Das Jahrhundertprojekt
Drei Milliarden Dollar kostete die Entzifferung des menschlichen Genoms. Damit hätte man zig kleinere Initiativen finanzieren können. Doch die Geschichte lehrt uns: Gerade solche Großprojekte sind oft entscheidende Impulse für wissenschaftlichen Fortschritt und wirtschaftlichen Erfolg. (Medical Tribune 26/18)
Für die USA war es ein Schock, dass es nicht ihnen, sondern der Sowjetunion gelungen war, den ersten Menschen ins All zu schicken. Nur sechs Wochen nachdem Juri Alexejewitsch Gagarin einmal die Erde umrundet hatte und nach einer Flugzeit von nicht einmal zwei Stunden wieder wohlbehalten in der südrussischen Steppe gelandet war, kündigte John F. Kennedy am 25. Mai 1961 großmundig an, dass noch vor Ablauf der nächsten zehn Jahre ein US-Amerikaner den Mond betreten und gesund wieder auf die Erde zurückkehren werde. Was damals kaum jemand für möglich hielt, wurde nur acht Jahre später tatsächlich wahr. Eine Zeitplan, von dem die verantwortlichen Planer des neuen Berliner Hauptstadtflughafens heute nur träumen können. Als Neil Armstrong am 21. Juli 1969 die Leiter der Mondlandefähre hinunterkletterte, saß die ganze Welt vor schwarzweißen Flimmerkisten und bestaunte, was möglich ist, wenn Menschen sich etwas wirklich in den Kopf setzen und keine Kosten und Mühen gescheut werden.
Human Genome Project
Knapp 30 Jahre nach Kennedys legendärer Rede wurde ein ähnlich ambitioniertes Projekt verkündet: Obwohl bis zu diesem Zeitpunkt noch kein einziges Genom eines lebenden Organismus entschlüsselt worden war, gab der italienische Populationsgenetiker Luigi Luca Cavalli-Sforza am 1. Oktober 1990 den Start des internationalen Humangenomprojekts bekannt. Ziel war es, das menschliche Genom innerhalb von 15 Jahren vollständig zu entziffern. Britischen Forschern war es zwar schon 1977 erstmals gelungen, ein Genom zu sequenzieren. Dabei hatte es sich aber nur um die knapp 5000 Nukleotide des Bakteriophagen ϕ X 174 gehandelt, die für lediglich eine Handvoll Proteine kodierten. Für die Sequenzierung wurde die DNA mithilfe von Restriktionsenzymen in unzählige kleine Schnipsel zerlegt, die dann in Bakterien vermehrt und anschließend analysiert wurden. Die Herausforderung bestand darin, die Millionen Puzzlestückchen in der richtigen Reihenfolge zusammenzusetzen.
Als ersten größeren Erfolg konnten die über 1.000 am HGP beteiligten Wissenschaftler aus 40 Ländern im Jahr 1999 die Sequenzierung des Chromosoms 22 vermelden. Bereits ein Jahr zuvor hatte der Biochemiker Craig Venter ebenfalls angekündigt, mit seiner Firma Celera Genomics das menschliche Genom kartieren zu wollen. Damit entwickelte sich das Jahrhundertprojekt zu einem Wettlauf zwischen einem privaten Unternehmen und dem aus öffentlichen Mitteln finanzierten HGP. Ähnlich wie die politische Konkurrenz während des kalten Krieges den Wettlauf zum Mond befeuert hatte, sorgte das auf der Bühne der Weltöffentlichkeit ausgetragene Duell für eine Verstärkung der Anstrengungen auf allen Seiten. Venter setzte dabei auf ein neues ultraschallbasiertes Verfahren zur Fragmentierung der DNA, das als „Schrotschuss-Sequenzierung“ bezeichnet wurde, und neue Computerprogramme zur Analyse der riesigen Datenmengen. Die gewaltigen Herausforderungen führten dazu, dass die beiden Konkurrenten in Teilbereichen und auf der Zielgeraden auch zusammenarbeiteten. Auf diese Weise konnte bereits 2001 eine „Arbeitsversion“ des Humangenoms veröffentlicht werden. Offiziell als vollständig entschlüsselt gilt das menschliche Genom seit April 2003.
Weniger Gene als erwartet
Das Ergebnis dürfte für viele Anthropozentriker ein wenig desillusionierend gewesen sein. Es bestätigte sich die alte Weisheit, dass es bei vielem im Leben doch nicht so sehr auf die Größe ankommt: Viele Lebewesen haben nämlich ein wesentlich größeres Genom oder mehr Gene als der Homo sapiens. Das Genom des Axolotls ist beispielsweise zehnmal so groß wie unseres, das des Äthiopischen Lungenfischs sogar 40-mal größer. In den Schatten gestellt werden tierische Genome noch von vielen Pflanzen, wie etwa der Japanischen Einbeere. Auch bei der Zahl der Gene schaut’s mit einem menschlichen Spitzenplatz nicht gut aus: Selbst der winzige Fadenwurm mit seinen 959 Zellen besitzt schon fast so viele Gene wie die angebliche Krone der Schöpfung. Äpfel und Reis übertreffen uns um das Doppelte und im Genom des Gemüsekohls finden sich sogar 100.000 Gene. Zu guter Letzt sind unsere Gene nicht einmal einzigartig.
Nicht genug damit, dass wir 98,5 Prozent unseres Erbgutes mit Schimpansen teilen: Selbst mit Bananen liegt die genetische Gemeinsamkeit noch bei 50 Prozent. Während ein paar der sündteuren Maschinen, mit denen das erste menschliche Genom sequenziert wurde, heute in Technologiemuseen stehen und der Rest längst Elektroschrott ist, wird immer noch am menschlichen Genom geforscht. Genau genommen war die vollständige Entschlüsselung des menschlichen Genoms im Jahr 2003 nämlich ein medienwirksam aufbereitetes Märchen. Die Zusammensetzung des Puzzles funktioniert nur dann wirklich gut, wenn die Enden der Schnipsel eindeutige Überlappungen aufweisen. Je mehr repetitive DNA-Abschnitte vorhanden sind, desto schwieriger ist das Unterfangen. Aus diesem Grund war beispielsweise der genaue Bauplan der Chromosomen- Centromere bis vor Kurzem nicht bekannt. Erst der rasante Fortschritt der Sequenzierungstechnologie mit Next Generation Sequencing und Nanopore-Geräten, mit denen wesentlich längere DNA-Abschnitte analysiert werden können, macht es möglich, auch diese weißen Flecken auf der Landkarte unseres Genoms zu tilgen.
Earth BioGenome
Nachdem es schon einmal so gut geklappt hat, wurde im April 2018 das nächste Megaprojekt vorgestellt: Earth BioGenome hat sich das Ziel gesetzt, innerhalb der nächsten zehn Jahre die Erbanlagen aller bekannten höheren Lebewesen zu sequenzieren. Das sind nicht weniger als 1,5 Millionen Pflanzen, Tiere und Pilze!
Medizinische Wundertüte
Ein bisschen was könnte dabei auch für die Medizin abfallen: Haie und Nacktmulle bekommen keinen Krebs, Menschenaffen erkranken nicht an AIDS, Seesterne und Axolotl haben ein ganz erstaunliches Regenerationsvermögen, Riesenschildkröten und Wale erreichen ein wesentlich höheres Alter als der Mensch (ganz zu schweigen von vielen Pflanzen) und Süßwasserpolypen sind sogar potenziell unsterblich – alles Eigenschaften, die irgendwo in den Genen begründet sein müssen. Auch die Verteidigungsstrategien der Millionen Lebewesen sind äußerst interessant: Im Genpool der Eukaryota wartet noch eine Vielzahl an Antibiotika, Antimykotika und Virostatika darauf, entdeckt zu werden. Angesichts dieser Aussichten sind die prognostizierten Kosten von 4,7 Milliarden US-Dollar für das Earth BioGenome- Projekt mit Sicherheit eine gut angelegte Investition.