Zu viel des Guten in der Intensivtherapie
80–95 Prozent der Ärzte und Pflegekräfte auf Intensivstationen nehmen regelmäßig Übertherapie wahr. Jeder fünfte Patient soll betroffen sein. Das Leitthema des intensivmedizinischen Kongresses waren die unterschiedlichen Facetten der Übertherapie. (Medical Tribune 09/18)
Übertherapie könne jeden Aspekt der (intensiv)medizinischen Behandlung, vom Notfallort angefangen bis hin zur inadäquaten Therapie am Lebensende, umfassen – erklärte Univ.- Prof. Dr. Wilfried Druml, Universitätsklinik für Innere Medizin 3 der MedUni Wien, einleitend: „Übertherapie hat wesentliche ethische Implikationen, missachtet die Würde und Integrität der Patienten, verlängert Sterben, vermehrt das Leid von Angehörigen, führt zu Frustrationen im Team und hat auch wirtschaftliche Implikationen. Darüber hinaus ist Übertherapie auch ein rechtliches Problem geworden und kann als Verursachung ungerechtfertigten Leides juridisch geahndet werden.“
Behandlungsfehler wegen Leidensverlängerung
Prinzipiell gelte die Maximaltherapie unter strafrechtlichen Aspekten als die sicherste Therapievariante, führte Univ.-Prof. Dr. Alois Birklbauer vom JKU-Institut für Strafrechtswissenschaften, Linz, aus. „Denn wenn die Therapie begrenzt wird, kann man mitunter bald in das Fahrwasser der strafbaren Sterbehilfe geraten“, berichtete der Jurist aus seiner praktischen Erfahrung. Dennoch könne es auch strafbar werden, wenn Therapien in extenso fortgeführt werden, ohne dass ein über bloße Lebenserhaltung hinausgehendes Ziel erreichbar ist. Ein Beispiel: In Deutschland wurde ein praktischer Arzt angezeigt, der eine PEG-Sonde bei einem dementen Patienten nach Verschlechterung des Zustandes weiterhin beließ. Das Gericht sah einen Behandlungsfehler wegen Leidensverlängerung. Der Arzt blieb allerdings straffrei, ein Schmerzensgeldanspruch der Hinterbliebenen wurde nicht anerkannt.
Das Urteil ist damit begründet worden, dass nicht festzustellen war, ob die Ernährung über die PEG-Sonde tatsächlich abgebrochen worden wäre, wenn der Hausarzt dies empfohlen hätte. „In Deutschland wurde auf jeden Fall die öffentliche Aufmerksamkeit für das Thema Übertherapie am Lebensende geweckt“, erzählt Birklbauer weiter. So seien allzu aggressive Chemo- und Bestrahlungstherapien am Lebensende, ineffektive Intensivtherapien oder die intravenöse Ernährung ohne Therapielimitation öffentlich rege diskutierte Themen. Auch in Österreich erlaube die Gesetzeslage, dass sich Gerichte zukünftig vermehrt mit Fragen der Übertherapie beschäftigen, so der pessimistische Ausblick des Juristen. Aber welche Mechanismen führen dazu, dass ärztliche Maßnahmen weitergeführt werden, ohne dass ein Nutzen dieser erkennbar wäre?
Laut Dipl.-Psychologen Daniel Schwarzkopf vom Universitätsklinikum Jena beginnt das Problem bereits bei der fehlenden eindeutigen Definition: „Die Definition der Übertherapie ist obstrus und kann am ehesten beschrieben werden als ‚Ich kann es nicht genau sagen, was es ist, aber wenn ich es sehe, erkenne ich es‘“, so der Psychologe. Auf jeden Fall sei Übertherapie dann gegeben, wenn medizinischen Leistungen bereitgestellt werden, bei denen das Schadenspotenzial das Nutzenpotenzial übersteigt.* Allerdings sind Konflikte über den Nutzen einer Maßnahme gerade in der Intensivmedizin häufig, sowohl innerhalb der Ärzteschaft als auch zwischen unterschiedlichen Berufsgruppen oder zwischen Gesundheitsdienstleistern und Angehörigen. Birklbauer: „Nicht selten ist gerade der Wunsch von Angehörigen der Anlass für die Übertherapie.“
Fehlaufnahmen, die die Prognose nicht verbessern …
Innerhalb der Intensivstation beginne das Problem der Übertherapie mit der ungerechtfertigten Aufnahme von Patienten, schilderte Univ.-Prof. Dr. Andreas Valentin vom Kardinal Schwarenberg’schen Krankenhaus in Schwarzach/Pongau. Fehlaufnahmen, die die Prognose der Patienten nicht verbessern, würden mit bis zu 50 Prozent der Aufnahmen angegeben. Nach Aufnahme bestehe das Risiko der Überdiagnostik. Die Anämie des Intensivpatienten werde zu einem Teil durch häufige Blutabnahmen mitverursacht. Jeder zentralvenöse Katheter, jede invasive Blutdrucküberwachung sollte nach deren Notwendigkeit hinterfragt werden, viele Intubationen können durch nicht-invasive Beatmungsmethoden vermieden werden. Gut dokumentiert seien negative Folgen einer Übersedierung auf die Dauer des Krankenhausaufenthaltes und auf Langzeitkomplikationen des Intensivpatienten.
Zunehemnd werde auch der überbordende Einsatz von Antibiotika auf der Intensivstation und die dramatische Zunahme von invasiven Maßnahmen, wie beispielsweise extrakorporale Herz-Kreislaufund Lungenersatzverfahren unter kritischen Gesichtspunkten gesehen. Den weitaus wichtigsten Aspekt der Übertherapie sehen die Experten allerdings in der Betreuung des Patienten am Lebensende. Besonders in dieser Phase gelte es, Therapien und Maßnahmen zu vermeiden, die ohne therapeutische Perspektive und ohne Indikation weitergeführt werden, sodass letztendlich nur Leiden und Sterben des Patienten prolongiert wird.
Prof. Dr. Ulrich Fölsch vom Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Kiel: „Das Ziel der Intensivmedizin muss es sein, Über-Lebende zu generieren, und nicht schwerst beeinträchtigte Patienten mit apallischen Syndromen oder chronisch kritisch-kranke Pflegefälle.“ Auf die Psychologie der Übertherapie ging der Arbeitspsychologe Dr. Bardia Monshi vom Institut für Vitalpsychologie, Wien, ein. Die Wissenschaft habe treibende Aspekte zusammengefasst, erklärte er: wirtschaftliche Aspekte, Wissenslücken, Ungleichgewicht der Arzt-Patientenrolle sowie Angst vor Rechtsfolgen.
Die Kunst, nicht zu handeln, im Daoismus
Aus Sicht des Psychologen spielt ein weiterer Aspekt eine gewichtige Rolle: „Kontrollverlust verursacht Stress! Man glaubt, alles tun zu müssen, was in seiner Macht steht.“ Es brauche großes Wissen aber auch Demut und Bescheidenheit, um die Kontrolle aus der Hand zu geben, so Monshi. Im Daoismus werde es regelrecht als Kunst angesehen, nicht zu handeln, wenn die Handlung „gegen die Natur gerichtet wäre“. Der Ausdruck Wu Wei solle genau das aussagen: die Kunst, etwas nicht zu tun. Dabei bedeute der Begriff nicht, dass man gar nicht handelt, sondern dass man eben nur das Notwendige tut, um ein Ziel zu erreichen.
„Dementsprechend ist ein Verhaltensmuster einer inkompetenten Passivität im täglichen ärztlichen Handeln genauso wenig wünschenswert wie einer inkompetenten Aktivität“, betont Monshi. Eine kompetente Aktivität sei jenes Verhaltensmuster, das im Kontext der Übertherapie-Problematik gerade zur Übertherapie führen kann. Während es im Sinne des asiatischen Wu Wei die kompetente Inaktivität sei, die eine abwägende Herangehensweise ermöglicht, die Sensibilität für den Kontext erlaubt und letztendlich auch der Intuition Möglichkeiten offen lässt. Leidtragende der Übertherapie sind nicht nur die Patienten selbst, sondern auch deren Angehörige, und auch die Mitarbeiter. Im Team steigt dadurch die emotionale Belastung, und es entstehen Zweifel an der Sinnhaftigkeit des medizinischen Handelns. Daraus folgt eine Häufung von Burnout, eine erhöhte Fluktuation des Personals sowie eine Beeinträchtigung der Patientenversorgung.
Komplexe Trauer noch ein Jahr nach Tod
Die Angehörigen sind während eines Intensivstationsaufenthaltes immer einer besonderen Belastungssituation ausgesetzt. Diese Stresssituation endet nicht mit dem Intensivaufenthalt des Patienten: Untersuchungen haben gezeigt, dass die Hälfte aller Angehörigen ein Jahr nach dem Tod noch immer an komplexer Trauer leidet, und 16 Prozent sind hochgradig depressiv. „Dafür sieht das Gesundheitssystem derzeit keine adequaten Maßnahmen vor“, bedauerte Prof. Dr. Uwe Janssens vom St.-Antonius-Hospital in Eschweiler. Eine besondere Belastung der Angehörigen würden notwendige Stellvertreter-Entscheidungen darstellen. Der Angehörige hätten dafür im Regelfall keine Ausbildung und keine Erfahrung.
Ein vorangegangenes Gespräch mit dem (nicht kontaktierbaren) Patienten sei nie erfolgt und die Kommunikation mit dem Arzt werde häufig als unzureichend wahrgenommen. „Entscheidungen der Angehörigen werden daher von Außenstehenden oft als irrational angesehen“, gibt Jansens zu bedenken. So sei ein Drittel der Angehörigen für eine Weiterbehandlung von Patienten, wenn die Überlebenschance vom Arzt mit unter ein Prozent angegeben wird. „Angehörige brauchen Zeit, um – im besten Fall – selber ein Gefühl für die Prognose zu entwickeln“, so der Experte. Letztendlich bleibe noch immer eine gewisse Unsicherheit in der Entscheidung, denn: „Einerseits können Ärzte die Prognose ja gar nicht so genau einschätzen und andererseits: Vielleicht hilft Gott ja doch noch.“
* MR Chassin, RW Galvin, JAMA 1998; 280: 1000–1005
Wiener Intensivmedizinische Tage; Wien, Februar 2018