehlungen besser einhalten und die Covid-Präventionsvorgaben besser befolgen: Sie tragen eher Masken, meiden eher größere Menschenansammlungen und vertrauen eher den von der Politik und Expert:innen verordneten Maßnahmen.

Dafür sprechen Daten aus vielen Ländern1 und auch aus der internationalen ICare-Studie, die wir mit erhoben [Literaturliste am Ende des Textes] haben. Auf der Intensivstation selbst sind übrigens die Sterberaten in Österreich bei Frauen und Männern vergleichbar hoch, wie wir zeigen konnten.

Zum Stichwort Todesursachen – die erste Keynote drehte sich um die unterschiedliche Lebenserwartung von Männern und Frauen – was sind spannende Aspekte?

Dass Männer eine geringere Lebenserwartung haben als Frauen ist seit Langem bekannt. In der Keynote erläutert Hon.-Prof. Dr. Marc Luy, Wien, die komplexen Mechanismen hinter diesem Gender Gap, die sowohl die Biologie als auch den Lebensstil und den Sozialstatus betreffen. Interessant ist, dass das Ausmaß der Geschlechterdifferenz in der Lebenserwartung nicht konstant ist, seit 1980 nimmt dieser Gender Gap wieder leicht ab. Jedenfalls zeigen die Analysen, dass bei der Lebenserwartung Gender Sex sticht. Also dass die Lebensumstände und das Verhalten stärkeren Einfluss haben als die Biologie.

Übrigens, die größten Unterschiede in der Sterblichkeit zwischen Mann und Frau sind im Altersbereich zwischen 20 und 35 Jahren zu finden. Wichtige Ursachen sind Unfälle, Suchtkrankheiten, Gewaltverbrechen oder ein risikoreicher Lebensstil. Anders gesagt ist es der junge Mann, der das größte Sterberisiko im Vergleich zu Frauen hat.

Sie selbst haben beim ÖGGSM-Jahreskongress einen Vortrag zu Covid-19 und Diabetes gehalten? Was sollten Ihre niedergelassenen Kolleg:innen dazu wissen?

Wir sehen ganz klar, dass Diabetes einer der großen Risikofaktoren ist, schwer an Covid-19 zu erkranken. Auffällig ist auch, dass gerade bei Diabetes auch die jungen Patient:innen betroffen sind.

Betrachtet man die Sterblichkeit an Covid-19 innerhalb der Gruppe von Diabetespatient:innen, werden – anders als in der Gesamtbevölkerung – keine Geschlechterunterschiede gefunden. Es sterben ebenso viele Männer wie Frauen mit Diabetes an Covid-19, weil der Diabetes den besseren Schutz abschwächt, den Frauen normalerweise vor schweren und tödlichen Covid-19-Infektionen haben.

Das sehen wir auch bei Herzinfarkten oder Herzinsuffizienz. In dem Moment, in dem ein Diabetes dazukommt, verlieren Frauen die bessere Protektion vor Herz-Kreislauf-Erkrankungen gegenüber Männern. Also auch bei Covid-19 ist der Diabetes ein „Gleichmacher“ und macht die Vorteile, die Frauen sonst haben, zunichte.

Trifft das auf Menschen mit Typ-1- und Typ-2-Diabetes gleichermaßen zu?

Ja, interessanterweise gilt das für beide Diabetes-Formen, obwohl sie pathogenetisch und klinisch sehr unterschiedlich sind. Typ-2-Diabetes ist in der Regel durch Adipositas, Bluthochdruck, Dyslipidämie und höheres Alter charakterisiert, während Typ-1-Diabetes eine Autoimmunerkrankung ist, bei der die Hyperglykämie im Vordergrund steht und weniger die kardiovaskulären Risikofaktoren. Aber auch Personen mit Typ-1-Diabetes haben ein genauso hohes oder vielleicht sogar etwas höheres Risiko für schwere Covid-19-Verläufe. Die Gründe dafür sind unklar. Möglicherweise liegt es an einer schlechteren Blutzuckereinstellung schon vor der Erkrankung oder auch daran, dass sich Menschen mit Diabetes Typ 1, wenn sie mit SARS-CoV-2- infiziert sind, im Zuckerstoffwechsel stärker verschlechtern, wenn die Insulintherapie nicht angepasst wird.

Nimmt die Krankheitsschwere und Sterblichkeit an Covid-19 bei Frauen nach der Menopause zu und gleicht sie sich der Rate der betroffenen Männer an?

Generell steigt mit dem Risikofaktor Alter bei Männern und Frauen auch die Schwere des Covid-19-Verlaufs. Nach der Menopause steigt bei Frauen einerseits altersbedingt das Risiko an, schwerer zu erkranken. Auf der anderen Seite sinken die Östrogenspiegel, die höchstwahrscheinlich einen Schutzfaktor darstellen. Denn Östrogen verbessert die Funktion des Immunsystems, sowohl auf zellulärer als auch auf humoraler Seite.

Interessanterweise ist bei Männern ein Schutz durch Testosteron gegeben. Hier hat man geglaubt, dass Testosteron, weil es das Immunsystem schwächt, auch das Risiko für schwere Covid-19-Erkrankungen erhöht. Dem scheint nicht so zu sein. Wie eine Studie kürzlich gezeigt hat, haben Männer mit zu niedrigen Testosteronspiegeln ein erhöhtes Risiko für einen schweren Covid-19-Verlauf.2 Auch die Gabe von Testosteron, zum Beispiel bei zu niedrigen Testosteronspiegeln erhöht nicht das Risiko für schwere Covid-Verläufe. Es ist – wie so häufig – gut, im „Normbereich“ zu leben.

Bleiben wir noch kurz beim Diabetes – gibt es Geschlechterunterschiede, wenn es um Wirkungen und Nebenwirkungen der Diabetestherapien geht?

Dies hat Priv.-Doz. Dr. Michael Leutner aus meiner Arbeitsgruppe in einem schönen Vortrag zusammengefasst. Zu unserem Basismedikament in der Diabetologie, dem Metformin, gibt es viele Studien, die auch Geschlechterunterschiede analysiert haben. In einer der von Dr. Leutner vorgestellten Arbeiten hat Metformin bei Männern eine bessere Wirkung auf den Glukosemetabolismus.3 Es gibt jedoch auch viele Daten, die zeigen, dass Metformin bei Frauen, besonders nach einem Schwangerschaftsdiabetes, sehr gut wirkt. Unterm Strich kann man sagen, die Metformin-Wirkung ist bei beiden Geschlechtern sehr gut.

Bei fast allen medikamentösen Therapien – und damit auch bei Diabetes – vertragen Männer die Behandlung besser als Frauen. Beispiele sind häufigere Hypoglykämien bei Frauen unter einer Insulintherapie oder häufigere gastrointestinale Beschwerden wie Übelkeit und Erbrechen bei Behandlung mit GLP-1-Analoga. Bei der Substanzklasse der SGLT-2-Hemmer sind es häufigere Harnweginfekte und Pilzinfektionen, die die Frauen treffen. Hier ist zu betonen, dass die Wirkung der genannten Substanzen bei Frauen und Männern gleich gut ist. Und das ist bei den SGLT-2-Hemmern ein wichtiger Aspekt.

Können Sie das genauer erklären?

Die SGLT-2-Hemmer sind die einzige Substanzklasse, die auch bei der sogenannten HFpEF, einer Herzinsuffizienz mit erhaltener Ejektionsfraktion wirken. SGLT2-Hemmer sind in dieser Indikation erst seit Kurzem zugelassen und haben klare Vorteile gezeigt, was vor allem für Frauen und besonders für Patientinnen mit Diabetes oder auch Prädiabetes wichtig ist.

Denn Frauen mit Diabetes haben ein fünfmal höheres Risiko für Herzinsuffizienz – und hier vor allem für die HFpEF – im Vergleich zu Frauen ohne Diabetes. Bei Männern mit Diabetes ist das Herzinsuffizienz-Risiko um das 2,5-Fache erhöht. Dabei erkranken Männer in der Regel an einer HFrEF, einer Herzinsuffizienz mit reduzierter Ejektionsfraktion.

Bei der Jahrestagung gab es auch eine Session zu Covid-19 und psychischen Erkrankungen? Was sind in diesem Bereich wichtige Erkenntnisse?

Depressionen, Angststörungen und Gewalterfahrungen – das hat Frauen in der Pandemie, vor allem in den Lockdowns, massiv betroffen. Das gilt auch für Alleinerziehende, die jedoch überwiegend Frauen sind. Auch zeigte sich in einer Untersuchung, die Dr. Teresa Gisinger, Wien, vorstellte, dass Frauen, und hier besonders arbeitslose Frauen, während der Pandemie besonders häufig psychische Probleme aufwiesen.

Bei Kindern und Jugendlichen hingegen kommen Depression, Zukunftsängste, Suizidgedanken und Essprobleme seit Beginn der Pandemie deutlich verstärkt vor, wie Ass.-Prof. Mag. Dr. Sabine Völkl-Kernstock, Wien, berichtete.

Eine Session drehte sich um Männergesundheit – was waren da wichtige Themen?

Das Thema „Depression und Männlichkeitsbild“ wurde in einem Vortrag von Priv.-Doz. Dr. Nikola Komlenac aus Innsbruck geschildert. Das ist sehr, sehr wichtig, denn die Depression ist das klassische Beispiel, bei dem die Männer eindeutig zu kurz kommen. Wir müssen schauen, die Depressionen der Männer richtig zu diagnostizieren, denn sie zeigt sich häufig mit Aggression und/oder erhöhtem Alkoholkonsum.

Interessant ist auch, dass es innerhalb der Gruppen von Frauen und Männern verschiedene Subgruppen gibt, in denen das psychosoziale, soziokulturelle Verhalten sehr unterschiedlich sein kann. Bei der Gruppenbildung werden sogenannte Gender-Scores angewendet, die männliche und weibliche Charakteristika unabhängig vom biologischen Geschlecht berücksichtigen. In der Frauengruppe findet man eine kleine Subgruppe, die einen männlichen Typ der Depression zeigt. Aber auch hier stehen wir eher am Anfang.

Fakt ist, dass Depressionen bei Frauen mit den „weiblichen“ Symptomen Antriebslosigkeit und Traurigkeit doppelt so häufig erkannt werden wie bei Männern. Letztlich ist das Ziel eine personalisierte Medizin. Eine geschlechtersensible Betrachtung hilft dabei, innerhalb der Frauen- und Männergruppen geschlechter-typische Charakteristika und Unterschiede zu kennen, um im nächsten Schritt individuell die Risikofaktoren abzuklären.

Das bestprämierte Poster: Geschlechtsangleichende Hormone: Auswirkungen auf Risikofaktoren

Der Preis für das beste eingereichte Poster geht an Dr. Carola Deischinger. Sie arbeitet in der Transgenderambulanz der Klinischen Abteilung für Endokrinologie und Stoffwechsel der MedUni Wien (https://www.meduniwien.ac.at/hp/gender-medicine/patientinneninformationen/ambulanz/).

Zusammen mit Kolleg:innen hat sie untersucht, wie sich einen geschlechtsangleichende Hormontherapie bei Mann-zu-Frau- und Frau-zu-Mann-Transpersonen auf kardiovaskuläre Risikofaktoren auswirkt, mit besonderem Fokus auf den Glukosemetabolismus. In diese Pilotstudie wurden im Zeitraum von 2016 bis 2020 16 Transmänner und 22 Transfrauen eingeschlossen und mit entsprechend angepassten Cis-gender-Personen verglichen. Cis-gender bedeutet, dass die Geschlechtsidentität der Person mit ihrem Geschlecht bei Geburt übereinstimmt.

Die Ergebnisse dieser Pilotstudie zeigen für den Glukosestoffwechsel, dass bei Transfrauen erhöhte Nüchtern-Insulinspiegel und ein höherer HOMA-Index*, aber ein niedrigerer HbA1c-Wert vorliegen als bei Cis-gender-Männern. Alle anderen untersuchten Parameter hatten sich an die Werte von Cis-gender-Frauen angepasst. Für Transmänner ergaben sich keine Unterschiede im Glukosestoffwechsel im Vergleich zu Cis-gender-Frauen.

Das Fazit mit klinischer Bedeutung lautet, Transfrauen im Hinblick auf die Entwicklung einer Insulinresistenz zu beobachten.
Homeostasis Model Assessment: schätzt die endogene Insulin-Resistenz ab.

Literaturliste Publikationen der Arbeitsgruppe von Prof.in Dr. Alexandra Kautzky-Willer zu COVID-19