21. März 2018

Hausarzt – Aus Arzt?

V. ist in Pension gegangen. Eine Katastrophe für die ganze Gegend, in der er viele Jahre segensreich gewirkt hat und gearbeitet wie ein Verrückter. Nachfolger gibt es keinen. Tausende Patienten sind fürs Erste einmal hausarztlos. Und die Kollegen in der Region haben schon genug eigene Sorgen und genug eigene Patienten. „Mei, magst net zu uns aufs Land kommen und hier die Praxis aufmachen?“, fragt mich seine Nachbarin im Scherz. Schon zum wiederholten Male, und jedes Mal habe ich das Gefühl, dass das Lächeln weniger und der Scherz ernster werden. Natürlich lehne ich dankend ab. Ich habe V. immer bewundert. Ich hätte bestimmt vor zwanzig Jahren so viel arbeiten können wie er, aber sicher nicht bis fünfundsechzig. Ja, nicht einmal mehr jetzt mit Ende vierzig.

Wenn wir im Sommer schon mit dem dritten Glas Prosecco bei Sonnenuntergang vor der Hütte gesessen sind, ist V. gerade erst aus der Ordi oder von den Hausbesuchen heimgefahren. Unverkennbar schoss sein grellgelber Smart die kurvige Straße nach oben. Und in der Früh war er definitiv schon längst weg, als wir aufgestanden sind. Ja, ich bewundere V., und nein, ich will seinen Job nicht machen. Manchmal bin ich mir ja schon unsicher, ob ich meinen Job überhaupt noch machen will. Gestern hat die Beste aller Assistentinnen das allererste Mal verlautbart, dass sie doch nicht wie angedacht bis fünfundsechzig arbeiten möchte. Ganz im Gegenteil. Im Moment habe ich den Eindruck, sie möchte bei der erstbesten Gelegenheit die Flucht ergreifen. Es ist nicht das Arbeitsklima, wir mögen und verstehen uns wunderbar. Auch sicher nicht die Anzahl der Urlaubstage oder das Gehalt. Sie ist ein wunderbar loyaler Mensch und lässt mich ganz bestimmt nicht im Regen stehen. Darauf kann ich mich verlassen. Aber es wird ihr langsam und immer schneller zu stressig.

Natürlich war sie fast zehn Jahre jünger, als wir die Ordination gemeinsam gestartet haben, und klarerweise hatten wir damals auch weniger Patienten und damit weniger Arbeit. Aber außer der gestiegenen Patientenzahl und dem mehr an Jahren, die wir am Buckel haben, sind ein Haufen anderer Faktoren dazugekommen. Natürlich nicht auf einmal und außerdem sehr subtil. Jedes Jahr ein bisschen mehr. Ein bisschen mehr geht nämlich immer. Noch derweil sind wir gleich viele praktische Ärzte im Bezirk wie zu meiner Ordigründung hier. Aber das wird sich in den nächsten Jahren auf jeden Fall ändern. Und da lauert schon die Angst: Werden die Stellen nachbesetzt? Wird sich überhaupt jemand finden, der den Job machen möchte? Oder werden sie vielleicht sowieso eingefroren?

A wie Arbeitslast

Freundin M. erlebt gerade den absoluten Wahnsinn. Schon wieder ist eine Stelle im Bezirk nicht nachbesetzt worden. Vielleicht aufgeselcht für die mögliche Gründung eines Ärztezentrums, vielleicht auch definitiv weg. Wurscht, seit einer Woche stehen täglich hundertfünfzig Leute in ihrem Wartezimmer. Selbstverständlich kann man das irgendwie bewältigen. Und klarerweise kann man dann nicht mehr argumentieren, dass wir Allgemeinmediziner schlecht verdienen würden. Denn ganz viel Kleinvieh macht auch ganz viel Mist. Nur bringt einen das Arbeiten auf diese Art in Riesenschritten dem Grab näher. Oder zumindest dem Irrenhaus. Bei uns im Bezirk ist es derweil noch leichter. Allerdings werden wie verrückt neue Siedlungen aus dem Boden gestampft. Die Bevölkerung wächst in Riesenschritten. Und deshalb gibt es auch täglich neue Patienten. Also nicht plötzlich fünfzig Leute mehr, aber jeden Tag zwei oder drei.

Auf der einen Seite werden die Patienten immer anspruchsvoller, auf der anderen Seite war ich zu lange Wahlärztin. Ich lebe deshalb noch immer in der Vorstellung, dass man Wartezeiten vermeiden kann. Und ich will meine Patienten persönlich kennen, kein chronisch Kranker soll durch die Kontrollen durchrutschen können, kein akuter nicht sofort behandelt werden. Bei bürokratischen Problemen hängen wir uns rein, bis wir sie für die Patienten gelöst haben, wir haben ein Recall-System für die Gesundenuntersuchungen, und wer zu alt, zu beschäftigt oder zu faul ist, sein Rezept zu holen, bekommt es natürlich geschickt. Wir machen telefonisch Facharzttermine, kommen Aufklärungs- und Dokumentationspflichten peinlich genau nach und befolgen die Qualitätsvorschriften. Und irgendwas geht immer noch, und das bringen wir noch unter und jenes schaffen wir auch noch. Und ganz subtil ist die Arbeitsbelastung explodiert, ohne dass wir es bemerkt haben.

Und der Job wird plötzlich zu stressig. Ich gebe zu, dass ich Angst vor der Zukunft habe. In den nächsten Jahren gehen viele Kollegen in Pension. Wir haben eine hohe Ärztedichte in Österreich. Weil da auch jeder mitgerechnet wird, selbst wenn er nur zwei Stunden in der Woche Bachblüten verteilt. Seit Jahrzehnten wissen wir, dass sich die Berechnungen nicht ausgehen können. PHCs sind keine Lösung und keine Alternative. Sie könnten maximal eine Ergänzung sein. Wir brauchen dringend mehr Ärzte. Und nein, es geht nicht immer nur um die Honorierung, denn bei derartigen Arbeitsmassen verdienen wir nun mal gut. Und nein, wir sind weder geldgierig noch arbeitsscheu. Angeblich wollen nur zwei Prozent der Medizinstudenten niedergelassene Allgemeinmediziner werden. Bin ich die Einzige, die das in Panik versetzt? Aufwachen, Leute! Uns brennt der A…!

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune