Wenn der Nikolaus verzweifelt

Der Fall. Es ist der Abend vom 5. Dezember und Sie schließen gerade Ihre Praxis, als Sie auf den Stufen vorm Eingang jemanden sitzen sehen. Die Person scheint ziemlich verzweifelt und traurig zu sein, daher fragen Sie, ob Sie helfen können. „Ich versteh das alles nicht mehr“, antwortet diese. „Früher war jedes Kind froh, wenn es mich gesehen hat und ich Nüsse, Mandarinen, Kekse und ein wenig Schokolade mitgebracht habe. Aber heutzutage müssen es doch schon richtige Geschenke sein, die in den Stiefeln stecken. Jedes Jahr graut mir im Herbst schon vorm Dezember mit all dem Stress und Trubel. Ich kann kaum mehr schlafen und je näher der Dezember rückt, umso schlechter geht es mir. Jedes Jahr werden mehr Helfer gestrichen, um die immer teurer werdenden Geschenke irgendwo einzusparen! Ich dürfte gar nicht hier sitzen, weil ich so viel zu tun hab’, aber ich kann nicht mehr!“ Können Sie den Nikolaus aus seiner Verzweiflung holen? (ärztemagazin 23/17)

„Ich bitte den etwas eigentümlich gekleideten Herrn in meine Praxis“

Dr. Bernhard Panhofer
Arzt f. Allgemeinmedizin,Ungenach, Oberösterreich

Ich bitte den etwas eigentümlich gekleideten Herrn in meine Praxis und biete ihm Kaffee oder Tee an. Er will Tee mit Rum. Na servas, denk ich mir, ich bin wieder einmal einem Alkoholkranken auf den Leim gegangen. Aber ich weiß nicht, warum – der Mann fasziniert mich, ich bin neugierig, welche Geschichte er mir auftischt. Der Mann stellt sich vor: „Mein Name ist Nikolaos Myriotes. Ich wohne schon seit Jahrzehnten, wenn nicht noch länger, hier, ich habe mich gut eingewöhnt. Heute aber bin ich am Ende.“ Herr Myriotes spricht mit griechischem Akzent. „Früher hatte ich einen Begleiter, der auf mich aufpasste, ein gewisser Mephistopheles, aber der hat den Job gewechselt, er ist nun erfolgreicher Politikberater. Von da an musste ich alleine schuften, wissen Sie, Mephi, wie ich ihn nannte, hatte eine Gabe, die mir fremd ist: Er konnte Menschen Furcht einflößen. Das geht mir jetzt ab: Als Gutmensch werde ich verächtlich bezeichnet, ein Kind sagte sogar zu mir: Der hat einen falschen Bart. Ich werde ausgelacht, lächerlich gemacht, als wäre ich eine Märchengestalt!“ Ich merke, wie ihm Tränen kommen, und reiche ihm ein Taschentuch.

Ich reflektiere kurz: Nein, in dieser kurzen Zeit kann ich ihm nicht wirklich helfen, aber ich kann genau zuhören. Offensichtlich lebt er in einer anderen Welt und er braucht auch nichts Ärztliches von mir. „Was machen Sie denn beruflich?“ „Ich bin Bischof, habe ein riesiges Gebiet zu betreuen und wenn es kalt wird, muss ich fast überall sein, ich glaube, ich schaffe es nicht mehr lange.“ Er hält inne: „Seltsam, es tut so gut, wenn mir jemand zuhört, sonst bin ich der, der zuhören muss.“ Wir sitzen nun schweigend in der ruhigen Ordi und mir fallen Kindheitserinnerungen ein: Orangengeruch, Lebkuchen, Bratäpfel. Ich blicke in sein altersloses durchfurchtes Gesicht und höre mich den Satz sagen: „Sie sind in Ihrer Güte offensichtlich nicht von dieser Welt.“ Da huscht ein Lächeln über sein Gesicht, er sagt: „Ja, so ähnlich“, steht auf, bedankt sich und geht, ein Lied summend, die Stiege hinunter. Das Lied kenn ich doch: „Es hat sich heut’ eröffnet das himmlische Tor.“ Und da ent­decke ich ein kleines Säcklein mit Walnüssen und Mandarinen.

„Es zeigt sich, dass es nicht der Nikolaus ist, dem der Realitätsbezug fehlt“

Dr. Alfred Wassermair
Arzt f. Allgemeinmedizin, Umweltschutzarzt,Tauchmedizin, Hypnotherapie, Aschach a. d. Donau, www.wassermair.at

Ein seltsamer Typ, denke ich, und der erste Eindruck – er trägt ein weißseidenes Gewand und neben ihm auf der Treppe liegt eine bestickte Mitra – lässt an eine gravierende Störung des Realitätsbezuges denken. Aber was er mir erzählt, nachdem ich mich zu ihm setze, zeigt, dass nicht er es ist, dem der Realitätsbezug fehlt. „Wissen Sie“, fängt er zögernd an, „ich bin schon ziemlich lange im Geschäft. Früher, da war die Zeit bedeutungslos, Stress war unbekannt. Ich erinnere mich noch an die Bemühungen eines meiner Brüder im Geiste, das war der Papst Johannes der XXII., der hat versucht, das alles zu verhindern. Es war anno 1325, als er eine Bannbulle gegen alle herausgegeben hat, die sich mit der Einteilung der Zeit beschäftigen. Er hat gesagt: „Wer die Zeit beherrscht, beherrscht die Menschen.“ Aber das hat nichts genützt. Ein Hol­länder, ein gewisser Christiaan Huygens, hat die Hemmung für die Pendeluhr erfunden und damit konnte man Minuten und Sekunden messen und in diesem Takt leben wir heute – alles muss auf die Sekunde genau sein.

Das Zeit­system ist ein soziales System, das kontrolliert wird und eingehalten werden muss. Da gibt es Gewinner und Verlierer. Und zu den Verlie­rern zählen wir inzwischen alle. Tatsache ist: Sobald jemand über deine Zeit verfügt, steckt er so viel Arbeit wie möglich rein. Dazu kommt die Konkurrenz. Ich denke, meine Performance ist ja nicht schlecht, aber was kann ein alter Mann gegen ein niedliches Kind und gegen einen Plüschhasen ausrichten? Da ist man immer im Hintertreffen, im Marketing sind die einfach besser. Mit Nüssen und Orangen und ein wenig Schokolade hast du gegen den ganzen elektronischen Schwachsinn, der drei Wochen später unter dem Baum liegt, keine Chance. Es ist einfach traurig, wie geistlos die Gesellschaft heutzutage ist. Es geht nur mehr um den Profit. Aber jetzt muss ich weiter. Ich danke Ihnen, dass Sie mir zugehört haben, Zuhören ist oft das Wichtigste. Ah, bevor ich es vergesse“, sagt er dann und holt aus einer Falte seines Gewandes eine Mandarine, die er mir überreicht. „Und lassen Sie sich nicht von Krampus erwischen.“

„Der Nikolaus scheint vor allem auch einmal ein Gespräch zu brauchen“

Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Lalouschek
The Tree Gesundheitszentrum und Beratung GmbH, Wien

Neben den medizinisch wichtigen Fragen im Erstgespräch und auch der Frage nach einer möglichen sui-zidalen Einengung scheint mir der Nikolaus vor allem einmal ein Gespräch zu brauchen. Ich lasse ihn von seinen Belastungen erzählen, frage auch, ob es schon früher einmal eine ähnliche Phase gegeben hat und – wenn ja – was ihm damals geholfen hat. Und vor allem versuche ich herauszufinden, wonach sich der Nikolaus wirklich sehnt. Als er sagt „Ich möchte eigentlich gar nicht mehr so ein Leben führen!“ – frage ich nach: „Sondern?“ Und da bricht es aus ihm heraus: „Ich möchte doch nur mit einer lieben Frau zusammen sein, mit der ich Dinge unternehmen kann, und überhaupt möchte ich doch auch so leben können, wie ich wirklich bin!“ Ganz offensichtlich handelt es sich nicht „nur“ um eine momentane Belastung, sondern um eine existenzielle Frage des eigenen Lebens und der ureigenen Person. Nun probiere ich etwas aus: Ich bitte den Nikolaus, seine momentane Position im Leben in meinem Praxisraum symbolisch darzustellen. Er wählt sich einen Platz unter meinem Schreibtisch. Nun lade ich ihn sogar ein, einmal diesen Platz einzunehmen – „Das fühlt sich total beengt an, ich kann kaum atmen!“, stöhnt er.

Nun frage ich ihn: „Und wenn ,Leben, so wie ich bin‘ in diesem Raum auch einen symbolischen Platz hätte, wo wäre das?“ Und da legt er das Kärtchen mit dieser Aufschrift zum Fenster mit Blick hinaus. Als ich ihn einlade, sich dorthin zu stellen, sagt er: „Hier kann ich wieder atmen und fühle mich gleich viel besser!“ Nun lade ich ihn ein, von dieser Position aus eine Botschaft an sich selbst unter dem Schreibtisch zu schicken. „Du trägst eine zu große Last! Lass sie los!“, kommt es da spontan. Die Vorstellung ohne diese Last fühlt sich für den Nikolaus sehr befreiend an. Aber gleichzeitig merkt er, dass er seine Aufgabe auch nicht ganz sein lassen möchte, dazu ist sie ihm zu wichtig. Nun sprechen wir über Grenzen und Abgrenzung, die eigenen Träume und ungelebten Teile des Lebens. Allmählich beruhigt sich der Nikolaus und sagt: „Eigentlich möchten die Kinder doch vor allem ein schönes Gefühl am Nikolotag haben, mit Eltern, die sie lieb haben und die Zeit für sie haben. Und wenn ich ihnen dazu ein Nikolosackerl bringe, wie es früher üblich war, dann kann ich mit mir zufrieden sein. Diese Aufgabe leiste ich gerne, aber ich muss mir nicht die alleinige Verantwortung für alles aufbürden. Denn auch die Menschen haben ihre Verantwortung zum Gelingen des Nikolotages und der Vorweihnachtszeit!“

Autoren: Dr. Bernhard Panhofer, Dr. Alfred Wassermair, Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Lalouschek