23. Sep. 2017

Dr. Stelzl: Von nix kommt nix

Mittlerweile kann ich auf über fünfundzwanzig Jahre Karatetraining zurückblicken, mich Meisterin nennen und 5. Dan. Das bedeutet, ich habe fünf schwarze Gürtel. Es bedeutet auch unzählige blaue Flecken, Zerrungen und Prellungen, ein paar unbedeutende Frakturen (Finger, Zehen) und ziemlich oft gemeinen Muskelkater. Dazu Trainingspläne, begleitendes Kraft- und Ausdauertraining (gähn – das haben wir echt gehasst) und schließlich Ausbildungen, um selbst eine gute Trainerin zu werden. Für mich persönlich gehe ich es mittlerweile etwas ruhiger an und tausche gern den Karateanzug gegen Nordic-Walking-Stecken und das Kampftraining gegen sanftere Bewegungsmuster, wie zum Beispiel Qi Gong. Trainings halte ich aber doch noch hie und da ab, und vor allem bei den Gürtelprüfungen im Verein bin ich als Prüferin anwesend. Ich bin böser Trainer, mein Mann ist guter und lieber Trainer. Ein Konzept, das sich seit Jahren bewährt.

Der Beste aller Ehemänner hat nämlich viel Geduld, er erklärt gut und gerne und auch noch zum vierundzwanzigsten Mal dasselbe mit einem freundlichen Lächeln. Er spricht mit Autorität, aber mit sanfter Stimme und nimmt Abstand von zu viel Sarkasmus. Deshalb hält er bei uns auch immer die Anfängerkurse. Man will die Leute ja nicht gleich verschrecken. Fortgeschrittene Gruppe unterrichten wir dann zusammen. Ich hab das ganz gerne, wenn die Leute schon was können und man sie ein bisschen fordern kann. Allerdings hat sich das mit dem Fordern etwas geändert in den letzten Jahren.

L wie Leistung

Ich höre mich jetzt ein bisserl an wie meine Großmutter, wenn ich sage, dass es früher besser war. Ich selber kam zum Karate nach Leichtathletik und Tanzen, war also schon einiges an Schinderei und schweißtreibender Anstrengung gewohnt. Aber auch die Trainierenden, die mit mir gemeinsam angefangen haben und nicht schon aus anderen Sportarten gekommen waren, hatten Biss. Und waren bereit, so einiges an Trainingsstrapazen auf sich zu nehmen. Bei uns im Westen geht’s ja ohnehin nicht so wild zu wie in Ostasien. (Gott sei Dank!) Kein kauziger alter Mann traktiert seine Schüler wie im Film Karate Kid. Was sehr gut ist. Stattdessen gibt es bei uns Trainingslehre und Trainerausbildungen und die Bestrebungen nicht nur im Leistungssport, sondern auch im Breitensport gute Trainer zu sein. Wir wollen Freude an der Bewegung vermitteln, Gesundheit fördern und nicht zuletzt auch Spaß am Sport haben.

Trotzdem wird das Leben als Trainer nicht leichter. Was gleich bei den Anfängern besonders auffällt, sind die Defizite bei Koordination und Beweglichkeit, sowohl bei Kindern und Jugendlichen als auch bei Erwachsenen. Ein hoher Prozentsatz derer, die in unserem Dojo stehen, hat sich anscheinend vorher noch nie bewegt. Und wir reden hier nicht von Dingen wie Rad schlagen, Brücke machen oder Dehnung bis in den Spagat. Ganz einfache Bewegungen funktionieren nicht oder sind furchtbar schwierig und hölzern. Hinfallen kann kaum einer mehr, ohne sich dabei gleich eine Radiusfraktur zuzuziehen.

Ich denke, wir bekommen jetzt die Rechnung präsentiert für all die überbehütete Übervorsichtigkeit. Wer als Kind nie auf einen Baum geklettert ist, sich nie die Knie blau schlagen durfte, nie um die Wette laufen oder in der großen Pause abfangen spielen, kennt seinen Körper nicht. Und dieser verweigert dann selbst einfachste koordinative Abläufe. Wir fangen also oft nicht nur bei null Karate an, sondern weit davor. Wenn ich gemein wäre, würde ich sagen: beim Sitzen, Gehen, Stehen. Was ebenfalls auffällt, ist die immer weiter sinkende Bereitschaft, sich anzustrengen. Auch da gibt es natürlich Ausnahmen, hoch motivierte und ehrgeizige Schüler/innen. Aber generell muss man als Trainer wie auf rohen Eiern balancieren, denn sonst wird das Training gleich mühsam und damit uncool und sie wollen nicht wiederkommen.

Ein bisschen Überwindung

Dass ein bisschen Selbstüberwindung ein gutes Gefühl nach sich zieht, haben die meisten noch nie erlebt. Dass man sich angenehm auspowern kann und nachher stolz sein und dass das ein feines Gefühl ist, ebenso wenig. Zur letzten Gürtelprüfung z.B. erschien ein junger Mann. Ich erklärte ihm, dass er nicht antreten dürfte, weil er in diesem Semester nur dreimal im Training gewesen war. „Ich habe nicht mehr Zeit gehabt, mehr geht nicht, also steht mir der nächste Gürtel zu!“, meinte er. Ich war anderer Meinung. Von nix kommt nix. Seine Reaktion darauf war: „Dann komme ich im nächsten Semester halt überhaupt nicht, und wir sehen uns erst bei der nächsten Prüfung.“ Von mir aus, denn das ist nicht die Schule. Hier kann man noch durchfliegen. Es erinnert mich an die Geschichte, die mir Rafael, ein alter Freund und nun Professor an einer mexikanischen Uni, erzählt hat: Eine seiner Studentinnen fragte ihn, warum er sie negativ bewertet hätte. „Weil Sie nur zwei von zehn Prüfungsfragen beantwortet und das ganze Semester keine Hausarbeiten gemacht haben.“ „Aber ich war immer in der Vorlesung. Das sollte auch zählen.“ „Ja, tut es, aber das ist zu wenig.“ „Dann komme ich halt auch nimmer in die Vorlesung“, erwiderte sie patzig. Warum kommt keiner auf die Idee, dass er sich mehr anstrengen muss statt noch weniger, um belohnt zu werden?

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune