Selbstständig essen und trinken trotz Tetraplegie
Ein vollständig gelähmter Patient kann einfache Handgriffe erledigen. Alltagstauglich ist die Technologie zwar noch nicht, aber sie funktioniert. (Medical Tribune 36/2017)
Infolge einer Rückenmarksverletzung war der 53-Jährige schon seit acht Jahren von der Schulter abwärts gelähmt. Mit diesem Ergebnis wollte sich das Forscherteam um Dr. A Bolu Ajiboye von der Case Western Reserve University in Cleveland nicht abfinden und wählte ihn als Kandidaten für eine Neuroprothese aus. Dem Patienten wurden zunächst Sensoren in den Teil des Motorcortex implantiert, der für die Arm- und Handbewegungen verantwortlich ist. Eine eigens programmierte Gehirn-Computer-Schnittstelle „lernte“ dann, die Kommandos dieser Sensoren zu interpretieren und an die entsprechende Muskulatur weiterzugeben. Hierfür verfolgte der Proband Arm- und Handbewegungen, die ihm mittels Virtual Reality präsentiert wurden. Dabei stellte sich der Mann vor, diese Bewegungen selbst durchzuführen.
36 implantierte Elektroden und ein Jahr Training
Nach dieser viermonatigen „Lernphase“ implantierten die Neurowissenschaftler dem Tetraplegiker 36 Elektroden in Ober- und Unterarm. Es folgte eine kurze Erholungsphase, danach begannen die Forscher, die Muskelkraft und -ausdauer des Mannes zu trainieren, was weitere 18 Wochen in Anspruch nahm. Schließlich verbanden sie das Gehirn-Computer-Interface mit den 36 Elektroden in den Muskeln. Dank des Algorithmus, der während des Trainings mit dem „virtuellen Arm“ programmiert worden war, gelang es dem Probanden nun tatsächlich, Arm und Hand bewusst zu bewegen. Nach weiterem Training, wobei sich der Gelähmte immer wieder vorstellte, die Bewegung selbst zu steuern, konnte er schließlich – zwölf Monate nach Beginn des Experiments – selbstständig Essen zum Mund führen und eine Tasse Kaffee trinken.
Dies bedeute einen erheblichen Fortschritt, denn noch nie zuvor sei es gelungen, einem komplett Gelähmten Alltagsbewegungen wie das Hantieren mit einem Löffel oder einer Kaffeetasse zurückzugeben, schreiben die Neurowissenschaftler. Sie räumen allerdings ein, dass ihr System noch recht langsam und zu wenig präzise sei. Außerdem muss der Proband jede Bewegung permanent mit den eigenen Augen verfolgen, weil durch die langjährige Lähmung auch die Propriozeption verloren geht. Der Patient kann ohne visuelles Feedback die Position der eigenen Gliedmaßen im Raum nicht mehr zuverlässig einschätzen. Trotz aller Limitationen einer Proof-of-Concept-Studie bezeichnet auch Dr. Steve I. Perlmutter von der Universität Washington die Ergebnisse seiner Kollegen als richtungsweisend. Allerdings sei die beschriebene Neuroprothese ebenso wie andere Technologien noch weit vom praktischen Einsatz entfernt.
Quellen:
Ajiboye AB et al., Lancet 2017; 389: 1821–1830
Perlmutter SI, a.a.O.: 1777–1778