9. Juni 2022Was bei der Verschreibung zu beachten ist

Vorsicht mit Benzodiazepinen

Benzodiazepine zeichnen sich durch eine große therapeutische Breite und geringe Toxizität aus. Über längere Zeit angewendet, bergen sie allerdings ein erhebliches Suchtpotenzial. Für die Prävention, Diagnose und Behandlung einer Benzodiazepinabhängigkeit gibt es klare Vorgaben.

Nahaufnahme mit verschiedenen bunten Pillen und Medikamenten. Flacher DOF.
Soho A studio/AdobeStock

Alle Benzodiazepine binden allosterisch an den GABA-A-Rezeptor und erhöhen damit dessen Affinität für den inhibitorischen Neurotransmitter GABA. Sie wirken anxiolytisch, sedierend, schlafanstoßend und muskelrelaxierend. Zum Einsatz kommen sie in der Klinik als Anxiolytika und Hypnotika vor allem bei Angststörungen, innerer Unruhe und Agitation sowie in der Behandlung von Alkoholentzugssyndrom und Delir.

Weiterhin werden sie häufig als Komedikation bei Depressionen verordnet. Metaanalysen zufolge ist dies jedoch nur initial sinnvoll – auf lange Sicht unterscheiden sich die Therapieergebnisse bei Patienten mit und ohne Benzodiazepingabe nicht, berichtet Prof. Dr. Michael Soyka von der Psychiatrischen Klinik der LMU München. Da Benzodiazepine keine analgetische Wirkung haben, eignen sie sich nicht zur Behandlung von chronischen Schmerzsyndromen. Ausnahmen bilden das seltene Burning-Mouth-Syndrom und das Stiff-Person-Syndrom.

Um das Risiko für Toleranzentwicklungen, Dosissteigerungen sowie psychische und physische Abhängigkeit gering zu halten, sollte die Behandlung mit Benzodiazepinen einen Zeitraum von mehreren Wochen nicht überschreiten. Die 5-K-Regel bietet einen Leitfaden für die Prävention einer Benzodiazepinabhängigkeit (siehe Kasten).

5-K-Regel zur Prävention

  • klare Indikation
  • kleinstmögliche Dosis
  • kürzestmöglicher Zeitraum
  • kein abruptes Absetzen
  • Kontraindikationen beachten

Mischintoxikation bei Opioidmissbrauch

Frauen sowie ältere Menschen entwickeln übermäßig häufig eine Benzodiazepinabhängigkeit. Das steht im Gegensatz zur Situation bei anderen Suchtformen. Weitere Risikofaktoren sind Komorbiditäten wie Angststörungen, Depressionen, Schlafstörungen und andere Suchterkrankungen. Insbesondere im Zusammenhang mit Opioidmissbrauch (plus Alkohol) kommt es häufig zu einer tödlichen Mischintoxikation.

Eine Benzodiazepinabhängigkeit lässt sich in erster Linie anhand einer umfangreichen (Fremd-)Anamnese diagnostizieren. Häufig ist die Tendenz zu Dosiserhöhungen sowie eine Toleranzentwicklung zu beobachten. Beides kann bei einer sog. Niedrigdosisabhängigkeit jedoch fehlen.

Weitere Hinweise für einen Missbrauch oder eine Abhängigkeit von Benzodiazepinen sind unter anderem Konzentrationsstörungen und Wesensänderungen sowie die Zunahme von Angst, Depression, Schlafstörungen und Albträumen. Zudem verliert die ursprüngliche Indikation für die Patienten oft an Bedeutung, die Angst vor Entzugserscheinungen tritt in den Vordergrund. So kann es vorkommen, dass sie es selbst bei ausbleibender Besserung der ursprünglichen Erkrankung ablehnen, die Medikation zu verändern. Typische Verhaltensmuster sind außerdem das Horten von Medikamenten, häufige Besuche in Apotheken oder Notaufnahmen („Rezept verloren“) und Doctor Hopping mit dem Ziel, an ein Rezept zu kommen.

Vor allem nach Langzeitgebrauch und bei hohen Dosen kann das abrupte Absetzen von Benzodiazepinen schwere Entzugssymptome hervorrufen, z.B. epileptische Anfälle, Entzugspsychosen und suizidale Krisen. Weiterhin können unter anderem Wahrnehmungs- und Perzeptionsstörungen sowie Unruhe, Angst, Hyposomnie, Agitation, Stimmungsschwankungen und Depressionen auftreten.

Benzodiazepine sollten deshalb immer schrittweise über Wochen bis Monate abgesetzt und die geplante Dauer der Entzugsbehandlung vorab mit den Patienten besprochen werden. Bewährt hat sich eine Reduktion der Dosis um 25% alle ein bis zwei Wochen. Bei Entzug von mehreren Substanzen ist es sinnvoll, auf eine langwirkende Substanz als Monotherapie umzustellen (z.B. Diazepam).

Entzugserscheinungen symptomatisch behandeln

Es gibt keine Medikamente, die speziell für die Entzugsbehandlung einer Benzodiazepinabhängigkeit zugelassen sind. Zur Behandlung von Schlafstörungen kommen sedierende Antidepressiva oder Antihistaminika zum Einsatz. Empfohlen ist außerdem Trazodon, Doxepin, Mirtazapin und Trimipramin in niedriger Dosierung. Im Falle einer Intoxikation mit Benzodiazepin kann der Antagonist Flumazenil intravenös verabreicht werden.

Die Entzugsbehandlung erfolgt überwiegend im Primary-Care-Bereich. Im ersten Schritt ist es wichtig, dass die Betroffenen das Suchtproblem erkennen. Hierbei haben sich Kurzzeitinterventionen durch den Hausarzt, in Ambulanzen, im Spital oder in der Apotheke bewährt. Neben persönlichen Ratschlägen und Informationsmaterial (beispielsweise Broschüren zu Hintergründen, Folgen und Risiken des Konsums) gehört hierzu auch die Vermittlung von hilfreichen Adressen (Beratungsstellen, Therapeuten etc.) sowie von weiterführenden Behandlungsangeboten.

Zentrale Elemente einer Psychotherapie umfassen Psychoedukation, Kognitive Verhaltenstherapie, Motivationale Therapien und Rückfallprävention. In vielen Fällen liegt neben der Benzodiazepinabhängigkeit eine komorbide psychische Störung vor, die fachgerecht behandelt werden sollte. Zudem können Entspannungsverfahren und andere Therapien zur Stressbewältigung sinnvoll sein.

Soyka M. DNP – Der Neurologe & Psychiater 2022; 23: 54–60; doi: 10.1007/s15202-022-4829-4

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune